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Sächsische Volkszeitung : 24.12.1938
- Erscheinungsdatum
- 1938-12-24
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id494508531-193812247
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id494508531-19381224
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-494508531-19381224
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Sächsische Volkszeitung
-
Jahr
1938
-
Monat
1938-12
- Tag 1938-12-24
-
Monat
1938-12
-
Jahr
1938
- Titel
- Sächsische Volkszeitung : 24.12.1938
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Wclhnachtsmorgens fahren die Bauern unter Schestengeklingel im bunten Schlttten zum Gottesdienst. Christinas oder Xmas steht in England im Zeichen von Mistelzweigen, Truthahn und brennendem Piumpudding. Der Weihnachtsbaum spielt keine große Nolle. Auch eigenes Hestgebäck fehlt. Ucberhaupt ist dem Engländer die Wunder seligkeit der Weihnacht verborgen geblieben, auch wenn In Oxford Street die großen Warenhäuser glanzvolle Weih nachtsausstellungen veranstalten. Hehlt das Tanncngrün in den englischen Stuben, so sind sie doch geschmückt mit Papier gewinden: auch Knallbonbons, Konfetti, Papiermützen und Maskenkostüme gehören zum Tinas. Nicht zu vergessen der Mistclzmeig mit der Kuhsitte. Der englische Weihnachtsmann Santa Claus fliegt über die Dächer und läßt seine Gaben durch den Kamin purzeln, just in die Strümpfe hinein, die die Kinder an Kamin oder Heilster aufgehangen haben. Der zweite Weihnachtstog, Boxing day, ist von faschtnghafter Aus gelassenheit. Theater und Schauvorsührungen sind überfüllt, Kinder und Erwachsene toben in Maskenkostümen ouf den Straßen umher, und abends finden große Kostümbälle statt. In den Hotels wird ausgiebig gespeist: englische Tmas-Dinners zählen bis zu 15 Gänge. Auf den Straßen lassen Straßen musikanten Wcihnachtslieder hören, und Scbnlchöre singen alte Meihnachtslieder in Häusern und Stuben. Weiße Weihnachten Ist sehr selten. Mild und ohne Schnee ist die Weihnachtszeit in Frank- reich. Der Weihnachtsbaum findet sich nur selten. Die Kinder stellen den Weihnachtsschuh vor den Kamin und er warten am Weihnachtsmorgen all das darin zu finden, was sie In ihren Briefchen an das Jesuskind bestellt haben. Der französische Weihnachtsabend entspricht etwa unserem Sil vester. Zu dieser „rcveiston" sind die öffentlichen Gaststätten überfüllt, und es wird gut gegessen und getrunken. Biel be sucht werden die Mitternachtsmesscn. Durch die Straßen treibt die Volksmenge, besonders in Paris. Als Hestbratcn fehlt auf keinem Tisch der getrüffeltc Puter, der sülzenhaste Eberkopf in Gelee sowie eine Art Schokoladenstolleu: wer es sich leisten kann, bereichert dieses Mahl um Gänseleberpastete, Krebse, Schnecken und Austern. Wenn die Italiener Glück haben, so regnet es zu ihrem Natale wenigstens nicht aerade in Strömen. Unsere Weihnachtstanne wird durch den Prcsepio, die Weihnachtskrippe, ersetzt. Die Krippenkunst nahm sa von Italien her durch den Heiligen Franz von Assisi ihren Ausgnng. In Rom gibt es einen Krippenmarkt, wo Krippen und alle Einzelfigurcn in der Weihnachtszeit käuflich sind und auch Zuckerbäcker ihre Stände haben. Ueppig ist der landesübliche Festschmaus, der cenone, zu dem Truthahn oder wenigstens Huhn, Torten, Schokolade, Würste, Parinosan