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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 20.09.1914
- Erscheinungsdatum
- 1914-09-20
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191409205
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19140920
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19140920
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-09
- Tag 1914-09-20
-
Monat
1914-09
-
Jahr
1914
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4. Vellage. Sonntag, 20. September 1914. Leipziger Tageblatt Nr. 479. SonntagS'Nasyade Seite 17 Unterhaltungsbeilage Letzte Ulte des Wligers der Hstzt M KHM". Aus seinem Nachlaß. Wenn ich einmal sterben werde Weit von meinem Vaterland, Legt mich nicht in fremde Erde, Bringt mich nach dem heimschen Strand, Meines Herzens Flamme lodert Einzig dir, Germania; Drum, wenn einst mein Leib vermodert, Sei mein Staub den Vätern nah! Wenn die Nebel dann zergehen Ob dem heil'gen Deutschen Reich, Laß, o Gott, ihn auferstehen, Meinen Schalten still und bleich. Daß. er seinen Blick erlabe An dem herrlichen Gesicht, Ruhig Wiederkehr' zu Grabe, Harrend auf das Weltgericht! Max Schneckenburger. tvir haben Krieg! Eine Erinnerung von Johannes Schlaf-Weimar. Auch damals blühten in den Gärten die Sommerblumen, und auf den Feldern wurden die Garben gebunden, als es mit einem Male hieß: Wir haben Krieg! In der Luft hatte es freilich trotzdem schon gelegen. Unser weltabgeschiedenes Städtchen, das damals noch lauge keine Eisenbahnverbin dung hatte, war noch nicht völlig aus der letz, ten uachbleibenden Unruhe der Feldzüge von 64 und 66 herausgekommen. Ein schlimmer Gast, die Cholera, hatte uns 66 helmgesucht und sei nen schaurigen Tribut reichlich gefordert. Nord lichter und Kometen, feurigen Schwertern und Lanzcnbüudcln gleichend, waren schrecklich am Himmel auch neuerdings wieder aufgeflammt. schwere Unwetter, Wirbelstürme, wie sie in glei cher Gewalt seit Menschengedcnken sich nicht er eignet hatten, böser Hagelschlag hatten zu den grausen HimmclSzeichen hinzu Unruhe und Sorge für die Zukunft genährt. Halb und halb lebt ja solch ein kleines, weltfremdes Nest und lebte es besonders damals noch von allerlei Aberglauben und Gespensterspuk. Es gehörte zu diesem Aberglauben übrigens auch der Umstand, daß wir Jungens kurz vor Ausbruch des 70er Krieges aus das Kriegspielen rein wie ver. sessen waren und uns oft tagelang draußen auf den Bergen und in dem alten Mauerwerk des Schlosses herumvrügelten. „Die sackcr- inenschten Jungens spielen zu viel Krieg," äußerte dann wohl dieser und jener mit bedenk lichem Kopfschütteln, „das bedeutet nichts Gutes." Harmloser im Zusammenhang all solcher Vorunruhe war ein Wägelchen, das seit 66 jedes Jahr ein paarmal zu bestimmter Zeit von der Unstrutgegend her durch das südliche Stadttor in die Stadt hereingesahren kam. ES wurde von einem gutmütigen Pferdchen gezogen, und ein Mann stand darauf hinter einer mächtigen dröh nenden Drehorgel, auf der er Kriegsmarsche des 66er Feldzuges spielte: „Sechsundsechzig kamen Soldaten marschiert — Als die Juste, die be- wußte, mir ein Butterbrot geschmiert", den Ra- detztymarsch u. a. Wir Jungens erwarteten dieses Fahrzeug jedesmal zu Häuf vor dem Stadttor, und der Heiermann nahm uns dann alle miteinander zu sich und seiner Orgel mit auf das Wägelchen hinauf. Hier brüllten wir denn vor Krieas- begeisterung und gründlichster Lust au der Si tuation, nicht zuungunsten der Einnahmen un seres Gönners, die ganze Stadt hindurch aus Leibeskräften die uns bekannten Märsche mit. Der beliebteste war einer mit dem Refrain: „Benedek, reiß aus!" . . . Ich selbst bewahrte noch einige Eindrücke aus dem Jahre 66. Und heute noch sind sie mit ihren