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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 22.08.1914
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1914-08-22
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19140822016
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1914082201
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1914082201
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-08
- Tag 1914-08-22
-
Monat
1914-08
-
Jahr
1914
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Gctvalt rn der Reichstagssitzung vom 4. August uichthat anwesend sein kön nen. In diesem Schreiben sührt Herr Ricklin u. a. aus: „Tie Elsässer wünschten keinen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich, auch nicht um den Preis einer Aenderung ihrer politischen Lage." Tann fährt er fort: „Die- icnigen, die unter dem französischen Volke eine gegenteilige Ansicht verbreitet und gestützt und damit den Kricgsgedanlen in Frankreich genährt und gar grostgezvgen haben, smd Verbrecher an unserem Volk und haben sich mit dem Fluch Tausender elsässisäier Väter, Mütter und Frauen beladen, die zerrissenen Herzens ihre ^öhne und Ehegatten in den furchtbarsten aller Kriege ziehen lassen müssen." Herr Ricklin erklärt zum Schluß, daß, falls er anwesend gewesen wäre, er für alle durch die gegenwärtige Lage für nötig besundenen Vorlagen, einschließlich derjenigen, durch die die Mittel zur Bestreitung des Kriegsbedarfs be- sclmfft werden sollten, seine Stimme abgegeben l-abcn würde. Weitere Mitteilungen zu üem deutsch-englischen Tele grammwechsel. Zu dem gestern veröffentlichten Telegramm wechsel pruschen Berlin und Landen -ringt, ofsenlar vom Fürsten Lichnowsky, der in diesen Tagen mancherlei Unsreundlichteiten bat hören müssen, be einflußt. das „B. T." noch folgende Ergänzung: Sir Edward Grey. der in den Tagen bis zum Iulischluß immer neue und — die Idee der Bot- schasterkonferenz zeigt cs — nicht gerade immer sehr praktische Ideen vorbrachte, sandte am Vormittag des 1. August zu dem Fürsten Lichnowsky einen Ver trauensmann. Er bat den deutschen Botschafter durch die Persönlichkeit, am Nachmittag zu ihm zu kommen, und ließ ihm sagen, daß er hoffe, ihm Vorschläge machen zu können, die die Möglich keit böten, einer Beteiligung Englands am Kriege vorzubeugcn. Es entwickelte sich an scheinend im Anschluß hieran eine längere Unter redung und dann folgte das bekannte Telephon gespräch. Fürst Lichnowsky berichtete sofort über den gesamten Vorgang nach Berlin und begab sich am Nachmittag zu Sir Edward Grey. Der englische Minister erklärte dem Botschafter nunmehr, er lege das Hauptgewicht auf die belgische Neutralität und erörterte sodann den Gedan ken, ob nicht das deutsci-e und das französische Heer sich bewaffnet gegcnüberstchen könnten, ohne sich an zugreifen. Auf die Frage des Botschafters, ob er die Zurückhaltung Frankreichs gewähr leisten könnte, wurde von Sir Edward Grey keine genügende Auskunft erteilt. Der ganze Plan wurde dann von britischer Seite als unausführbar fallen gelassen und Fürst Lich nowsky teilte das in seinem zweiten veröffentlichten Telegramm -em Reichskanzler mit." Zürs Vaterland gefallen. Wie die „Kreuz-Ztg." seststellt, sind u. a. gefallen: Am 8. August Major und Ingenieurosfizicr vom Platze Willibald Knoch vor Lüttich, Haupt mann Walter Dimitri von Schultz, Chef einer Maschinengewehrkompanie, der älteste Sohn des Ge neralleutnants z. D. von Schultz. Am 