und Landwein in Mengen vertilgt werden. Jedermann besucht eine Mtlternachtsn.esse, deren glanzvollste die in Santa Maria Maggiore ist. wo in feierlicher Prozession die Originalwiege, in der das Jesuskind in Bethlehems Stasi gebettet lag, durch die Kirche ln goldenem Schrein getrogen wird. Die Kinder werden erst am Drei-Königs-Tag beschert. Als lustiges Volksfest wurde Navidad in Spanien ge feiert, ehe es der Bolschewismus in den mörderischen Bruder kampf hetzte. In der heiligen Nacht wurde unausgesetzt ge schmaust und getrunken, .oobri auf der Festtafel der Puter nie fehlte. Zu Mitternacht wurde die Hahnenmesse in den Kirchen besucht, wo große Krippen ausgestellt sind. Krippen erfreuen auch die Kinder daheim in jeder Stube; die Lichter tanne gewinnt Freunde. In den Dörfern werden Weihnachts spiele aufgeführt und feierliche Kirchentänze. Madrids Straßen wurden von einer nach Zehntausenden zählenden Volksmenge bevölkert, die einen unbeschreiblichen Lärm vollfllhrte init Trommeln, Tamburins, Kastagnetten und Blechtöpsen — bis in den frühen Morgen. Ein Ereignis be sonders hielt vor dem Fest ganz Spanien in Baun: Die Ziehung der großen Weihnachtslotterie mit einem Hauptgewinn von 15 Millionen Pesetas. Die Bescherung der Kinder erfolgte am Drei Königs-Tag. Alle Völker feiern Weihnacht auf ihre Art fröhlich oder übermütig. Nur ein Volk darf nach dem Willen seiner gott losen Unterdrücker nicht Weihnacht nach der Väter Brauch feiern: das russische Volk. Auch die Russen hatten sa, ehe sie vom leibhaftigen Antickrist unterjocht wurden, ihre Weihnachtsbräuche, auch wenn sie nach altrussischem Kalender 13 Tage später feierten als wir. Im bolschewistischen Rußland wird infolge der ununterbrochenen Produktionswoche iitzpr Weihnacht gearbeitet. Knapp und unerschwinglich sind die Le bensmittel: an Heltschmaus ist kaum zu denken. Wer wollte es wagen, ein Christbäumchen anzuziinden; selbstverständlich ist den staatlichen Verkaufsstellen der Verkauf von Christ bäumen und -sckmuck verboten. Hin und wieder wagt sich ein Händler mit sclbstgefertigtcm Spielzeug hervor. Um so leb hafter entfalten um Weihnacht die Gottlosen ihre Propaganda: wie waren sic stolz. Weihnacht 1030 dem roten Diktator das Verbrennen von -1050 Madonnenplastiken melden zu können. Sie faßten den Beschluß, alle noch vorhandenen Kirchenglockrn einznschmelzen, damit Hein froher Glockenklang allen noch gläubigen Russen die wunderbare Weihnachtsbotschaft kündet: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen aus Erden..." n 7°4- n 7°' — , -Dann ksntzt 6er alte Ltekansturm M 6INNL0M IN VVI6N / ! m pi-u-Ln ->n...- Von 8. Droste Hülsfiokf Wien, die Stadt zwischen den nordöstlichen Ausläufern der Alpen und der fruchtbaren Donauebene, in deren Umgebung herrliche Reben und köstliches Obst gedeihen, wo im frühen März schon Veilchen und MondeIbäumäfen blühen, hüllt sich seltener in das weiße Winterkleid als die Städte des deulfcl>en Nordens. Um so reizvoller wirkt sie, ivcnn lustiger Hlockentanz vom Him mel wirbelt, wenn die marmornen Higurengruppcu in den ösfeist- liclen Gärten, die reicl)gegliederten Barockfassadcn des Lobko- witz- und Schivarzenbergpalastes, des Belvedere und andere Bauwerke, sowie das gotiscl-e Sleinfiligrnn von St. Stcsan dicke, lockere Pelzmützen