Volltext Seite (XML)
112 oder daß die menschliche Natur eine unvermischte und reine Freude nicht verträgt. So bebte damals auch Knemon vor dem Allererwünsch- testen zurück und stellte das Angenehmste sich als schrecklich vor. Denn das klagende, weibliche Wesen war nicht Thisbe, sondern Charikleia. Es war mit ihr folgendermaßen gegangen. Als nämlich Thyamis lebendig gefangen genommen, die Insel in Brand gesteckt und von ihren Bewohnern, den Hirten, verlassen worden war, fuhren, wie bereits erzählt wurde, Knemon und Thermu- this, der Schildträger des Thyamis, früh morgens über den See, um anszukundschaften, was die Feinde mit dem Hanptmanne gemacht hätten. Theagenes und Charikleia blieben in der Höhle zurück und hielten das Uebermaß der gegenwärtigen Leiden für das allergrößte Glück. Denn jetzt znm ersten Male allein und jeder lästigen Störung überhoben, mit einander zusammen, sättigten sie sich an unbehinderten innigen Umarmungen und Küssen, und alles um sich her vergessend, hielten sie sich sehr lange Zeit, wie zusammengewachsen, in den Armen und genossen einer reinen und keuschen Liebe, indem sie ihre keuschen Thränen mit einander vermischten und ihre Vereinigung nur mit rei nen Küssen feierten. Denn Charikleia wies den Theagenes, wenn sie ihn etwas in Leidenschaft gerathen sah, durch die Erinnerung an seine Schwüre in die Schranken. Er wurde nicht schwer dazu gebracht und ließ sich leicht die Besonnenheit gefallen, da er zwar schwächer, als die Liebe, aber stärker als die Wollust war. Als ihnen jedoch endlich ein siel, was nun zu thun sei, und sie sich genöthigt sahen, dem weitern Genuß des Augenblicks zu entsagen, beginnt Theagenes also: daß nur mit einander zusammen sein können, liebe Charikleia, und das haben, was wir allem vorgezogen und weshalb wir alles ertrugen, das ist unser Gebet: mögen es uns die hellenischen Götter gewähren. Weil aber die menschlichen Dinge unberechenbar sind und bald, so bald anders gehen, weil wir viel gelitten haben, viel befürchten, und weil nur nach unfern Verabredungen mit Knemon durchaus nach dem Dorfe Chemmis zu eilen Vorhaben, und weil es endlich ungewiß ist, welch' ein Geschick uns erwartet, und uns nach dem ersehnten Lande eine große und unermeßliche Entfernung, wie cs scheint, noch zurückzulegen übrig ist, wohlan, so wollen wir einige Erkennungszeichen unter uns verab reden, durch welche wir beim Zusammensein uns Geheimnisse mit-