10. d. M. Hauptmann im Iägerbataillon Max Georg Ur ff, der einzige Sohn des preußischen Forstmeisters a. D. Urfs in Klotzsche bei Dresden. Am 9. August Haupt mann und Kompaniechef Ernst Naumann aus Frankfurt a. M., beim Sturm auf Lüttich, Oberleut nant im Grenavierregiment Wichard v. Rohr, gen. v. Wahlen-Iuergaß, Majoratshcrr aus Ganzer, befangene Zranzofen auf hohenafperg. In der kleinen Festung Hohenasperg ist ein weiterer Transport von 272 französischen Kriegs gefangenen angclangt: insgesamt befinden sich jetzt 680 Franzosen auf dem Hohenasperg in Ee- fangenschaft. Gemeine verleum-ungen. Der „Brüsseler Soir" vom 18. August ver öffentlicht folgende Mitteilung in Sperrdruck: Der Untersuchungsausschuß für die Be obachtungen des Kriegsrcchts (!?) teilt nachstehende von den deutschen Truppen in Belgien begangene Handlungen mit: 1. Deutsche Soldaten haben im Verlauf von mehreren Gefechten oder nachher belgische ver wundete, entwaffnete und kampfunfähige Sol daten mißhandelt oder getötet. Die Handlungen der Art sind zahlreich und durch die genauen Aus sagen von vielen Augenzeugen festgestcllt. 2. Deutsche Soldaten haben einen belgischen Soldaten von der Carabiniers-Radjahrerabteilung nusgchängt und «-geschlachtet und einen andern Soldaten, der seinen Kameraden verband, er schossen. 8. Deutsche Soldaten haben einen Greis aus Neerhespen gehängt und lebendig verbrannt. Andere haben junge Mädchen und Kinder in Ercmael vergewaltigt. Verschiedenen Einwohnern von Gremael sind bestimmte Körperteile aus gerissen worden. -t. Die deutschen Truppen haben bei Haclcn auf die Krankenträger, die die Bei mundeten auflasen geschossen, und el>cnso auf die Krankenwagen mit dem Roten Kreuz. So viel Worte, so viel f a u st d i ck c L ii g e n. Da unsere deutschen Truppen inzwischen Brüssel besetzt haben, werden sie den unverschämten Verleumdern vom „Soir" hoffentlich recht kräftig den Mund stopfen. Zwei russische Kreuzer auf — russische Minen gelaufen! Ans Rußland ringet»offene Rrtiende dentscher Ration lität berichten, das; d e beiden » u ssifchcn Kreuzer „Petrop a »v lo »v s t" und Rjurik' vor Reval auf rn kitsche Minen gelaufen seien. Währens der „Rjurik" sofort sank sei dem anderen Kleiner ein großes Leck gerissen worden doch labe sich das Kriegsschiff noch über A asscr zu holten vrr- woch> uns liege aegrnwärtt, mit dem vordere» Teil unter Wasser. Tie Katast ophe habe sich am 8. und ». Augukt ereignet. Ter , bjurtl" ist ein von Ser Schichauwerjt erbautes Schiff. Der Sta-thauptmann von Petersburg erhängt! Petersburg, 21. August. Es geht das Se- rüchl, daß der Stadthaupt mannvon »e t e rs- burg wegen Spionage erhängt worden sei. Am 11. August wurden in Petersburg alle von dem Stadthauptmann General Wen darf unterzeich neten Verfügungen und Bekanntmachungen entfernt und mit neuen Plakaten überklebt, die von dem an diesem Lag« zu« S t a dt h« u p t m a u n ernannten Generalmajor Für st en Obolenski unter zeichnet waren. ,finsiän-ige" Leute. Der russische Generalkonsul in Berlin, Exzellenz von Hamm, trat im Juli eine Reise an, von der er nicht mehr zurückkehrte. Ihm trauern jetzt nach seine deutsche Köchin und seine Hausdame, die noch ihren Lohn zu for dern haben, ferner der Eismann und die Milch lieferanten sowie andere Lieferanten. — Uebrigens sind auch viele Japaner ohne Beglei chung ihrer Schulden aus Berlin ver schwunden. Mustuf -er polnischen National regierung. Die polnischen Blätter veröffentlichen