tragen. Sobald die Dämmerung naht, blinken brauh ii in den Vorstädten trauliche Lampen hinter den Fenstern bescheidener, ebenerdiger Häuschen. Die allmodischen Seiten gassen, die sich unweit vom Verkehrslrubel und SciMlfcnster- prunk beim Dom, um den Graben und das Viertel „Am Hos" herum durch die Allstadt schlängeln, ruhen biedermeicrlich ver träumt unter der Last des Schnees, der Dach und Erker, jeden Mauervorsprung und jede Torwölbung mit glitzerndem Weiß überzieht. Ganz still ist es hier. Hern brandet der Lärm von Autobus und Straßenbahnen. Die weiche Hlockcndecke dämpft jeden Laut, und abends, «renn vereinzelte Laternen mit der Helle des Cckneelichts wetteifern und der Mond über die Giebel blinzelt, geistert durch die allen Höfe und malerischen Winkel der romantische Weihnachlszauber längst verklungener Tage... „Dann fangt der alte Stefansturm zum plaudern an — vl n seiner Jugend und vom asten Wien — —" heißt es in einem bekannten Wicnerlied. Er hat im Lause der Jahrhunderte gar viel gesehen, der „aste Slcjsl", der sich wie ein riesiger Zeigefin ger hoch über das Dächergewirr der Wienerstadl erhebt. Nicht nur weltgeschichtliche Ereignisse erlebte er. sondern auch manche Abwandlungen alten Brauchtums, mit dem die Wiener ihre Fest zeiten begingen. Heute wandert wie überall im deutschen Land auch in Men alljährlich der Wald zur Stadt. Kurz vor Weihnachten rollen in endlosen Güterzügen draußen aus den Bahnhösen mäch tige Bündel von großen und kleinen Tannen und Fichten an. Lastivaaen sahren die srisä-grünen Kinder des Semmerings, des Steierlondes und der Tiroler Berge durch die Straßen und zu den freien Plätzen, die sich in n-cnigen Stunden in duftende Wälder verwandeln. Der Handel mit den sreudespendenden Christbäumen beginnt. Doch kennt man diese in Wien erst seit etwa 120 Jahren. Nur langsam und weit später als in allen Orten des asten Rei- ches bürgerte sich der Lichterbaum an der Donau ein. Als man in norddeutschen Fürstentümern scbon Besorgnisse wegen des allzu starken Verbrauches kleiner Weihnachtstannen hegte, als Goethe in Weimar bereits seine bekannten Verse: „Bäume leuch tend, Bäume blendend, überall das Süße spendend..." schrieb, feierten die Wiener ihre Christfeste noch ganz auf südländische Art: Mit reichlichem Essen, nächtlichem Kirchenbesuch und dein „Kripperlspiel", der figürlichen oder dramatiscl>en Darstellung der Geburt Christi. In vielen Kirchen waren prächtige, figuren reiche Krippen ausgestellt, zu denen das Volk aus der Stadl und den Vororten in Scharen pilgerte. Auch in den meisten Privat häusern baute man hübsche Krippen aus. Die besonders zur Re naissance- und Barockzeit überaus prunkvollen öffentlichen lhea, tralisclzen Weihnachtsspiele mit deutscl>cn und lateinischen Wcch- selgesängen wurden unter der Regierung Kaiser Josefs II. ab- gesckasst. Damals feierte man in Wien das Christfest durch eine ncuntägige Andacist in der Kapuzinerkiräre „als Vorberei tung aus die Geburt des Heilandes". Zu Beginn des 10. Jahr hunderts gab es dann eine Zeitlang Marioncltcnspiele, die von den Wienern gerne besticht wurden. Das Schenken an Weihnachten kannte man im asten Wien nicht. Die Kinder erhielten ihre Gaben am Nikolaustag. Da steckte man ihnen heimlich allerlei Süßes und Erfreuliches in die Schuhe. Der gebefreudige „Nicolo" — der auch heute noch in Viscl-ofsgeftalt oder als lustiger roter Teufel, als „Krampus", als Ülorbote des Christkindleins auftrilt — kam nicht nur ins Bürger- und Adelshaus, sondern auch in die Hofburg. Zur Zeit >Veiknsckt82e!t I-lnolscstnitt von fast, kl u b e r - ciautinß Maria Theresias, der glücklichen Mutter von 18 Kindern, mag sein Erscheinen wohl eine aufregende Angelegenheit gewesen sein. Im Schloß Schönbrunn soll es noch ein altes Bild geben, das im Jahre 1762 entstand und eine Nicu'obeschernng bei Hole tm engsten Familienkreise darstellt: Der Kaiser sitzt im Morgen rock bei Tisch, indes die Kaiserin neben ihm steht. Rund herum tummeln sich die Kinder mit den Gestunken, die sie in den ausgestellten Schuhen gesunden haben. Dem kleine.i Erzherzog Ferdinand aber überreicht sciire erivaclssenc Schwester Maria Christine in einem Schuh — eine Nute. Wer die Weihnachtsbeschcrung unter dem strahlenden Lich terbaum in der Donaustadt einführtc, ist nicht genau überliefert. Man vermutet, es sei die junge Erzherzogin Henriette gewesen, die von Grillparzer hochverehrte Gemahlin Karls, des Siegers von Aspern. Sie soll um 1818 für ihre ältesten Kinder Therese rrnd Albrecht den allerersten Wiener Christbanm entzündet haben Die hübsche Eist« mag ihr von ihrer nassauischen Heimat her vertrant gewesen sein. Vielfach ivird aber auch dein aus Nord deutschland stanunenden berühmten Hcübnrgtheatcrsclwuspielcr Heinrich Anscipitz die Einführung des kerzenbesteckten, bunt- behangenen Tannenbaumes zugeschrieben. Um 1830 flimmerten die Lichterbäumchcn jedenfalls schon in ollen Wiener Weihnachts stuben. Seit dem frühen Mittelalter bis zu unseren Tagen erhielt sich der „Christkindlmarkt", dessen Duden voll Naschwerk und Tand früher am Graben, später bei St Stcsan und am Hof vor der Kirche mit dem wunderlichen Namen „Zn den sieben Chören der Engel" standen. Auf diesen Märkten, die ehedem wohl mehr „Nikolousmärkte" waren, machten schon die Babenberger Her zöge ihre Einkäuse. In jenen Tagen wurde während der Christinen« nach dem Hochamt zu St. Stcsan noch der feierliche „Wolsssegen" abgcsungen sEingang des Matthäm imngeliumsf. „eyn löblich altl>erg«brachter Brauch", der die hungrigen Wölfe zur Winter« zeit von den Stadttoren sernhalten und Unheil verhüten sollte Ms vor wenigen Jahrzehnten ries noch die berühmte ..Pumme rin", die gewaltige, aus TUrkenkanoncn gegossene Riesenglocke des Stefansdomcs zum Milternachtsgollesdienst. Wegen der gefährliä-en Erschütterung des Turmes durch dos schwere Geläute wird sie jetzt nicht mehr in Deivegung gesetzt. Wenn mich ihr eherner Mund heute schweigt, klingen dafür die Hellen und dunk len Stimmen zahlloser anderer Glocken melodisch durch dl« Wiener Christnacht. weißer Schneetcppich bedeckte die Erde mit all Ihren Plagen und all ihrer sündigen Unrast. Es ist Weihnachtszeit, dachte ich, Friede auf Erden. Aber klang das nicht wie Hohn? — Als ich mich unserem Hause näherte, hörte ich schon auf der Straße betrunkene Stimmen aus den Fenstern schallen. Gläser klirrten, Frauen lachten auf, lautes Singen schrillte durch die Lust. — In dem Zimmer unserer früheren Hausbesitzerin, die ver haftet und sich seit Monaten im Gefängnis befand, lebte nun ein Untersuchungsrichter der GPU mit seiner Frau. Heute abend hatten