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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 25.10.1914
- Erscheinungsdatum
- 1914-10-25
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191410254
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19141025
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19141025
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-10
- Tag 1914-10-25
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Monat
1914-10
-
Jahr
1914
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Kriegsbilöer aus (psten. Non Paul Lindenberg, Kriegsberichterstatter. (Nachdruck verboten.) XVI. Marggrabowo, 19. Oktober. „Mr treten vor Gott, den Gerechten" — so klang gestern früh der fromme Gesang aus dem Kirchlein auf dem stillen Markte. Dasselbe Lied, das ich bei der unvergeßlichen Kricgsfeier am Bismarckdenkmal in Berlin vernommen, dasselbe, das ich von unseren Truppen in Suwalki gehört! Gestern aber mischte sich in die ernsten Klänge die donnernde Sprache der Geschütze, welche die ganze Nacht hindurch nicht ge- schwiegen. Die Russen, die vier Wochen hier ge wesen, wollten mit starken Kräften einen energischen Vorstoß in dieser Richtung unternehmen; diesen galt es zurückzuschlanen und den Feind aus seinen sehr guten und trefflich befestigten Stellungen zu ver drängen. Gestern war von den Unsrigen das sechs Kilo meter entfernte Dorf Wielitzken , das den Mittel punkt der russischen Stellung gebildet, rm Stu m genommen worden. Die frischesten Spuren sahen wir als wir dort um die elfte Bormittagsstunde anlangten. Mit entschlossenster Zähigkeit waren unsere Truppen vorgegangen und hatten die Gegner aus den vielfachen, meisterhaft angelegten und ge schützten Gräben und Unterständen geworfen. Dann war s hineingegangen ins Dorf, in welchem um eie einzelnen Häuser gekämpft worden In den furcht bar verwüste.en Stuben lagen noch tote Russen; Fenster und Türen waren zerbrochen, alles zer trümmert, in dem Wirrwarr blutgetränkte Betten. Matratzen, Uniformen, Waffen. Aus zerschossenen und verbrannten Häusern lchwelte es noch atem beengend, das uralte Kirchlein, eines der ältesten Ostpreußens, war glücklicherweise erhalten geblieben; sein stumpfer, brauner Holzturm blickte auf all' die Verwüstung ringsum herab, auch aus manch' flüchtig ausgeworienen Grabhügel mit Helm und Kreuzchen aus Tannenzweigen. Und dabei wurde neue Vernichtung ausgestreut, hielt Schnitter Tod neue Ernte! Seitlich des Dorfes war eine Haubitz - Batterie aufgefahren, deren Granaten den etwa sechs Kilometer ent fernten, bewaldete Anhöhen besetzt haltenden Russen ihre feurigen Grüße zusandten. An verschiedenen Punkten loderten die Flammen auf, waren Ort schaften in Brand geraten. Längs der ganzen, sich dort hinten entlangziehenden Grenze, besonders auf dem Unten und noch mehr auf dem rechten Flügel, war jetzt der Kampf aufs heftigste entbrannt. In die knatternden Gewehrsatven mischte sich das ratternde Geräusch der Maschinengewehre, das Dröhnen der Haubitzen, deren Granaten mit heu lendem Singen die Luft durchschnitten, das Donnern einioer weiter vorgeschobener Feldbatterien Es war eine erschütternde Sonntagsmusik, die aber doch etroaL unbeschreiblich Gewaltiges, Macht volles, Fortreigendes in sich hat e, das jeden packte und ihn mit dem Verlangen erfüllte, weiter vorzu dringen, den Kämpfenden nahe zu sein! Auch wir, die wir ein weiter nach vorn gelegenes Dörflein erreicht hatten, in