folgenden Aufruf der polnischen Nationalregierung: Polnische Bürger! Wir machen Euch folgenden Aufruf der Nationalregierung kund: In War schau hat sich die Nationalregierung konstituiert. Es ist Pflicht aller Polen, sich soli darisch dieser Amtsmacht zu unterwerfen. Zum Kommandanten der militärischen Streit kräfte wurde der Bürger Josef Piloutzky er nannt, dessen Anordnungen alle Bürger unbedingt Gehorsam schuldig sind. Warschau, 3. August 1914. Die Nationalregierung. /legppten als englische Provinz. Wien, 21. August. Die „Politische Korre spondenz" meldet: Aegypten wird seit Ausbruch des Krieges vollständig als englische Pro vinz behandelt. Die Verwaltung des Landes be findet sich in den Händen der britischen Militär behörden. Ein englisches Dekret an die ägyptische Regierung hat verfügt, daß das ganze ägyptische Er, biet für die Kriegszwecke Englands benutzt werden könne. Englan-s schwere Schul-. Wien, 21. August. Das „Fremdenblatt" schreibt zu dem Ultimatum Japans: „Japan ist in die Reihe der Gegner Deutschlands getreten. Damit vollzog sich ein Ereignis, das in Zukunft für E noland weit gefährlicher werden wird als gegenwärtig für Deutschland. Bisher war es die weine Rasse, die in Asien den Gang der Ereignisse bestimmt hat. Jetzt ist es England, das selbst mehr al« 300 Millionen asiatischer Untertanen besitzend, dein ehrgeizig st en und kriegstüchtig st en asiatischen Volke Gelegenheit gibt, in einem rein europäischen Konflikt eine Rolle zu spielen. England stärkt die Position Japans in Ostasien, verkennt die eigenen wichtigsten Interessen und legt, um leine momentane Rachsucht zu befrie digen, den Grund zu zukünftigen schweren Sorgen". Konzentrationslager zu — Erziehungs zwecken. Die „Schlesische Ztg." empfiehlt, Franzosen und Russen möglichst zusammenzu sperren. Ein Konzentrationslager für diese Bundesgenossen, die voneinander bis jetzt nur aus Schilderungen ihrer beiderseitigen Presse wißen, würde erzieherisch auf beide wirken. Die Brüder würden sich kennen, aber schwerlich^ lieben lernest. wettere Mel-ungen. ? . Aus Wien wird gemeldet: Die in München wohnhaften ehemaligen Erzherzoge LeopoldFerdi- nand und Karl Ferdinand jetzt Leopold Wölf ling und Kart Burg haben sich in München als Kriegsfreiwillige gemeldet. w Aus Hamburg wird gemeldet: An dem P o l iz c l h i l fs d i e n st, der von den Hamburger Kris.zervercinen und Schützengesellschaften organi siert wurde, werden sich auch die sozialdemo kratischen Gewerkschaften und Vereine beteiligen. * Unter den in Deutschland von den Be hörden zurückbehaltenen russischen Unter, tanen befindet sich auch der Redakteur des russischen Regierungsblattes, Fürst S. P. Urussow, der sich zur Zeit des Kriegsausbruches in einem deutschen Kurort aufhielt. Deutsche Kriegsbriefe. (Zur Veröffentlichung zugelaßen, Berlin, den 20. Aug. 1914, Eeneralstab des Feldheeres^ Von Paul Schwede«. L. u. ll. Berlin, 20. August (Unberecht. Nachdr. verb i 1. Kaum zwei Monate ist er her. Da wanderten wir durch den schönen Kapellenkranz der Westminster- Abtei in London, standen lange sinnend im wge- nannten Dichterwtnkel der Kirche an Charles Dickens Grabnial. dessen „Ouver Twist" ein Stück eigensten Jugenderledens wideripiegelt, und legten ein paar Blumen an dem Epitaphium unteres Landsmann» Jo.ann Friedrich Händel aus Halle an der Saale nieder, dessen „Largo" in die,en Tagen bei dem Studium der ersten Verlust! »ten schmerzlich unsere Seelen durchrauscht. Dann