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I^uII Okr neun / L.ck n-l-8°r dem Zimmer auf. Der Vorhang blähte fich lm Durchzug. De« Streichholz erlosch. Sie riss noch eins an. Es überwehte ihren Nacken. Sie flüchtete In ihr Zimmer. Da siel ihr ein, dah sie das brennende Streichholz hingeworfen Diese ersten Londoner Tage waren wie eine Wirbelflut Uber die arme Agathe Holm dahingegangen. Wieviel Eindrücke, wieviel Besorgungen und Besorgnisse, welch ein Durcheinander von Dingen und Menschen, Vorschriften und Nachfragen, wahr« hastig, da muhte die ruhige und betreuliche Frau Timbs wie eine Erlösung auf das herumgehehte junge Mädchen Wirken. Agathe lernte sie in einer Imbihstube kennen. Die Frau war herzlicher als die meisten andern Engländerinnen. Agathe raffte tapfer ihre weltfremden Sprachkenntnisse zusammen. Sie erzählte Frau Timbe, dah sie Dolmetscherin werden wolle und darum für ein Studienjahr nach London herübergekommen sei. Wenig Geld, aber viel guter Wille! Die Frau war gerührt. Sie fragte, wie es mit der Wohnung bestellt sei. Agathe hatte in einem frostigen Hosp«, Unterkunft gefunden. Sie sehnte sich dringend heraus. „Da kann ich Ihnen wohl helfen", meinte Frau Timbs und machte einen Vorschlag, der sich recht gut anhörte. Nachher freilich kamen Agathe allerlei Bedenken. Aber, da die Frau so nett und teilnahmsvoll war, wagte sie nichts davon zu sagen. Sie würgte ihre Einwände herunter. Gewih, St. Giles war keine freundliche Gegend, aber die kleine Woh» nung war gut instand gehalten, wenn auch völlig verbaut. Ein langer, schmaler Korridor mit mehrfacher Wendung führt« zu den beiden Zimmern. „Das Danze hier waren mal Büroräume", erklärte Frau Timbs. Agathe blickte trübselig hinaus. Nebel gilbte Uber den Dächern. Oder war es der Rauch von der fürchterlichen Ger berei? „Das Schöne ist", warb Frau Timbs, „daß Sie hier völlig ungestört und allein wären. Merken Sie, wie ruhig das Hau» wollte sie fragen, aber es blieb ihr in der Kehle stecken. Sie überlegte mit hämmernden Schläfen. Aber sie sand keine Er klärung. Sie glaubte, in der Türrihe Licht zu bemerken. Schritts wanderten — endlos. Er tappt ertappt — er tappt ertappt mutzte sie denken. Ein hartnäckiger Blödsinn, der sich in ihrem Hirn sestknisf. Aber vielleicht war alles ein Nervenspuk, ein Erzeugnis ihrer aufgewühlten Phantasie. Sie war in ihrem ganzen Leben noch lemer Sinnesrauichung erlegen, aber die Peitsche der letzten Tage hatte alles durcheinandergebracht. Und da fragte st, sehr laut und klar: „Ist dort jemand?" Sie horchte angespannt hin. Nichts regte sich nebenan. Da sank sie in ihr Kissen zurück. Das Blut in den Ohren brannte. Wieder stieg eine Brücke. Dann aber ein senkrechtes Abgleiten — das Schlafpulver. Schwere Träume ballten sich in ihrem Kops. Aber dann entkrampste es sich Etwas Leichtes, Liebliches träumte sie — von Zuhause — von ihren kleinen Zwikingsbrüdern — plötzlich wurde sie durch irgend etwas geweckt. Wieder griff sie nach der Uhr. Immer noch null Uhr neun. Sie lauschte hinüber. Nichts. Da stand sie auf. Sie nahm Streichhölzer mit. Der Schal ter im Flur war nicht an ihrer Tür. Sie stieb die Tür su hatte. Und fie hörte wieder dieses seltsame Schreiten. Dann knallte eine Tür zu. Irgend etwas siel zu Boden. Jetzt kam es näher. War es nicht schon an ihrer Tür? Sie wollte schreien. Aber sie war ja unter Wasser. Sie sprang vom Lager, wollte zum Schalter hin, sühlte etwas Hartes, Knöcherndcs, eine lebende Hand. Da brach sie nieder. Als Agathe am nächsten Vormittag die Aufklärung bekam, konnte sie keineswegs lachen, so lächerlich das Ganze sein mochte. Das Grauen wirkte noch zu stark in ihr. Die Wohnung gehörte nicht Frau Timbs. sondern einem Herrn Hutton, einem Sonderling, der an diesem Tage für län gere Zeit hatte verreisen wollen. Frau Timbs, die für die Wohnung sorgte, war so eigenmächtig gewesen, sie hinter