sie Gesellschaft. — Ich war in die Küche gegangen, um heißes Wasser zum Tee aufzusetzen, als ich die junge Frau aus ihrem Zimmer kommen sah. Ihr dunkler Kopf war onduliert, die Lippen stark geschminkt, das sonst hübsche frische Gesichtchen dick ge pudert. Sie trug eine Menge von Tellern in beiden Händen. — „Hier", rief sie unserer Zimmernachbarin Tatiana zu, dem früheren Dienstmädchen unserer Hausbesitzerin, die jetzt aber schon seit geraumer Zeit als Arbeiterin in einer Fabrik tätig war, „dieses Geschirr sollst du mir abwaschen, und was auf den Testern liegt, darfst du deiner Tochter geben. Aber beeile dich, ich habe reine Tester für den Tisch nötig." — Sie stellte das Geschirr aus den Küchentisch und eilte zurück. — Tatiana versuchte in guten Beziehungen zu dem Unter suchungsrichter und seiner Frau zu leben und auf diese Weise vielleicht Ihrer früheren Herrin zu helfen. Sie war kaum von ihrer Arbeit zurückgekehrt und sah am Tisch bei ihrer Mahl zeit, aber sie ließ astes stehen und machte sich an das Ab waschen. „Sehen Sie", wandte sie sich an mich, „was sie für mein Mädel gelassen habenl Einem Hund gibt man es besser!" Auf den Testern lagen ein paar abgebissene Scheibchen Wurst, rin halbverzehrter Fisch und einige Brotrinden. — Nicht lange blieb ich in der Küche, sondern kehrte bald in mein Zimmer zurück und legte mich hin. Aber es war un möglich, einzuschlafen. Der Lärm wurde immer toster. Jetzt spielte jemand auf der Ziehharmonika, mehrere Stimmen san gen gleichzeitig verschiedene Lieder. Gegen Morgen hörte ich schwere, stolpernde Schritte im Gange, und die Haustür wurde ein paarmal heftig zerschlagen. Endlich war es ruhig ge- worden. Der zweite Weihnachtstag war vergangen. — Jetzt lag ich im Bette und dachte über die Erlebnisse de» Sestrigen Tage» nach. Da plötzlich schien es mir, als ob ein leises Weinen irgend wo in meiner unmittcibaren Nähe ertönte. Woher das wohl kommen mochte? Ich stand auf und schlich behutsam auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Nun hörte ich ganz deutlich leises Flüstern. Es schien mir aus der Küche zu kommen. — Vorsichtig stahl ich mich durch dett dunklen Gang. Die Stim men ertönten tatsächlich aus der Küche. Ich öffnete ein wenig die Tür. Zuerst sah ich nichts, astmählich unterschied ich jedoch zwei Hrauengestalten, die nebenclnandcrsaßen und flüsterten. Die eine war unsere Zimmernachbactn Tatiana, neben ihr saß eine alte Frau mit einem schwarzen Tuch auf dem Kopfe und weinte bitterlich. „Guten Tag. frohe Weihnachten!" begrüßte ich die Aste. Ich hatte sie erkannt — es war die Frau des alten Arbeiters, der in der Versammlung gestern so mutig gesprochen hatte. „Frohe Weihnachtszeit, sagst du?" erwiderte die Alte weinend. „Für mich gibt es kein Fest. Mein Alter ist heute von der GPU als Kontrerrevolutionär verhaftet worden." Tränen rollten über ihr mageres Gesicht. „Was für einen Lärm ihr macht! Was für ein Geschwätze! Ihr weckt uns sa aste, Bürgerin!" erklang eine verdrießliche Stimme. Unwillkürlich zuckten wir zusammen. Wir hatten es gar nicht bemerkt, wie eine junge Frau in die Küche herein getreten war. Es war die Frau des Untersuchungsrichters der GPU. Der dunkle Bubikopf war zerzaust, die Füße steckten nackt in den hohen Filzstiefeln, das geschminkte Gesicht wor verschlafen. Sie