dessen Hut wir unsere Wagen ließen, befanden uns doch bereits inner halb der Feuerlinie. Das deuteten die flockigen Wölkchen der feindlichen Shrapnells an, die ganz unvermittelt bald hier, bald da erschienen, wie suchend, um ihr sicheres Ziel zu finden. Letzteres waren natürlich unsere Batterien, dre aber io gut verborgen waren, daß sie oer Feind noch nicht ent deckte. Wir hatten uns zwischen ihnen hinter einem Wegdamm verborgen, über uns gingen die Granaten hinweg, vor uns blitzten die Feldgeschütze auf. immer anhaltender und grollender wurde rm Forst rechts das Infanterie- und Mmchinengewehrfeuer. Da wollten, da mußten wir hin! Wir hielten uns unmittelbar rechts von der nach Rügland führenden Straße, die, wie es schien, in der Ferne von russischen Granaten bestreut wurde. Vorüber an den Staffelungen der Batterien mit Pferden und Protzen, die dichtgedrängt hinter einzelnen Gehöften hielten, gings flott vorwärts; auch die Feld batterien lagen bald hinter uns. Aus dem Walde tauchten Verwundete auf, meist mit Arm- und Hand schüssen, das Blut durch den Verband sickernd. „Wir haben einen schweren Stand", berichteten sie. „die Russen liegen uns aus 800 Meter nahe! Seit 8 Uhr morgens find wir im Kampf, da heizte ihre Artillerie unseres Brigade im Dorfe D.. in welchem wir Nacht quartier bezogen hatten, gehörig ein! Das möchten wir nicht noch mal mitmachen! Uns fehlte die Artillerie, die russische hat sich gut eingeschossen!" 2a, das sollten wir nur zu bald merken! — Wir — mit unserem militärischen Führer unserer acht — hatten den Wald erreicht, durchquerten ein Stück von ihm und überschritten gerad' eine Lichtung Da spritzt unmittelbar links von mir. keinen halben Meter entfernt, die Erde auf, ein feindliches Geschoß, von dem ich nichts gehört. Im seiden Augenblick aber pfeift es ununterbrochen um uns herum. Ge wehrkugeln sind's, und da schlägt auch schon am Rande der Lichtung, an welchem wir soeben noch geweilt, das erste Shrapnell ein, daß die Zweige einer Tanne zersplittert Herumfliegen, ihm folgen weitere, und nun singen auch die Granaten um und über uns, krackend im Walde, den wir jetzt auf dem Rückwege erreicht, einschlagend. Ieoer suchte Deckung, so gut es ging oder wie er sie am sichersten hielt, die einen sich langhinwerfend, die anderen sich hinter Bäumen nrederkauernd. Es ZU -en ILaperfahrten öev „Linden". - Dem kleinen Kreuzer „Emden", welcher der englischen Handelsschiffahrt in den ostindischen Gewässern soviel Schaden gemacht hat. ist wieder eine schneidige Kapersahrt gelungen. Es gelang ihm, wahrscheinlich im südlichen Teil des Golfs von Bengalen, eine Anzahl englischer Dampfer in den Grund zu bohren. Die Dampfer, die 6000, 8000 und 11 OOn Tonnen Gehalt hatten, sind besonders wertvolle Schiffe. Schon am 10. September hatte die Emden die Bucht von Bengalen unerwartet besucht und dabei 6 englische Dampfer versenkt. Bald darauf e> schien sie in Madras und scho t dort einige Petroleumbehälter in Brand. Der Schaden, den die „Emden" bis jetzt oer englischen Hanoelsschiffahrt zugefügt hat, übersteigt schon SO M llionen Mark. Die „Emden", welche v m Frcgaltenlapitün Karl v Müller befehligt wird, ist ein kleiner geschützter Kreuzer von 3650 Tonnen Wasserverdrängung und Mann Besatzung. war gerade keine allzu angenehme Lage, denn die Russen hielten diesen Teil des Waldes, in welchem sie unsere Infanterie vermuteten, fortgesetzt unter dreifachem Feuer. Am unangenehmsten