seinem Rücken zu vermieten. Freilich hatte sie es gut gemeint. Da» Geld wollte sie Hutton zukommen lassen. Dieser hatte aber seine Reise um vierundzwanzig Stunden verschoben. Er ge dachte, in der nächsten Frühe zu fahren und noch einmal kurz in seiner Wohnung zu übernachten. Hotels verschmäht« er grundsätzlich. Denn er war taubstumm und menschenscheu. Frau Timbs war sehr unglücklich Uber das, was sie schuld los angerichtet hatte. Sie hals Agathe uneigennützig, ein ge mütliches Zimmer besorgen. Agathe sprach auch später von dieser Nacht nur ungern. Oer verliebte Ournbolcit / o!" ist?" Wirklich, es war kein Laut zu hören. Arbeiten würde man hier gut. „Sie haben genügend Licht, Sie haben ein kleines Bade zimmer, alles, was das Herz sich wünscht." Das war freilich ein wenig übertrieben. „Und der Preis?" fragte Agathe zögernd. „Weil Sie es find, dreitzlg Schilling." Das war allerdings so unerhört billig, datz Agathe sich abwenden mutzte, um nicht ihr Erstaunen und ihre Freude zu verraten. Sie machte den Handel perfekt. Es fügt« sich, dah sie sehr spät «inzog. Sie war zu er schöpft. Die Koffer standen noch unausgepackt in ihrem Schlaf zimmer. Sie war übermüdet. In ihrem Kopf jagten sich in rasen der Folge die Bilder des Tages. Immer wieder erschienen Brücken, die schräg durch ihr innere» Blickfeld stiegen. West minster, Waterloo, Tower — sie überblendeten sich. Alles war in einen schwachen bläulichen Schimmer gehüllt — Dann aber brach ein wüstes Farbenkarussell los — die erbarmungslose Lichtreklame der City — johlendes» heulende» Licht — das beizte sich in ihr Hirn. Agathe stand auf. Sie nahm ein Schlafmittel. Sie tat das sonst sehr selten. Bald wurde st« ruhiger. Die Bilderslucht lietz nach. Wie still es hier warl Gab es wirk lich acht Millionen Menschen in dieser Stadt? Plötzlich aber fuhr ein leiser, nadelseiner Schreck vom Ge hör zum Hirn. War da nicht jemand an ihrer Wohnungs tür? Tin Schlüsselbund rasselte. Jetzt knirschte es im Schlotz. Sie stützte sich auf. Der lange Flur trug ein Geräusch her. Sie schaltete di« kleine Bettlamp« an. Die Uhr zeigte neun Minuten nach Mitternacht. Jetzt öffnete sich die Tür zur Wohnung. Sie hörte es ganz deutlich. Leise, schwere Schritte kamen durch den Gang getappt. Heitz stach es in all ihren Haarwurzeln. Jetzt bogen die Schritte ab. Die Tür zum Nebenzimmer wurde aeössnet. Jetzt schlurft« etwa« hinein. „Ist dort jemand?" Der berühmte Naturforscher Alexander von Humboldt wär« beinahe einmal für Deutschland und die Wissenschaft, die ihm so viel verdankte, verlorengegangen. In den Jahren 17SS bis 1801 bereiste er mit seinem Freunde, dem französischen Botaniker AimL Bonpland, zu Studienzwecken Mittel« und Südamerika. Die Ergebnisse ihrer Reise und Forschungen wurden später in einem glotzen wertvollen Werke niedergelegt. Während ihres Aufenthaltes in Mexiko erregte die Gewin nung der Cochenille ihre Anteilnahme. Versehen mit einem Empfehlungsschreiben, besuchten sie die berühmte grosse Pflanzung der Senora Rodriguez, denn man hatte ihnen gesagt, dah dies« Dame die bedeutendste Plantage der CochenUlekaktcen oder Feigendisteln besitze und bei ihr das Geschäft überhaupt in ratio nellster Weise betrieben würde. Die beiden jungen Naturforscher wurden von Senora Rodri guez mit vollendetster mexikanisiher Gastlichkeit empfangen und di« Erfüllung ihres Wunsches wurde bereitwikigst gewährt. Während sie noch mit der Herrin des Hauses sprachen, kam plötzlich ein junges Mädchen von bestrickender Schönheit ins Zimmer. Humboldt wurde so hingerissen von ihrem unbeschreib lichem Liebreiz, datz er alles um sich her vergaß und sie anstarrt«, al» sei sie eine überirdische Erscheinung. „Meine Tochter Dolores!" sagte lächelnd die Mutter. „Ich beglückwünsche Sie, Senora. Auf allen meinen weiten Reisen hab« ich nie ein so schönes, weibliches Wesen gesehen!" „Sie belieben zu schmeicheln, Herr