Einzelheiten meinem Gedächtnis un verlierbar eingeprägt, obgleich ich damals nur erst vier Jahre alt war. Vater hatte mich, als die aus dem Feldzug zurückgekehrten Krieger auf dem Marktplatz be grüßt wurden, mitgenommen. Es war ein un- vergeßlicher Eindruck mit seiner unbestimmten, aroyzügigen, dem Kinde so geheimnisvollen Zierlichkeit! . . . Die Häuser rings um den großen Marktplatz mit grünen Gewinden, Blumenkränzen und wehenden Fahnen geschmückt. Ein trüber Tag übrigens. Auf der weiten geneigten Fläche des Marktplatzes mit seinem alten holprigen weiß grauen Pflaster standen inmitten einer stillen, schwarzen Menschenmenge still und dunkel die Heimgekehrten in Reihen ausgestellt. Dicke Ge winde von Eichenlaub über Brust und Rücken geschlungen. Aus der Trübnis des Tages aber schimmerten grell die gelben Trompeten hervor, und laut schmetterten die Hornisten ihre Fan- iaren ukH Weisen über den großen, stillen ! Marktplatz hin. Ich war hingerissen vor Staunen und An- dacht, zugleich war es mir aber ein wenig furcht bar und gruselig. Ungleich mehr Freude hatte >ch, als nachher am Abend die Stadt im Schim mer der Illumination strahlte. Auch Vater hatte ein großes Transparent I aus Pappe mit einem Vers bunter Papierbuch- I naben vor- Fenster gehängt, und auch tn un seren Fenstern flackerten lustig die vielen mun. teren goldigen Flämmchen der Kerzen in ihren irdenen Näpfchen und Tüllen. Im Jahre 70 war ich acht Jahre alt und schon um ein bedeutendes bewußter und auf. geweckter. Doch wußte ich selber nicht, wie es kam, daß ich mich, daß wir alle uns eines Tages in lebhafter Aufregung befanden: Aber cs hieß, wir hätten Krieg, Krieg mir Kaiser Napoleon und den Franzosen. Herr Scharf, der dicke BezirkSfeldwebel mit seinem mächtigen roten Schnauzbart, und noch ein paar andere plötzlich irgendwoher ausgetauchte Militärpersonen waren in lebhafter Aktion: es war Mobilmachung, und bald zog unter „Wacht am Rhein" und Hurra eine Schar Männer zum nördlichen Stadt tor hinaus, ihrem Stellungsort entgegen. Von allem anderen merkte ich, merkten wir Jungens ja nicht weiter viel; nur daß wir in unserer Be geisterung gern mitgemacht hätten und später ein paar halbwüchsige Bengels, die sich wirklich bis nach Frankreich hinein mit durchgepascht hatten und den Feldzug mitmachten, aus Her zensgrund beneideten . . . Dann trafen plötzlich die Nachrichten von den ersten gewonnenen Schlachten ein. Ewig werden aber für mich die Namen Wörth, Weißenburg, Spicherer Höhen mit den schönen bunten Farben der Neuruppiner Bilder bogen verknüpft bleiben! Eines Tages nämlich, als ich auf dem Heim weg aus der Schule an dem Heinen, kleinstädtisch „romantischen" Buchbindcrladen vorbeikam, in dem ich meine Schreibhefte, Federhalter und Bleistifte zu kaufen pflegte, prangten sie mir ent gegen, und voll herztlopfender Begeisterung stürmte ich in den kleinen Laden hinein, um mir den „Tod des Generals Abel Douai", die „Er stürmung der Spicherer Höhen", den „Kampf der Bayern mit Turkos in den Weißenburger Hopfen gärten" zu erstehen und als kostbarste' Besitz tümer mit nach Hause zu tragen. Photographische Reproduktionstechnik in Zei tungen und Zeitschriften, wie heute, gab's da mals noch nicht, es mußten die biederen Neu ruppiner genügen — von denen ich mir im Laufe der nächsten Monate ganze Stöße, immer die neuesten Schlachtenbilder, kaufen konnte; außerdem hielt ja aber Vater zwei illustrierte Blätter. Das eine, in einem Verlag Schönlein in Stuttgart erscheinend, hieß „Die Chronik der Zeit" — sie ist nun wohl schon seit Jahrzehnten nicht mehr auf der Bildfläche —, das andere aber war ein im gleichen Verlag erschienenes Lieferungswerk „Der Krieg 1870/71", das auf dem Titelblatt jedes Heftes ein großes, mit Eichenlaub