von letzterem war das ununterbrochene hur—hui-hui der Gewehr geschosse; mit Schrapnells und Granaten war man ja schon eer vertraut geworden! Aber wenn in kurzer Entfernung wieder einmal die Aeste herunter krachten, dann dachte man doch, ob nicht in der nächsten Sekunde fo'n Ding gerade auf dem Punkt niederfallen würde, an dem man sich befand. Unsere vorhin erwähnten Feldbatterien, deren Fühier wohl gleichfalls annahmen, daß sich noch un sere Infanterie in diesem Wald befand, suchte durch erneut einsetzende Kanonade das feindliche Feuer ab zulenken. Das gelang. Die Granaten schlugen wohl noch in das hinter den Wald sich ausde-nende Feld ein. aus den Trichtern die Erde mehrere Nieter hoch emporwirbelnd, nahmen dann aber ihren Lauf mehr nach rech's, in der Richtung unjeler Batterien Bautz, das war ein Treffer! Aus einem Gehöft lösten sich finster geballte Rauchwolken ab, dann schlugen gleich lodernd die Flammen durch, kurz da- nach an drei Stellen aus dem Dachstuhl züngelnd; man hörte ihr Knistern und Knattern. Wir blieben am äußeren Waldrande, um viel leicht doch noch zu unterer Infanterie zu gelangen. Ties erwies sich aber als unmöglich. Es wäre bas sichere Verderben gewesen und Hütte niemanden Nutzen gebracht. Auch schien hier der Feind mit dem Angriff nachzulassen, das gegenseitige Feuer schwächte mehr uno mehr ab. Dafür tte, en mehrere Batterien, zu denen wir auf unierer langen Wanderung ge langten, dem Feinde keine Ruhe. Und wahrend aus ihren Rohren die Feuerstrahlen vorzuckten, verließen in schneller Flucht die Einwohner des nahen Torfes ihre Heimstätten, zu Fuß und zu Wagen, alt und jung, ein paar Habseligkeiten mitschleppend und das dumpf brüllende Vieh forttreibend.- Ein erschüttern der Anblick! Wie auch jener eine Stunde später, als wir die Bewohner einer in Brand geschossenen Ort schaft an den vertohlten. noch rauchenden Resten ihrer Wohnstätten sahen, juchend ob sie nicht noch dies oder jenes fänden — vergebliches Mühen! — Eine Ordonnanz hastete auf dem Rade an uns vorüber beim Einbruch der Dämmerung. „Wissen Sie nicht, wo der Stav des . . . liegt'?" — „Nein, was bringen Sie?" — „Der feindliche An griff ist erfolgreich abgeschlagen!" - Das war nach einem bangen und ungewissen Tage eine gute Kunde! — — — — — — — In der heutigen Nacht ging das Gebummere wieder tüchtig los. Unsere Artillerie hatte gemerkt, wie ich dann am Morgen erfuhr, daß der Feind sich zurückzog und half ihm in gebührender Weise dabei. Generalleutnant von Morgen, mit dem ich am gestrigen Abend bei einigen Glas guten Rotspons vielerlei Erinnerungen an gemeinsam verlebte Stun den in der Türkei und Rumänien ausgetauscht, machte denn auch ein vergnü tes Gesicht, als ich ihn heute um die zehnte Vormittagsstunde vor seinem Hotel begrüßte. Die Nacht hatte ihm wenig Schlaf gebracht, aber dafür nute Nachrichten von der Front. Zwei Autos ratterten heran mit den Flaigen des Armee - Oberkommandos. Dem ersten entsteigt ein General, hochgewachsen, elastisch mit weißem Schnurr bart in dem fri chen, gebräunten Gesicht, mit blauen, prüfenden Augen — es ist der Führer der Armee, von Francois Nach kurzer Beratung im Zimmer General von Morgens soll die Fahrt weitergehen, über Lyck nach Grajewo. Meine Anfrage, ob ich sie mitmachen könnte, ward dem General mitgcteilt, ich wurde ihm oorgestellt: „G.wrß. schließen Sie sich uns an. es ist ja grad' noch ein Platz im zweiten Auio frei!" Und in diesem Auto saß, mit dem