206 Jahrbücher von Prag III. >282 Anbruche der Nacht müde und hungrig nach Hause. Darauf kam die Tochter und klopfte an die Thüre, um eingelassen zu werden, wie dies täglich geschah. Aber die Mutter verweigerte ihr den Eingang mit den Worten: „Zu was bist Du gekommen? Bist Du nicht schon gleich einer Tobten? Dein Angesicht ist ver- schrumpft und bleich, Du wirst in der Hütte sterben und es wird sich Niemand finden, der Dich zu Grabe trägt." Sie ließ sie also nicht ein. Die Mutter starb aber selbst in dieser Nacht und als die Tochter des anderen Tages kam, warf sie dieselbe in die Grube und überlebte sie noch lange. Zu dieser Zeit dachte wegen des allzu quälenden Hungers der Vater nicht daran, seinem Sohne zu helfen, und dieser nicht an seinen Vater; die Mutter kümmerte sich nicht um ihre Tochter und die Tochter nicht um ihre Mutter; der Bruder kannte den Bruder nicht mehr. Ter Mangel nahm ihnen das natürliche Gefühl für die Verwandtschaft und es ging jenes prophetische Wort in Erfüllung: „Ich bin meinen Brüdern ein Ausländer und ein fremder Sohn meiner Mutter.')" Und so entzog ihnen die drückende Noth die Fähigkeit, ihrer Verwandten zu gedenken. In den meisten Fällen geschah das Gegentheil von dem, was der Dichter sagt: „Schönheit und Gunst des Volks, der Jugend Feuer und Reichthum Lassen erkennen Dich nicht, was es bedeute: ein Mensch." und wieder: „Viererlei Dinge sind, uns zur Ueberhebung verlockend: Geld und Gut und edle Geburt und Wissen und Schönheit." Bei den Alten war Alles Gemeingut und Niemand nannte das, was er gerade hatte, sein.y Jetzt aber haben Habsucht und Geiz überhand genommen und in der Hungersnoth sieht der Bruder seinen Bruder in Folge gänzlichen Mangels dem Tode nahe und schämt sich nicht, ihm nicht nur Nahrungsmittel, son dern sogar ein Stückchen Brod zu verweigern, obgleich sie ein >) Psalm 88, s. — 2) Rach CoSmas l, 8. —