Baron!" „Es ist meine aufrichtige Meinung!" „In Europa, besonders auch in Ihrer deutschen Heimat, gibt es doch wohl auch viele schöne junge Damen!" „Gewitz! Aber keine hält den Vergleich mit Senorita Dolores aus!" Da auch die Mexikanerinnen für Schmeicheleien durchaus nicht unempfänglich sind, entzückten solche Worte aus dem Munde des berühmten Gelehrten sowohl Mutter als auch die Tochter. Sie übten ihre Vergeltung auf liebenswürdigste Weis« und bewirteten die beiden Forscher nach besten Kräften. Dolores lvraL dabei eifrig und sachkundig mit über di« Cochenille und Cochenillekakreen, die man hier auch „Nopal" nannte, und erbot sich, die beiden nach der grossen Plantage zu begleiten. Humboldt >var entzückt. Die angenehme Unterhaltung nut dem schönen Mädchen hatte für ihn unendlich viel Reiz, so dass beinahe da» wissenschaftliche Cochcnillcitudium Einbusse erlitten hätte, wenn nicht der Freund Bonpland weniger von der Schönheit der Seno rita geblendet gewesen wäre. Alan begab sich nach den grotzen Anpflanzungen. In unab sehbaren Reihen sah man da wohl einige Hunderttausend der fünf bis sechs Futz hohen Distelkaltcen, aus welchen Myriaden von Cochenillen umherkrochen, die von den sogenannten „Nopa- lcros", indianischen Feldarbeitern, eifrig gesammelt wurden. „Diese kleinen Cochenillen sind nämlich eigentlich Läuse", sagte das schöne Mädchen. „Ja, und zwar gehören sie zur Gattung der Schildläuse", be- stätigte zustimmend Bonpland. „Wie viele davon werden wohl gebraucht zu einem Pfund der wunderschönen roten Farbe?" „Siebzigtausend!" sagte Dolores ohne zu zögern. „Haben Sie das wirklich so genau ausgerechnet?" „Jawohl! Es hat ja für mich immerhin ein erhebliche» Interesse, da ich später ja die Besitzerin dieser Pflanzung sein werde!" Sie gab noch weitere Auskunft über die Cochenillen: wie man sie tötete und dörrte auf er—,neu Osenplatten und u>as dann ferner mit ihnen geschah, bis sie so aussehcn wie kleine Körner, die man zum Versand in Fässer schüttete, jedes Fatz zum Gewicht von zweihundert Pfund. Die beiden Naturforscher erhielten also gründlich Auskunft über diese Farbläuse, aber nur Bonpland stellte wissenschaftlich« Untersuchungen an und machte sich eifrig schriftliche Auszeich nungen darüber, denn Humboldt war so eifrig beschäftigt, der jungen Dame den Hof zu mail-cn, dass ihm die interessanten Kakteenläufe diesmal vollständig nebensächlich waren. Als st« die Pflanzung verliessen, sagte draussen Bonpland scherzend: „Du hast ja heut« mehr die schöne Senorita als di« Cochenillen studiert!" „Ich gestehe cs", versetzte Humboldt, „sie ist aber auch wirk lich ein wahres Schönheitswunder l" Oodg68ÄNg suk 8OKÖN6 PIsuäerer sm 1Vockenen6e Von Marabu. Nicht von der Prager Straße in Dresden, nicht von der Petersstraße in Leipzig oder der Tauentzienstraße in Berlin will ich reden, obwohl von jeder dieser Straßen sich manches Bemerkenswerte sagen ließe. Was eine Straße wirklich bedeutet, das lernt man doch erst jen seits des Weichbildes der Städte verstehen. Auf den schlanken Bändern aus Steinen, Sand und Asphalt, die den motorbefliigelten Reisenden htnausftihren ins Weite. Und da lernt man bald Unterschiede seststellen. Es gibt Straßen, die sind wie die Vorhälle: steinig, staubig, voller Löcher und steil. Straßen, auf denen man ein schlafen möchte, so eintönig ist ihr Verlauf, so reizlos ihre Umgebung. Aber auch Straßen, die wahrhaft Kunst werke sind, die den Reisenden eine großartige Landschaft großartig erleben lassen. Von solchen Straßen, die ich in den letzten Tagen erleben durfte, will ich erzählen. Autobahn Dresden-Nürnberg. 