führte man uns an Newtons und Darwins Grabmäler vorüber in die düsteren Gewölbe unter der Kirche, wo der Sieger von Traialgar, Admiral Nelson, schlummert und fast unmittelbar daneben eine schön ausgeführre Gedenttafe» meine Aufmerksamkeit er regte. Denn sie ist dem Gedächtnis des englischen Kriegsberichterstatters Archibatd Fordes < «weiht, der 1870/71 als Korrespondent der „Daity News" rm deutschen Hauptquartier weilte und dann in bunter Reuie in Indien, Spanien, Rußland, Afghanistan und Südafrika als Kriegsberichterstatter tätig war. Wie lern lag doch bei der Betrachtung dieser Ehren tafel meinem Stnn der Gedanie, da» jemals die Aufgaben eines Knegsoerichterstcuters auch an mich herantreten könnten! Nun aber ist es in ra,cher Folge hinunter nach Semlin ins österreichrsch- ungarische Haupiquartter gegangen uno innerhalb weniger Stunden wird uns der Zug aus der Reichs- Hauptstadt hinaus nach unsren elgenen Schlacht-' gefilden im Westen tragen, wo ganz andere Kämpfe bevorslehen als sie Archibald Forbes im' fernen Indien, Afghanistan und LÜdairika erlebt hat.' Old England weiß, weshalb es dem Staube' seines grogen Journalisten einen Ehrenplatz in seiner uralten Krönungstirche eingeräumt hat. Ueber den Trümmerfeldern von Indien, Afghanistan und Südafrika ist jein Stern als weltbeherrschende Kolonialmacht aufgegangen und die Kriegsgeschichte jener Zeilen ist zualeich die Geschichte des englischen Imperialismus. Aber England hat den Eeichicht- schrelber jener Tage gezwungen, durch Ströme un schuldig vergossenen Blutes wilder, halbwilder oder doch mit den modernen Kriegsmitteln nur schlecht vertrauter Völkerschaften zu waten, während die jenigen, die heute als Kriegsberichterstatter ins deutsche Hauptquartier abgehen, den ehrenhaften Kampf einer mit allen Mitteln der Lüge und Ver leumdung von vier Selten zugleich angegriffenen Nation zu schildern haben werden, einen Kampf, der schon jetzt erkennen läßt, daß die Instinkte jener Völterichaflen, die einst England in die Knie zwang zum großen Teil auf unsere Gegner übergega, gen sind. Nun, wir hoffen die en Kampf trotzdem dulchzufecbten, und sein Resultat mit gol denen Lettern für künftige Zeiten niederschreiben zu können, wünscht der hinausziehende deutsche Knegs- berichteistatter in diesem Augenblick von ganzem' Heinen. Am Königsplatz zu Berlin steht ein alter, roter Backsteinbau, den abscheulich zu nennen nur die Rück sicht darauf verbietet, daß in ihm augenblicklich die Fäden des Wellkrieges zujammenlaufen, den Deutsch land gegen einen fchier übermächtigen Feind aus zufechten hat. Es ist das Gebäude des Großen Generalstabes der Armee, und »um ersten Male erschloßen sich die heiligen Hallen auch dem Zeitungsschreiber, der sich dort seine Informationen für den bevorstehenden Abmarsch zu dem Großen Hauptauartier holen mutz. Nicht umsonst ist man auf dem Wege zu diesem Gebäude an dem Denkmal des großen Schweigers vorübergekommen, der einst in währen- -er Mobilmachung -urch vier Läa-er. Von Emil Schulze-Leipzig. Einige Meilen westwärts von der schweizerisch französischen Grenze an der Straße nach Besaneon, dort wo der Doubs langsam ansängt sich zum See zu erweitern, baut hinterm einsamen Gasthaus an -er Straße eine Seiltänzergesellschast ihre Zelte aus. Für den Nachmittag ist Galavorstellung angejagt, und aus dem nahen Billers de Lac und aus anderen Ortschaften ziehen sonntäglich geputzt« Torsschöne und Kinder zum selten gebotenen Su»auspiel. Wir