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6 Leben Herimanns. Vielem Aehnlichen, was anzuführen viel Zeit erfordern würde, war er, soviel es seine Schwäche erlaubte, fortwährend und ununterbrochen beschäftigt. Endlich aber, als die Gnade Gottes sich würdigte, seine heilige Seele aus dem traurigen Gefäng nisse dieser Welt zu befreien, wurde er von einem Seitenstechen befallen, lag zehn Tage lang schwer darnieder und litt fast un unterbrochen und außerordentlich an dieser tödtlichen Krankheit. Als ich nun eines Tages, nachdem die Morgenandacht verrichtet war, am frühen Morgen an das Bett des Kranken, welcher mit niir vor Anderen vertraut war, hintrat, um ihn zu befra gen, ob er sich etwas besser befinde, antwortete er und sprach: „Frage nicht danach und merke vielmehr sorgfältig auf das, was ich dir, auf den ich kein geringes Vertrauen setze, erzählen will. Ohne Zweifel werde ich in Kurzem sterben, nicht mehr leben und nicht mehr gesund werden; deshalb empfehle ich dir und allen den Meinigen meine sündige Seele. Ich war näm lich die ganze Nacht hindurch in einer Art Verzückung und es kam mir vor, als ob ich aus dem Gedächtnisse und auswendig, wie wir es von dem Gebet des Herrn gewohnt sind, den Hor- tensius des Tullius Cicero * läse, dann wieder läse und fleißig durchforschte, und den noch rückständigen Theil des Werkes, welches über die Laster zu schreiben ich mir vorgenommen 2, als wäre er schon niedergeschrieben, seinem Sinne und Inhalt nach gleichfalls öfters überläse, und dergleichen noch Vieles. Durch den Eindruck und die Mahnung solcher Lesung ist mir diese ganze gegenwärtige Welt mit all' dem Ihren und dieses sterbliche Leben selbst so sehr verächtlich und zum Ueberdruß geworden und ich verlange im Gegentheil mit solcher unaus sprechlichen Sehnsucht und Liebe nach jener künftigen, unver- Eine verlorene Schrift des Cicero zur Empfehlung des philosophischen Stu diums, welche ihm vcrmuthlich durch das Lob derselben von Augustin bekannt war. W. 2) Wahrscheinlich der zweite Theil des oben erwähnten, noch erhaltenen Werkes, welcher von den Tugenden handeln sollte. W.