Eisernen Kreuz, in der Unteroffiziers-Uniform, Las Gewehr neben sich, der wissen.chaftiiche Hilfsarbeiter S. vom Ber liner Völkermujeum. der dem Kommandierenden als Dolmetscher dient und mit dem ich die engsten Beziehungen zu lieben Freunden hatte. Da gab es viel von China, Indien. Aegypten, Japan, wo wir beide geweilt, auszutauschen! Dann aber nahm un- wieder die Gegenwart in ihren Bann, eine recht traurige Gegenwart! Wir hatten Lyck erreicht, die freundliche Stadt, die ich vor drei Wochen verlassen. Wie fand ich sie wieder! Zu einem Drittel zerstört, die beiden anderen Drittel schrecklich verwüstet Entsetzlich, viehisch hatten hier die Russen gehaust, die grauenhaftesten Scheufflichkeiten verübt, die man gar nicht zu erzählen wagt. Mit Feuer und Schwert hatten wir sie vor sechs Tagen vertrieben, anders war's nicht möglich gewesen! Sie selbst hatten Brand angelegt, nachdem sie alles ausgeraubt, dann waren unsere Granaten gekommen. Tie schöne pro testantische Kirche ward zerstört viele Häuser am Marit gingen in Flammen auf; der Bahnhof liegt in Trümmern, Elend und Grauen überall! — Auch auf dem weiteren Wege nach Rußland hinein, den die Vandalen zurückgelegt. Dafür jen seits der Grenze alles unversehrt, Häuser, Dörfer, Ortschaften, Städte, unsere Leute bezahlend, was sie gebrauchten. Selbst G r a j e w o, das wir gestern genommen, weist leine Befchädigungen auf, dafür hatten die russischen Soldaten die Läden und Woh nungen ihrer Landsleute geplündert. Nahe der trostlos verschmutzten und verkommenen Staat mehrere unserer Batterien; sie hielten mit ihren Ge chossen aufmerksame Wacht vor dem Feind, der auch hier aufs neue die deutlche Faust kraftvoll verspürt, so nachdrücklich, daß ihm das Wiedertommen vergangen sein dürfte! Die Heimkehrenöen. Ein« Autofahrt von Brüssel über Antwerpen nach Bergen op Zoom (Holland). Von Walther Nissen. (2.) Um 8 Uhr früh fuhr unser Auto von Brüssel ab, mit dem nächsten Ziel Antwerpen. Der Begleitsoldat vorn beim Chauffeur hatte sein Gewehr im Arm, riß die Augen auf und zog an einer Zigarre. Es war neblig, kühl und grau. Das Land sah aus, als hätte es viele schlaflose Nächte hinter sich. „Diese Fahrt", sagte mein Begleiter, ein Ant werpener Großkaufmann, „ist für mich eine Fahrt ins Ungewisse. Vielleicht sind meine Fabriken und mein Haus zerstört. Die deutschen Bomben sollen ja immerhin hier und da Schaden angerichtet haben; wahrscheinlicher noch ist, daß der Hafenpöbel die Lager meiner deutschen Firma geplündert, unersetzliche Papiere vernichtet hat." „Nicht an die Güter hange dein Herz, die das Leben vergänglich zieren." „Das ist kein Trost für mich. Wenn mich das Unglück träfe — niemand soll mir meinen Schmerz verkleinern. Ich habe nur eine Möglichkeit, meinem Lande zu dienen: indem ich die Macht seines Handels mehre. Ich bin unnütz, wenn ich wieder von vorn anfangen muß. Ich bin zu alt, das Leben ist zu kurz." Ich schwieg und wies auf ein .zerschossene« Haus an der Straße. Die ganze Vorderwand war nieder, gestürmt, aus einem Zimmer im ersten Stock h ng ein verwähltes Bett halb auf Lie Straße herab. „Arme Leute", sagte er ernst, „aber in einem Jahre haben sie ein anderes Bett in einem anderen Hause. Hier ist nicht ihr Werk unterqegangen; Grauen ist nur, wo Werke untergehen." Mecheln. Von den riesigen Fenstern der Kathe drale ist nur das Gitter der Dlestassungen geblieben, das bunte Glas ist zersplittert. Hier und da ist das Mauerwerk zerstört; an