trinken roten Wein aus verstaubten und verrußten Flaschen, man bringt uns gern vom Besten, und der behäbige Wirt sieht mit befriedigtem Schmunzeln, wie uns Fremden das edelste Gewächs seiner Heimat schmeckt. Da ertönen vom Vevgeshange drüben Trommel schlag und Trompctentöne. „Das bedeutet Krieg!", so flüstert eins dem anderen zu. Man sicht uns von der Seite an, und wir ziehen s vor, uns aus dem Staube zu machen und sobald wie möglich die Grenze zu erreichen. Wenn wir geahnt hätten, daß von der den Deutschen in Frankreich gestellten 24stündigcn Frist schon die große Hälfte vergangen war! Glück licherweise erfuhr die friedliche Bevölkerung erst durch den Mobilmachungslärm, wie es in der Welt aussah! Ein jüdischer Schächter nahm uns für Geld und gute Worte mit aus seinen Wagen und brachte uns gerädert in die Nähe der Schweizer Grenze zum Prä du Lac am sog. Lac des Vrenets, den der Doubs oberhalb des Falles bildet. Obgleich auch von der Schweizer Seite her aus den Dörfern der Lärm der Trommeln und Trompeten zum Auf gebot des Schweizer Landsturmes herüberhallt, können wir den Ernst der Lage noch nicht recht be greifen und beschließen in fast sträflicher Sorglosig keit eine Bootsfahrt zu dem wohl nur wcncy be kannten, in wasserreichen Jahren aber herrlichen Fall des Doubs. Nach kurzem Handeln mit der Bootsfrau, einer würdigen aber zungenfertigen Matrone, an die sich etn -jähriger Enkelknabe ängst lich schmiegt, fahren wir in di« Herrlichkeit hinein, zwischen steilen Felswänden hin, die uns immer mehr und mehr an die heimatliche Sächsische Schweiz erinnern. Der Bootsfrau sind wir zu schweigsam, sie beginnt vom Krieg zu schwatzen, und als ich ihr im Laufe des Gesprächs beiläufig bemerke, daß ich Deutscher bin, rückt das Kind ängstlich zu ihr hin und fragt: „Großmutter, wo hat der sein Gewehr?" Ich suche den Knaben zu beruhigen und sage, daß b«; uns auch nur Soldaten und Gendarmen Ge wehre bei sich trcwen, wir Bürger aber nicht, da ruft er mir „Wohl, in jeder Tasche!" Nun fange ich an meine Taschen zu leeren. Ich zeige Portemonnaie, Notizbuch, Taschentuch und end lich auch ein Stück Schokolade. Nach einem er mutigenden Blick der Großmutter greift er zu. „Siehst du, mein Kind," sage ich, „so sind die Deut- scl>cn!" und glaube wenigstens einen der jungen Chauvinisten bekehrt zu haben, da rückt er zur Groß mutter hin und flüstert ihr ins Ohr: „Das ist kein Deutscher!" Auf den Bänken vorm Hotel de la Chutc sitzen französische Grenzwächter mit aufgepflanztem Seiten gewehr. Sie lassen uns ungehindert zum Wasserfall gehen und aus die Schweizer Seite zum Schweizer Hotel hinübcrsahrcn. Da herrschen Schrecken und Aufregung. Dem Wirte ist telephonisch mitgeteilt worden, daß womöglich noch am selben Tage Ein quartierung kommt. Schweizer Landsturm, der die Grenze schützen soll. Wir können die bleiche Wirtin kaum noch bewegen, uns die oiclgcrühmtcn Felchen, die Forellen des Doubs, zurechtzumachen, die Kellnerin br.ngt mit zitternden Händen den Hellen „Neuchäteler" und kann cs nicht fassen, daß wir vor den starrenden Bajonetten da drüben noch ruhig essen und trinken können. In Drenchs ist die Bevölke rung genau so aufgeregt. An der Bahnlinie nach Locle steht schon militärische Bewachung, und der Straßentunncl durch den Col des Nochcs, das Ein fahrtstor von Frankreich nach der Schweiz, soll in die Luft gesprengt werden, wenn sranzösische Truppen nahen sollten. Tic A n g st vor den Franzosen ist cs, die hier