und Lorbeer geschmücktes Eisernes Kreuz zeigte. Der Text und die reichlichen Holzschnitts dieser beiden Blätter trugen uns nachher in dem rauhen Herbst und an den langen, tiefeinge schneiten, eiszapfenbehangenen Abenden des da- maligen sehr harten Winters bei Lampe, war mem Ofen und Bratäpfelsummen die großen Ereignisse zu, die sich da so ernst und blutig im fernen Westen vollzogen . . . Sie wurden mit einem Eifer und einer Be geisterung entgegengenommen, diese Nachrichten und Bilder, daß die Namen von Personen und Oertlichkeiten, sowie die Mehrzahl der Illustra tionen zu einem eisernen Bestandteil meines Ge dächtnisses wurden. Auch die Vorgänge in Paris zur Zeit der Kommune lernte ich kennen. Und irgendwo, in einem besonderen Fach meines Ge dächtnisses, wie hineinphotographiert, bewahre ich noch heute all diese Bilder und Szenen von Barrikadenkämpfen, zerschossenen und brennen den Straßen und Gebäuden, Petroleusen, dem Sturz der Vandomesäule, die langen Reihen der füsilierten Insurgenten, die Namen und Ge sichter von Fcrry, Felix Phatz, Courbet usw., die, obwohl verworfene Ausrührer, vor denen ich mich ganz fürchterlich entsetzte, zu meinem Erstaunen so elegante Jackettanzügc amhatten... Mein Patriotismus, durch die Neuruppiner und die Bilder in den beiden Zeitschriften bis zum äußersten angeregt, äußerte sich vorab in künstlerischer Weise. Ein geschickter Zeichner, hab' ich damals aus freier Phantasie manch ein Buch Schreibpapier voller Schlachtenszcncn und Sol- datengestaltcn gemalt, die dann mit Hilfe des Tuschkastens meist noch recht schön bunt koloriert wurden. Im übrigen ging das Leben in unserem Heimatstädtchen in seinem gewohnten stillen All tagsgleis weiter. Nur versteht sich, daß, als Sedan gewonnen und der Kaiser Napoleon ge fangengenommen war, alle Glocken läuteten und die Fahnen herausgesteckt wurden, oder daß man, wo man hinkam, über den Krieg sprechen und Politik treiben hörte, und daß wir Jungens tagaus tagein die „Wacht am Rhein" und „Deutschland, Deutschland über alles" sangen. Anfang September gab es immerhin aber ein Ereignis. Von Eisleben her kamen zwei große Leiterwagen mit leibhaftigen gefangenen Franzosen, Turkos, Zuaven, Infanteristen, Hu saren und einem gefangenen Gardisten, die, von Braunschweiger Jägern in ihren Tschakos und schwarzen Schnürenröcken eskortiert, durch unser Städtchen durch nach der Unstrutgegend, nach Artern oder Nebra oder Freiburg, gebracht wur den. Wir Jungens waren ihnen wohl eine gute Wegstunde iveit auf der Eislebener Chaussee ent gegengelaufen und traktierten die armen, aus gehungerten Kerle, die stumpf und müde auf ihren Wagen zusammengepfercht lagen, hockten und standen, mit halbreifen Zwetschen, die wir einfach am Wege von den Bäumen herunter schüttelten, und die, von uns hinaufgereicht, gie rig entgegengenommen und verschlungen wurden. Und doch, so schlicht und simpel auch der kleinstädtisckjc altfränkische Postkutschenzcit-Alltag unseres Heimatncstes von damals sein mochte: das große Ereignis fand auch uns, und seine Glorie erfüllte unsre Herzen; um so tiefer und eindringlicher, intimer und unveräußerlich nach haltiger vielleicht, je schlichter und simpler dieser Alltag war. . . Und nun, ganze 44 Jahre sväter, haben wir ivieder Krieg. Aber es ist nicht Lug und Nieder tracht des „Erbfeindes" allein, die gegen uns steht, sondern fast beispiellos frechste und schamlos unerhörteste Verruchtl)eit einer ganzen Welt von Verderbnis ringsum. Hat deutsche Tugend und deutsches Wort aber einen anderen, böseren und eigentlickicru „Erbfeind" als diesen'? Damals rang ihm deutsche Mannheit das einige Reich ab: was aber wird t-eute der Preis des gewaltigsten Ringkampfes fein'? Mit Gott der höchste und äußerste! Denn das