hielt eine Zigarette in der Hand und gähnte laut. — „Was ist hier los?" fragt« sie dann. — Die Alte erhob sich plötzlich und stürzte zu den Füßen der jungen Frau nieder. Sie haschte nach ihren Händen und küßte unter Tränen den Saum ihres Kleides. — „Täubchen, mein einziges, goldenes, mein Engelchen, hilf mir! Mein Alter ist diese Nacht van der GPU verhaftet wor den, jetzt ist er im Loch. Sage deinem Manne, er soste «hm helfen, er ist es ja gewesen, der den Haftbefehl unterschrieben hat. Bitte ihn. er soste Ihn befreien! Sonst sterbe Ich mit meinen Kindern vor Hunger. Der Alte war unser einziger Ernährer« Es fiel mir ein, daß du mir helfen könntest, deshalb bin ich auch so früh gekommen, um dich noch zu Hause zu fin den. Da» ganze Leben lang werde ich zu Mott siir dich bete»! Ich habe dir auch etwas mitgebracht. Vielleicht kannst du es brauchen. Sonst hab« ich nichts... Aus meiner Aussteuer ist es mir geblieben... Es ist ein Stück blaues Tuch für ein Kleid. Ich habe es immer ausbewahrt, meine Tochter sollte es bekommen... Ist ja nun alles einerlei... Schau, wie gut der Stoff ist! Wie weich und mollig! Nock aus der Zaren zeit, darum ist er auch so gut! Hculzutage gibt es keine solche Ware mehr! Reine Wolle! Nimm es. Täubchen, trage es und hilf mir!" — Die Alte hatte hastig ein in ein reines Handtuch gewickeltes Päckchen erariffen. Sie band es eilig auf. Ihre Hände zitterten vor Aufregung, und das Päckchen siel zu Bo den. Erschrocken hob sie es auf. Ein Stück Kornblumen blauen Stoffes kam zum Vorschein, den sie der jnnoen Frau reichte. Das Handtuch glitt ihr aus der Hand, aber sie merkte es nicht. Hosfnung strahlte ihr aus den Augen, mir gierigen Blicken beobachtete sie die junge Frau, das schwarze Tuch war ihr von dem Kops gerutscht, graue Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht. Sie merkte cs aber nicht. Sie merkte auch nicht, daß ihr die Tränen die eingefallenen, rmnstcken Bicken her- untcrströmten. — Es war bester geworden, die graue Morgendämmerung schaute durch die Fenster hinein und beleuchtete die drei Frauen. — Die junge Kommunistin griff nach dem blauen Stoss und besah ihn aufmerksam. Sic schwieg und schien sich etwas zu überlegen, aber dann fuhr sie plötzlich heftig ans. — „Wenn dein Alter ein Konterrevolutionär, ein Feind des Volkes ist, geschieht cs ihm auch reckt, ins Loch gesteckt zu wer den. Mit Volksfeinden soll man kein Mitleid haben. Mein Mann weiß übrigens recht gut. was er macht. Uud mich hast du, alte Hexe, bestechen wollen? Soll ich es s a verstehen? Ich werde aber nickt daraus eingehen und deinem osten Esel hel fen! Mach, daß du fortkommst, tonst rufe ich meinen Manu, dann wirst du auch noch eingesteckt! Und nie wieder sollst du es wagen, mich zu belästigen — hast du verstanden?" — Sie drehte sich um und verließ hastig die Küche. Die Tür fiel heftig ins Schloß. — Die Alte lag noch immer ouf de» Knien und schaute ihr ratlos nach. — „Den Stoss hat die Genossin aber doch mitge nommen", bemerkte Tatiana trocken. — Etwas Weißes schimmerte in einem Häufchen in der fahlen grauen Morgendämmerung. Ich bückte mich, cs aufzuhcbcn. — Es war das vergessene Handtuch... sAus: Alexandre Anzcroiva. Am Weißen Meer. Verlag Schöningh, Paderborn, geb. 5.30 RM.)
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