einer Stelle klafft ein riesiges dunkles Loch. Glas, Mauerwerk - das rührt >n dicken Tagen nicht ans Herz. In einem verlassenen Wohn-immer, zu ebener Erde, ist der Kronleuchter über dem gedeckten TOcb in Trümmer geschossen. Auf dem Tisch liegen ein Kindcrhut und eine Puppe. Das rührt ans Herz. Hinter Mecheln beginnt der Zug der Heim kehrenden Zuerst vereinzelte Leute. Lin be ladener Karren, ein paar Menschen mit Bündeln auf den Schultern; alle mit brennenden Blicken weit vorausstarrend. Ein paar Seelen, bei denen das Heimweh stärker war als die törichte Anast vor den „grausamen" Feinden, stärker als der lunger und die tiefe Müdigkeit in den Gliedern. Plötzlich, in der Nähe eines Antwerpener Forts, eine Grunve Verzweifelter, Schluchzender am Wegrand. Wir lassen halten. „Hier", sagt einer, den das Entsetzen gepackt bat, langiam, „hier haben wir gewohnt. Hier waren Häuser, Straßen, Gärten und Anlaaen — hier ist jetzt nicht einmal ein Trümmerhaufen, hier ist nichts — nichts ." Wir sahen in der Tat eine planierte Ebene, gestampfte Ziegelsteine: kilometer weit. Dazwischen kurze Baumstümpfe hundertjährige: Stämme. Vorwärts! Antwerpen? Ist das Ant werpen? — So still und starr sah ich den Hasen einmal in einer Hellen Mondnacht. So lagen die langen Straßen da, so hallten die Schritte. Jetzt aber ist es 10 Uhr vormittags. — Dort ist ein Haus beschädigt, da eins bis auf die Grundmauern aus gebrannt. Der große Platz vor dem Theater ist leer. Ein Trupp deutscher Soldaten -ieht im Gleichschritt an der Seit« vorbei; ein paar Hafenarbeiter schauen stumpf zu. Dieser Gleichschritt der deutschen Sol daten' gelassen, ruhig, zermalmend. Die leiie Furcht meines Reisegenossen ist grund los. Als wir bei seinem Haus vorfahren, erscheint! sein belaischer Hausdiener und meldet, daß olles un berührt sei. Wir schreiten durch das Gebäude. Die riesigen Büroränme liegen tot da. ein magerer, zu gelaufener Hund taucht mißtrauisch hinter einem Schreibtisch auf. An der Tür des Weinkellers unten kleben Siegel: „Requisition der belgischen Militär verwaltung." Der Hausherr löst sie feierlich, schenkt jedem von uns eins zum Andenken und freut sich, daß auf diese Weise unbeabsichtigt deutsches Eigentum vor Plünderung bewahrt worden ist. Nach einer halben Stunde — weiter nach der holländischen Grenz« mit Telegrammen. Am Außen bahnhof vor der Stadt ist gerade ein Eisenbahnzug aus Rotterdam angekommen. Der lange Weg drüben schwarz von Menschen. Fast alle mit leichtem Gepäck oder ganz ohne Gepäck, so wie sie im ersten vollen Schrecken geflohen waren. Weiter! Das Auto kann nur langsam vorwärts, denn je näher die holländische Grenze kommt, desto dichter wird der dunkle Zug der Heimkehrenden. Schmale, von Pferden gezogene Karren, auf denen in einer Reihe sechs oder acht Leute sitzen, ihre Habe auf den Knien. Mütter, die ihre schlafenden, totenblassen kleinen Kinder in Schubkarren oder Kinderwagen vor sich herstoßen, manchmal zu Dreien oder Vieren verstaut. Alte Frauen, die zwischen Möbelstücken und Betten verladen worden sind. Gefährte jeglicher Art, von der zweirädrigen Eselskutsche bis zum Rollwagen und Omnibus. An der holländischen Grenze müssen wir unseren Begleitsoldaten zuriicklassen und nehmen statt seiner die Frau des Posthalters auf, eine schwere Holländerin, die nach Bergen op Zoom will. Das Grenzdorf Pütte hat große Tage. Die zurückfluten den Flüchtlinge stauen sich hier zu einer schweren zögernden Masse. Noch