Reich Deutschland und die Welt: Nur so und nicht geringer lautet die Parole! , . . Ich weiß ein Herz, -as für mich betet . . . Skizze von C. Aulepp. (Nachdruck verboten.) Das Leben Unter den Linden und in der Friedrich straße, diesen Hauptschlagadern Berlins, nahm un- geheure Ausdehnung an. Hans Holbach bahnte sich einen Weg durch das Getriebe der Kaiser-Wilhelm- Brücke. Und wie ein großer Alarm schwang sich plötzlich ein Glockenton durch die Luft, aus tiefstem Gründe, gewaltig ausholend, in machtvollen Schwin gungen verklingend; eine zweite Glocke mengte sich dazwischen, eine dritte und vierte, und gemeinsam dröhnte das Geläut weithin über Straßen und Plätze, weithin über die Köpfe der Menge, die Len Krieg erwartete. Die melodischen Stimmen — sie riefen zum Kriegsgottesdienst. . . . Hans Holbach nahm den Hut ab und strich sich mit der Linken über das kurz verschnittene Haar. Sollte er dem Rufe folgen? Tausende waren schon in den einzelnen Portalen verschwunden, aber immer noch folgten neue nach. Und nun schritt auch er Uber die steiner nen Freitreppen und trat ein. . . . Durch die große Kuppel sandte die scheidende Nachmittagssonne einen flimmernden Schein. Die letzte Glocke verhallte. Mit mächtiger Eindringlichkeit zogen Orgelklänge über die Tausende hin. Keiner von allen konnte sich der Gewalt dieser Töne entziehen. Und jetzt setzte der Choral ein, und alles begann zu singen: „Aus tiefster Not schrei ich zu dir". Danach die Rede des Geistlichen: „Wir stehen in einer ernsten Stunde, so ernst, wie wir sie in Deutschland noch nicht erlebt haben!" Hans Holbach sah schluchzende Frauen, Männer, in deren Gesichtern es zuckte. Es erschien ihm, als wimmere es in allen Ecken wie ein heißes Gebet: das Schicksal noch in letzter Minute abzu wenden, das den Mann und den Sohn, den Bruder und den Geliebten auf das Schlachtfeld führte. . . . Aber während drinnen Frauen und Mütter» Schwestern und Bräute den ungeheuren Schmerz, der ihnen zuteil werden sollte, zum ersten Male so recht in vollem Umfange richtig erfaßten, hatte sich draußen das Schicksal bereits erfüllt. Hans Holbach aber stand dann dort und fühlte einen lastenden Druck. . . . Sein Blick blieb plötzlich so seltsam hungrig an einigen Gruppen hasten: einer Mutter, die am Halse ihres Sohnes hing, und einem Mann, der von der Frau Abschied nahm, die ihm erst wenige Wochen angehörte. Er sagte sich: Ja — da stehe ich nun und bin ein Sieger im Leben — aber um mich ist auch die Verlassenheit des Sieges — die Einsam keit. . . . Denn während in seinem Hüttenwerk die Arbeit bei Tag und Nacht um ihn rauschte, und er tn zäher Mühe kämpfte — sich keinen Feiertag gönnte, waren die anderen hingegangen und hatten sich ein Weib gewonnen und einen lieben Weg genossen — und Kinder wuchsen ihnen heran. Er machte mit der Hand eine Bewegung. ... Er dachte daran, daß auch er beinahe zu jenen Schwächlingen gehört, die ein Weib zerbrach. . . Aber er hatte sich nicht zerbrechen lassen. Er war ein Arbeiter ge worden . Wie die Menschenmauer vor dem Schloß doch eine Passage unmöglich machte. . . . Und plötzlich flatterten einem Schwalbenschwarme gleich Extrablätter über die Köpfe. „Wir machen mobil!" Einer hatte das Losungs wort gerufen, das nun Anlaß zu einer ungeheuren Ovation gab. Und dort oben auf der Schloßrampe, gleichsam über der Menge schwebend, stand ein schlankes junges Mädchen im weißen, wehenden Kleid und hob immer wieder den Arm. . . . Brau sende Rufe. Fiebernde Erregung. Hans Holbach richtete seine Augen auf das junge Mädchen. Der lastende Druck wurde stärker — und aus dem Unter gründe seines Wesens stieg etwas herauf — eine Weichheit, eine brennende Sehnsucht: Unter diesen Millionen eine Seele haben — einen Menschen, der zu