Volltext Seite (XML)
95 10. Ich begebe mich zu Charikleia und finde sie allein: sie wür schon der Leidenschaft erlegen, ihr Stolz suchte sich noch gewaltsam ausrecht zu erhalten, ihr Körper aber, der Krankheit weichend, und zu schwach, gegen das Leiden anzukämpfen, befand sich in einem Zustande gänzlicher Ermattung. Ich hieß die Anwesenden sich entfernen, befahl, daß Nie mand uns stören solle, weil ich beabsichtige einige Anrufungen und Ge bete bei dem Mädchen anzuwenden, und sagte dann zu ihr: Nun mußt du mir schon mittheilen, was dir fehlt, liebe Charikleia, (du versprachst es mir wenigstens am Tage vorher) und es nicht einem dir wohlwol lenden Manne verbergen, der nicht unvermögend ist, alles zu erkennen, selbst wenn du schweigst. Sie ergriff meine Hand, küßte sie unter Thränen und erwiderte: Gewähre mir zuerst diese Wohlthat, weiser Kalasiris; erkenne meine Krankheit, wie du willst, nur laß mich schwei gend unglücklich sein, und wenigstens die Schaam sparen, indem ich verberge, was zu leiden schimpflich und auszusprechen noch schimpflicher ist. Freilich wohl schmerzt mich die Heftigkeit der Krankheit, mehr aber noch der Umstand, daß ich die Krankheit überhaupt nicht besiegt habe, und mich von einer Leidenschaft überwinden ließ, die mein ganzes Le ben hindurch von mir verabscheut wurde, und von der auch nur zu hören den hehren Namen der Jungfräulichkeit befleckt. Um sie zu er- muthigen, bemerkte ich: Aus zwei Gründen thust du Recht, liebe Toch ter, zu schweigen; ich für meine Person darf nicht lernen, was ich längst durch die Kunst erfahren habe, und es ist natürlich, daß du auszuspre chen erröthest, was zu verbergen für Frauen schicklicher ist. Da du je doch einmal die Liebe fühltest, und die Erscheinung des Theagenes dich eroberte (das offenbarte mir die Stimme der Götter), so mußt du wissen, daß du nicht die erste und einzige bist, welche die Leidenschaft erfaßt hat; das ist bei vielen ausgezeichneten Frauen, bei vielen sonst sittsamen Mädchen der Fall gewesen. Amor ist der mächtigste der Götter, und hat Götter selbst, sagt man, schon manchmal bezwungen. Erwäge nun, wie du die Sache am besten ordnen willst. Denn Liebe überhaupt nicht gekannt zu haben, ist ein Glück, es ist aber höchst klug, wenn sie einen erfaßt hat, seinen Willen in die Schranken der Sitte zurückzu weisen. Ist das deine wirkliche Absicht, so darfst du vertraun und mit Entfernung des widerlichen Namens der Begierde eine gesetzliche Ver bindung wählen, und die Leidenschaft in Ehe verwandeln.