einmal faßt sie die Angst. Soll man den Deutschen trauen? Es wird so manches geflüstert. In einem elenden belgischen Blatt, „Journal des Röfugiös", das in Bergen op Zoom gc- Kriegswinterzeit für unsere Truppen. Don Dr. Richard Hennig. Schlimm genug hat unseren Truppen der Herbst oereits zugesetzt mit starken Regengüssen und kalten Rächten, nachdem die ersten Wochen des Feldzuges fast ununterbrochen herrliches Sommerwettcr und zur Zeit verschiedener wichtiger Entscheidungen reckst be deutende Hitze gebracht hatten, so an den Tagen von Mülhausen und Lagarde, während der Tannenberger und der ersten Lemberger Schlacht. Auf das herr liche Sommerwetter, oäs in den Aufregungen der Kriegszeit in seiner Schönheit gar nicht hinreichend gewürdigt wurde, ist dann ein nicht eben erfreulicher Herbst gefolgt, in dem die schönen, sonnigen, warmen Tage wesentilch seltener als in den meisten anderen Jahren waren, und in dem kalte Regenfälle und ge legentliche schwere Stürme (besonders am 18. und 28. September) die Oberhand hatten. Recht früh zeitig, am 13. Oktober, traten auch in Mitteleuropa und vor allem auf dem östlichen Kriegsschauplatz« di« ersten Nachtfröste auf, und wenn diese seither auch wieder geschwunden sind und milderem Wetter Platz gemacht haben, so kann ihre baldige Wiederholung und Verstärkung doch in jeder Woche erwartet werden. — Der Winter steht vor der Tür Was wird er unseren Truppen bringen? Dreimal nur sind bisher deutsche Truppen an einem Winterfeldzuge großen Stils beteiligt ge wesen, wenn man von gelegentlichen winterlichen Aktionen geringeren Umfanges, wie dem Zuge des Großen Kurfürsten über das gefrorene Frische und Kurische Hoff (Januar 1679), absieht. Es geschah dies inn Winter 1812/13 im französischen Feldzuge gegen Rußland, dann im ersten Winter der Frei heitskriege 1813/14 und im letzten Deutsch-Fran zösischen Kriege 1870/71 Ein eigenartiges Geschick hat es gefügt, daß diese genannten drei Winter durchweg ganz ungewöhnlich streng waren. Nicht nur die Empfindung der Feld.zugsteilnohmer lehrt uns dies, die sich natürlich in ihrer Beurteilung nur allzu leicht irren kann, sondern auch die uns bestech liche ZahGnstatistik der Temperaturdeobachtungen, die in einzelnen größeren Städten schon dis tief ins 18. IahrhunNi-rt zurückgehen. Die entsetzliche Kälte, die im November und Dezember 1812 in Westrußland Napoleons große Armee fast völlig aufrieb^ hat ja welthistorische Berühmtheit erlangt: es muß jedoch hinzugefügt werden, Laß diese Kälte selbst für west russische Verhältnisse qanz außergewöhnlich, ja bei- ipiellos streng war, zumal im Hinblick auf die noch sehr frühe Jahreszeit. In Berlin war der Dezember 1812 der drittkältcste Dezember, der in fast zwei hundert Jahren, seit 1719, dort beobachtet worden ist: er übertraf den wegen seiner großen Kälte berüchmt gewordenen Dezember 1879 in der Mitteltemperatur noch um volle drei Grad und wurde nur von den noch kälteren Dezembermonden 1788 und 1829 in Schatten gestellt. Ganz ähnlich war es im Winter 1813/14 während Les Feldzuges in Frankreich. Schon der Januar war ausnehmend kalt, wie er in den letzten 10 Jähren nur zweimal gewesen ist: der Februar aber, der gerade die härtesten Kämpfe brachte, zeichnete sich Lurch noch schärferen Frost aus. Auch dieser einzige, durch -ablreiche Schlachten und Ge fechte ausgezeichnete Februar der mitteleuropäischen Kriegsgeschichte war eigentümlicherweise, nach den besonders alten