ihm gehörte. . . Ganz klar, in einem jähen Beben aller seiner Nerven kam ihm dieser Wunsch. Dabei waren um ihn, zeitweilig anwachsend und wiederum verklingend, die brausenden Hochrufe der Menge, das fiebernde Leben .... Ein neuer Tag. Warm und strahlend lag die Sonne über der Stadt. Und zwischen den Tausen den, die zum Bahnhofe drängten, schritt Hans Hol bach als ein still Ausschauender und ließ das Leben reden. Und wahrlich, Lebensausschnitte, wie sie weh mütiger nicht gedacht werden konnten — boten sich ihm dar. Aber er beneidete die jungen Burschen, die ihr Mädel im Arm zum Abschied zogen. Ein süßes kleines Kindchen jauchzte ahnungslos auf dem Arme des Vaters, am andern Arm hing schluchzend die Frau. . . Hans Holbach beneidete den Mann. . . Dann sah er am Bahnhof die Tränen Les letzten wehesten Abschieds und dachte: wenn er ging, er griff ins Leere — ihm gab niemand das Geleit. . . . Ein Frösteln des Fremdseins — dann wieder diese jähe, stürmische Sehnsucht. . . . Die erregt drängenden Ge danken suchten und suchten. . . . Und plötzlich jagte es ihm durch den Kopf — als abgerissene Erinne rung: Draußen in Halensee — da lebten ja noch Verwandte von ihm. Und früher einmal, während einer Ausstellung, hatte er sie öfter besucht. Und ein liebes, junges Ding war da —fast ein Kind noch — in einem weißen, wehenden Kleid. ... Er sann mit angehaltenem Atem. So — nun hatte er das Bild. . . . Sekunden noch stand er unbewegt. Und gleich, als er das schöne Haus seiner Ver« wandten betrat, stand er unter dem Eindruck einer gewißen Zugehörigkeit. Ja, warum war er eigent lich niemals wieder hier gewesen? Weil er in zu viel Kampf und Arbeit stand, sagte er sich. Und er schrak fast zusammen, als die Tür des Zimmers, in dem er wartete, sich öffnete, und eine junge Dame in Trauerkleidung vor ihm stand. „Wie ich mich freue —" Elisabeths schmale Hand lag in der seinen. Er suchte nach Leichtigkeit, nach Unbefangenheit dem schönen Mädchen gegenüber, und er fühlte doch, daß die Gedanken, mit denen er gekommen war, sie ihm raubten. „Sie sind in Trauer?" Sie nickte still, und ihre schönen dunklen Augen feuchteten sich. „Meine Eltern —" jagte sie leise. Da ging sein Blick gan- erschrocken über das feine, blasse Mädchengesicht. .. Und hastig griff er nach ihren Händen und drückte sie. „Elisabeth — liebe Elisabeth " Sie hatte schwere Tränen in den Augen. Er strich sich mit der Linken über die Stirn. Sein Tun schien ihm so unfrei und linkisch. Elisabeth aber fühlte nun die Wärme seines Wesens und lächelte ein wehes Lächeln. Er fragte, wie das Unglück gekommen wäre. Ach — ganz sanft waren die Eltern entschlafen. Vor einem halben Jahre der Vater, vor einem Monat die Mutter. Sie trocknete sich die Tränen. Er dachte sinnend: Also du bist auch einsam... Er fragte: „Und nun? Sie können doch nicht allein hier bleiben?" „Nein. Durch Len Ausbruch des Krieges ergibt es sich ja auch ganz von selbst, daß ich in ein Lazarett gehe!" Hans Halbach hatte die Stirn zusammen gezogen. ... Da sprach sie weiter: „Ich habe keine näheren Verwandten — keine Freunde, die mir nahestehen — da liegt das in dieser schweren Zeit doch so nahe. . . ." Er sah mit ernsten Augen auf sie. Um ihren Mund lag ein Zug, der ihn ergriff. Gar nicht loslösen konnte er den Blick von ihr. . . . „Sehen Sie — es klingt vielleicht sentimental —, aber da sind doch Menschen, an die man deuten, für die man sorgen muß. Man kann ihnen doch etwas sein. . . . Man ist doch nicht so einsam. Können Sie das verstehen? Daß mir Las viel bedeutet'?" Ihre Augen trafen ihn und fragten. Er nahm ihre Hand und hielt sie Mischen seinen Händen. „Elisa beth, ich bin selbst einsam!,, „Ja? — Aber warum?" „Warum?" Sein Blick glitt über ihre feine, zart gliederige