389 Kilometer mißt die Autobahn von Dresden- Neustadt bis nach Nürnberg-Süd. Aber in reichlich vier Stunden kannst du diese Strecke mit einem Wagen mitt lerer Stärke ohne weiteres bewältigen. Bedarf es noch eines Lobes für diese großartige Bahn, die in mustergül tiger Weise Mittel- und Sllddeutschland miteinander ver bindet? Fragt einen Autofahrer, der diese Bahn schon oft benutzt hat: Immer wieder ist es eine Beglückung, sich ihr anzuvertrauen, dieses köstliche Gefühl der Sicherheit zu genießen. In Dresden siehst du zum letzten Male Radfahrer und Straßenbahn, erst in Nürnberg am Dut zendteich begegnest du ihnen wieder. Keine Besorgnis vor Kreuzungen, keine Angst vor Begegnungen mit wil den Fahrern. Diese vier Stunden auf der Autobahn sind eine wahre Erholung... Und sie sind ein unvergeßliches Erlebnis deutscher Landschaft! Mag das Reisen in der Eisenbahn in vieler Hinsicht bequemer sein, dafür erlebt der Autofahrer das Wesen der heimatlichen Landschaft um so viel eindring licher. Wie ein Bilderbuch entfalten sich vor dem Auge des Fahrers die sächsischen Landschaften vom Elbgau bis zum Erzgebirge und Vogtland. Mitten im thüringischen „Holzland", auf der Wasserscheide zwischen Elster und Saale liegt das Hermsdorfer Kleeblatt, das von der Ost- West- auf die Nord-SUd-Achse führt. Wie ein Wall steigt der Frankenwald auf. Von Osten her grüßen die Kuppen des Fichtelgebirges. Und wie drollige Kobolde heben aus der Nähe die Felsen der Fränkischen Schweiz ihre Zipfelmützen empor. Zur Rechten fliegt Bayreuths Fest spielhaus vorbei.' Und dann Nürnberg, die Stadt der Burg, der Kirchen und festen Türme... Es ist eine un- vergeßliche Straße! Am Gardasee: Riva-Gardone. Nock oft magst du an die Freiheit und Unbeküm mertheit der Autobahn zurückdenken: Wenn du auf stei len Alpenstraßen nur langsam vorankommst, wenn du den jäh abstürzenden Zirler Berg nördlich von Innsbruck mit dem ersten Gang und einem unsicheren Gefühl im Magen hinunterrutschst, wenn du in der Drachenschlucht des Eisacktales vor Straßenarbeiten überhaupt kaum vor ankommst... Dann aber, wenn du bei Novereto das Etschial verlassen hast und nach dem Gardasee hinüber gesteuert bist, dann gefällt dir auf einmal die Autoreise wieder: Auf der Felsenstraße am Westufer des Gardasees zwischen Riva und Salo. Früher mußte man von Niva aus steil den Berg hinauf. Denn am westlichen Ufer stürzen die Felsen steil in den blauen Gardasee ab. Auf meine Ehre: dieser See ist wirklich blau, nicht nur blau von Dichters Gna den wie die „schöne blaue" Donau. Von der Helligkeit dieses klaren, sonnendurchfluteten Wassers geht ein strah lender Glanz aus, der dich mit magischer Gewalt bezau bert. Dir ist, als könntest du dieses gewaltige blaue Leuchten auf die Dauer gar nicht ertragen... Und darum wird es dir weise und fürsorglich in Portionen gereicht. Mit freundlichen Unterbrechungen, die die schier unzähligen Felsentunnel der neuen Straße bedeuten. 1930 hat man diese neue Straße in die Fel sen gehauen, flach führt sie immer über dem Spiegel de» Sees dahin, so, als ob cs hier gar keine natürlichen Hin dernisse gäbe. Bei der Geschwindigkeit des Wagens kann es dir erscheinen, als sei diese Straße ein einziger Tun nel, in den nur große Fenster gebrochen worden sind. Eine festliche Galerie, durch die du voll von namenlosem Entzücken fährst, eine riesenhafte Pergola, vor der die schönste Aussicht verschwenderisch ausgebreitet liegt: der strahlende Gardasee, dessen Breite mit jedem Kilometer südwärts wächst. Bis bei Gardone der Blick wieder ganz frei wird und wie ein mahnender Gruß zum Abschied aus dem Blau des Wassers das Eiland auf taucht, das Vorbild gewesen ist für Böcklins „Toten insel«... Die Großglocknerstratze. Noch viel könnte ich euch von den Wundern des Südens erzählen, meine Freunde, von Padua, Venedig und Triest, von der herrlichen Autostraße, die gerade wie ein Bleistiftstrich und sorgsam von mehr als mannshohen Hecken umgeben die Stadt des heiligen Antonius mit der Stadt des heiligen Markus verbindet. Vom Wieder anstieg in die Berge, von den unvergeßlichen Straßen an der einstigen Isonzofront, von Monsalcone, Karsreit und