Berliner Temperaturbeobachtungen, der zweittältcste Februar, den Mitteleuropa in fast 200 Jahren erlebt hat. Die kältesten Februar monate der letzten 40 Jahre, 1886 und 1895, wurden von dem 1814er in der Mitteltemperatur noch um volle 2lis Grad Celsius übertroffen, und nur der Februar 1855 übertraf auch den von 1814 noch an Strenge. Auch der März 1814 war dem wegen seiner Strenge berühmten März 1888 noch um fast 1 Grad an durchschnittlichem Frost ü-berlegen. Der letzte Krieqswinter 1870,71 kam dem von 1813/14 an hartem Frost nicht gleich. Dennoch über traf auch er sonderbarerweise an Kälte sämtliche Win ter, die uns in den seither verflossenen 43 Jahren beschieden waren, nicht unbedeutend, und er war iiberhaupt der strengste Winter, der seit dem furcht- bar harten Winter 1829/30 in Mitteleuropa zu ver- zeichnen war. Der kälteste Winter der letzten 40 Jahre, 1890/91, wies eine Durchschnittstemperatur von —2,2 Grad in Berlin auf, der Winter 1870/71 hingegen eine solche von — 3,3 Grad. Besonders zur Zeit des Jahreswechsels erreichte der Frost einen sehr Hohen Grad; der Neujahrstag 1871 war der dritt kälteste Tag. der in Berlin seit über 60 Jahren vor gekommen ist. Die Wahrscheinlichkeit nun, daß der gegenwärtige Krieg mit einem ähnlich harten Winter zu rechnen haben wird, ist durchaus nicht groß. Wenn in den letzten 43 Wintern keiner so kalt war wie der Kriegs winter 1870/71, darf man die Wahrscheinlichkeit, daß der Winter 1914 15 ihm gleichkommen oder auch nur ähneln wird, ohne weiteres nur als etwa 1/43 be zeichnen, d. h sie ist ganz ausnehmend gering. Es gilt dies nicht nur für den westlichen, sondern mit einer ganz gewissen Einschränkung selbst für den öst lichen Kriegsschauplatz, wo sehr harte Fröste, min- bestens dis Neujahr, auch nicht die Regel darstellen. Der Verlauf des Sommers gibt kaum einen rech ten Anhalt, was für einen Winter man zu erwarten hat. Im allgemeinen gilt die Regel, daß auf einen heißen Sommer ein kalter Winter, auf einen mäßig warmen Sommer ein milder Winter folgt. Der vergangene Sommer 1914 nun war im größten Teil seines Verlaufs zwar sehr schön, aber doch nur kurze Zeit, vom 11. bis 22. Juli (mit Unterbrechungen) als sehr heiß zu bezeichnen, während sonst nur ein zelne Tage durch hohe Wärme hier und da bemerkbar waren. Als heiß wird man den Sommer aber kaum bezeichnen können, wohl aber als warm. Nach der Statistik wird also ein mäßig kalter Winter am watmcheinlichsten sein. Ein solcher aber muß für die im Felde stehenden Truppen am willkommensten sein, denn ein sehr milder Winter ist mit seiner dann unvermeidlichen Nässe und Feuchtigkeit kaum eine geringere Plage als sehr harter Frost, während ein leichter, trockener Frost, sei es mit, sei es ohne Schnee, decke, die unbedingt angenehmste Winterwitterung darstellt. Gegen eine geringe Kälte bei ruhiger, hei terer Luft vermag man sich verhältnismäßig leicht zu schützen, und die Annehmlichkeiten, die sie bringt, sind auf der Rast wie auf dem Marsch den durch sie verursachten Beschwerden jedenfalls erheblich über- legen. Im übrigen pflegt ja der richtige Winter in Mitteleuropa selten vor Neujahr oder allenfalls vor Mitte Dezember zu beginnen. Bis dahin sind die Befürchtungen weniger vor der Kälte zu hegen als vor starken Regenfällen und Stürmen. Möge der Herbst unser Heer zunächst vor diesen tunlichst ver» schonen — und wir müssen zufrieden sein!
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