Gestalt, dann sah er an ihr vorbei. „Weil ich Enttäuschungen zu überwinden hatte — Bitter nisse. . . . Und dann meine Arbeit mir Lebensinhalt wurde. Aber jetzt geht cs mir seltsam. Denken Sie: ich muß zur Fahne, und nun ist es mir immer, als müsse mir da irgendwo noch eine Seele leben — und ein Herz, das mir zugehört — das für mich betet, wenn ich im Kugelregen stehe. . . ." Er suchte ihre Augen. Er war plötzlich so erregt, daß er die starken Schläge seines Herzens fühlte. . . „Elisabeth — können Sie das verstehen?" Er küßte ihre Hände. Immer wieder küßte er sie. Sie machte eine rasche, aufzuckende Bewegung. „Eli sabeth — unter all den Millionen bin iw ein Frem der — keinem angehörig! Ja — und^nun kommt plötzlich eine solch jähe, stürmische Sehnsucht: nach einem Menschen — einer lieben Seele, von der man weiß, sie denkt an einen, und wenn es eine Heim kehr gibt, dann hält sie die Heimat bereit. . . ." Er schwieg. Und als er einen Blick auf des Mädchens Gesicht richtete, sah er, daß es ganz von einer roten Welle überzogen war. „Elisabeth!" Sie gab nicht Antwort. Ganz hilflos sah sie aus. Das drängte sich zu plötzlich vor sie hin. Er stand vor ihr. „Eli sabeth — ich glaube, wir beide könnten uns viel sein .... Und so ganz fremd sind wir uns -doch auch nicht!" Das feine Rot wurde tiefer. Sie schüttelte den Kopf. „Nein! Meine Eltern haben mir oft von Ihnen erzählt." „Nun, also " An ihren Händen zog er sie an sich und küßte sie auf ihre feucht gewordenen Augen. Lange wortlos sahen sie sich an. Ganz still war es . Kein Laut von draußen — kein Ge ¬ räusch im Hause. Er legte sachte seinen rechten Arm um sie und zog sie enger an sich. So gaben sie sich der Stunde. Und die war so reich — nichts sollte sie stören. Aber mit einem Male fühlten sie: nun kam der Abschied. . . . Alles Blut drängte zu den Herzen, die mit heißen Schlägen pochten. „Hans". — „Ja, Elisabeth, leb wohl!" Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und hatte nasse Augen, aber diese Augen hatten einen Glanz von Glück. „Geliebter, Du —." Er nickte. Eine Sekunde lang zögerte er noch. „Nun hab' ich ein Herz, das für mich betet —" Dann machte er sich hastig los und ging. . . . Die Siegesglocke. Von Gustav Schüler. Und das mit Metz war grade geschehn — Die Dorfglocken erhüben ihr hellstes Getön. Von jedem Kirchturm fingen sie an. Wie große Freude singen kann. — In Elmersfrci ging's nicht so gut vonstatten, Weil sie nicht Turm noch Glocke hatten. Rundum im Kreise schlugen die Glocken In die Wolken ihr tieserbrausend Frohlocken, — Wie sehnten die in Clmersfrei Auch ihre Freudenglocke herbei! — Da ward im zusainmengelaufcncn Rund Ein rat- und auswegwisscnder Mund: Eine Glocke halt' er im Keller stehn, Vor Rost und Spinnweb kaum noch zu sehn, Aus Schutt und Gerümpel im Garten am Haus Vor langen Jahren grub er sie aus. Wenn die wohl ginge — was wollte man mehr? Und alte: Wir holen die Glocke her! Und eilig ward sie herbeigebracht Und flugs ein Glockcngestäuge gemacht. Und die Glocke aus der Schwedenzeit Hing in der Luft, zum Schallen bereit. Der Klöppel ward mühsam losgedreht, Und — o des Wunders — die Glocke geht! Und es erwachte wie Glut aus Geschwele Ihre vonc Rost verschluckte Seele. Und Flocken und Brocken Rostes sprangen, Die schwer am Glockcugcsicht gehangen. Ihr jahrhundertelang geketteter Ton Rang, bis er der Knechtschaft entfloh». Ein Klirren und Knirscljen, dann sprang ein Schall Aus dein auferstandnen Metall! Ein Schlittern und Jubeln, wundergroß, Brach aus dem schweren Geläut sich los. Alle Nachbarsglocken im rufenden Rund Ueberjubelt der neue Mund. Und es stand ein erbrausend Siegsgeschrei Uetzer den Ulmen von Elmersfrei! (Dtsche TES-)
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