die Bevölkerung so aufrcgt. Noch lebt im Gedächtnis der Aelteren die Zeit, in der die Bourbakischc Armee, wenn auch waffenlos, hier wie eine Räubcrhorde hauste. Das will man nicht wie der erleben. Und doch mußten wir, namentlich aus dem Munde der Arbeitcrbcvölkcrung, auch viele deutschfeindliche Aeußerungen hören. In Chaux-de-Fonds erfahren wir, daß Deutschland bereits mobil gemacht habe, und daß keine deutsche Bahn mehr Zivilisten befördere. Wir müßen den Worten des Schalterbeamten glauben, wenn auch die Zeitungen nur von einer Grenzsperre bei Basel und Konstanz berichten, und entschließen uns, durch die Schweiz und über Oester reich nachderHeimat zu reisen. Das war ein« interessante Fahrt mit dem Schweizer Landsturm. Auf jeder Station stiegen sie ein, Männer bis zum 60. Jahre, die Uniform im Koffer oder im Bündel verpackt, das Gewehr unterm Arm! Wir können uns kaum eines Lächelns erwehren, als ein biederer Waadtländer beim Aufenthalt auf «iner Station die Fahne als Handgepäck aufgibt! Aus aller Reden aber klingt die Angst vor den Franzosen, und je mehr wir in die dcutschsprcchenden Gebiete kommen, die Angst vor einer Unterbindung der Lebensmittclzusuhr. Der Ansturm auf di« Läden ist in den Schweizer Städten geradezu leben». gefährlich gewesen. Aus den Bädern und Luftkur orten kommende Reisende erzählten, daß sie von der Bevölkerung und von ihren Wirtsleuten direkt auf gefordert wurden, abzureisen, weil jeder Fremde Lebensmittel verzehre, die man in der Not für sich brauche. — Die Berner Ausstellung war wie aus gestorben, am Schweizerhos-Kai in Luzern prome nierten nicht zehn Menschen, die Hotels leer. In einer Bierstube sitzen beim Abendschoppen politisie rend Einheimische in Zivil und Landsturmtracht. Da zieht ein vierschrötiger Schweizer die Zeitung aus der Tasche uno liest — buchstabiert — die Ansprache unseres Kaisers. Lautlos hören es die anderen, und dann zieht einer nach dem andern das Taschentuch hervor und wischt sich die Tränen aus dem Auge. „Deutschland wird uns nicht verlassen!" Das ist die Hoffnung der deutschen Schweizer. Noch ein Zug wird bis zur österreichischen Grenze abgelaßen, dann ist der Verkehr für Zivilisten gesperrt. Weinende Frauen, deren Männer eingezogen sind, blicken weh mütig über die Seen zu den grünen Matten und den schneebedeckten Bergriesen hinauf. „Wär das zu er tragen, wenn man sein schönes Vaterland in Feindes händen wüßte?" So fragt mit Tränen in -en Augen eine junge Frau vom Fuß des Mythen und läßt nur ahnen, mit welch glühender Liebe das Schweizer Volk an seinen Bergen hängt. In Buchs wird's lebhafter. Aus tausend jungen Kehlen ertönt's: „Gott erhalte Franz den Kaiser!" „Nieder mit Serbien!" „Hoch Oesterreich!" Reser visten, die aus der Schweiz zurückgerufen wurden, harren hier der Beförderung in ihre Heimat — fast alle in sehr feucht-fröhlicher Stimmung. Zwei Züge sind im Nu gestopft voll. Wir sitzen 12 Mann in einem Abteil 3. Klaße, auf den Plattformen, in den Gängen stehen lärmende Reservisten. Dor dem Zuge läuft weinend eine ältere Dame hin und her und verlangt nach einem Platz in 1. Klaße. Alles be setzt! Wir nehmen sie schließlich in unser Abteil und suchen sie auf dem Eckplatz zu schützen vor den an getrunkenen Reservisten. Die Dame ist eine ungarische Baronin, die ihre zwei zu den Fahnen gerufenen Söhne noch einmal sehen will. In Feldkirch müssen wir heraus. Wir kommen mit einem Trupp kroatischer Auswanderer uisammen. Ihr Führer er zählt uns in englischer Sprache, daß sie Fahrkarten über Le Havre nach Amerika haben, m Basel aber nicht über die Grenze gelaßen worden seien. Sie geraten in Streit miteinander, ziehen die MesserI Da sind wir glücklicherweise in Bludenz, und auf unsere Bitte räumen di« Militärposten den Wagen, um die sauberen kroatischen Brüder «iner genauen Kontrolle zu unterziehen. Ihre Plätze nehmen einberusenc Arbeiter aus den Vorarlberger Fabrikorten ein, Landsturmmänncr bis zu 42 Jahren, die fluchend sich hereindrängcn, nicht mehr stehen können und bald im Wagen durch- und auseinander liegen. Mein Nachbar, ein einberufener Landwehr offizier, greift mir beruhigend auf die Schulter. „Warten Sie, bis sich die Leute ausgetobt haben! Bedenken Sie, es sind Arbeiter, plötzlich aus ihrem Beruf herausgerißen, Männer, die Frauen und Kin der verlassen mußten, wir wollen uns ihrer an nehmen!" Und nun suchte er mit unermüdlicher Ge duld einen nach dem andern mit freundlichen, ruhigen Worten, mit Zigaretten, einem Trunk aus der Feld flasche, zur Ruhe zu bringen, und als dann beim Anblick österreichischen Militärs auf der nächsten Sta tion einer wie der andere in die Nationalhymne ein stimmte und den rauhen Kehlen Worte entstiegen, wie: „Unser n alten Kaiser lassen wir nichl im Stich! Das gibt's nickt!", da mußte ich bangen Herzens der Heimat gedenken. Wie werden sich unsere Arbeiter halten? — Wir bitten's ihnen heute tausendfach ab, daß wir nur einen Augen blick an hrcr Treue zweifelten. Innerhalb 24 Stun den mußte in Oesterreich der gesamte Landsturm bis zum 42. Jahre einrücken. Ueberm Arlberg kamen die Tiroler dazu, sehnige, feste Burschen, meist „Kaiser jäger". Und nun sehen wir auch die er st en deutschen Reservisten. Ueber den Brenner kommen sie aus Italien, von Genua — dort sollen von einem Lloyddampfer allein gegen 200 Mann abberufen worden sein —, aus Nizza und anderen französischen Ercnzorten kommen sie, zum großen Test solche, die sich freiwillig stellen. Alle sind des Lobes voll, wie freundlich die österreichische Bevölkerung an den Bahnstrecken sie mit Speis« und Trank versorgt hat. Um ihretwillen müssen wir Zivilisten mehrmals aus dem Zuge heraus und auf den näck-sten warten. Wenn es auch 48 Stunden dauert, bis wir nach Leipzig kommen, das Militär hat den Vorrang. Und wie fchen unsere Einrückendcn aus. Gesunde, kräftige Gestalten, munter und lustig, aber keiner betrunken, den weinenden Frauen und Mädch:n Bahndamm draußen tröstende Worte zurufend. Die Bahnlinien sind in Bayern von Mitgliedern der Feuerwehr und der Schützenvereine bewacht. Bi weit über München her scheint freilich die Bevölke rung nach dem Bierverbot nicht an Erfrischungen gedacht zu haben, überall mußten wir die Bahn- hossvorstände daran erinnern. Von Weiden an sahen wir „Rotes Kreuz" und Pfadfinder in Tätigkeit. Auf «iner sächsischen Station war längerer Auf- enthalt. Ein Offizier — in Generalstabsuniform — geht auf dem Perron auf und ab. Da tritt ein Unteroffizier vom Bahnhofsdienst auf ihn zu und fordert höflich, aber bestimmt seinen Paß. Es ent- spinnt sich ein kurzer Wortwechsel, die Posten führen den Offizier ab. Ob ein Mißverständnis vozlag oder nicht, wir konnten es nicht crsabrcn: jedeniolls aber freute sich jedermann über die Wachsamkeit und das schneidig« Vorgehen unseres Mflitars. und wir fuhren mit dem erhebenden Gefühle weiter: „Lieb Vaterland, tamist ruhig sein!"
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