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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 11.09.1914
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1914-09-11
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19140911025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1914091102
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1914091102
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-09
- Tag 1914-09-11
-
Monat
1914-09
-
Jahr
1914
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Leue 2. Nr. 4SS. Nvenü»ttuvssve Leipziger Tageblatt. /reUav. 11. Septemder 1914. schäft wurde vorgestern vom Bezirkskommando wegen Verkaufs von minderwertigen Waren geschlossen. Vie Deutschen un- Gefterrelcher la -en Gefangenenlagern Zrankrelchs. Unser früherer Pariser I-.-Mitarbeiter schreibt uns unterm 8. September: Biele Familien in Deutschland und Oesterreich- Ungarn befinden sich in Sorge, da sie über den Ver bleib von Angehörigen in Frankreich keine Nachricht erhalten können. Durch die Vermittlung der Diplo matie neutraler Staaten ist nur in ganz seltenen Fäl len eine Auskunft zu erzielen gewesen. Die Ge suche sind zwar der Negierung in Paris übermittelt worden, diese versprach auch Nachforschungen, zeigte dann aber keine Eile, deren Ergebnisse wciterzulei- ten. Es hieß anfänglich, das; allen, die abzureisen wünschten, kein Hindernis bereitet würde. Man hat auch viele abgeschoben oder auf eigene Kosten fahren lassen, wenn sie sich nach Spanien begeben wollten. Damit wurden unnütze Esser beseitigt und den feind lichen Heeren keine Soldaten zugesandt; denn es be stand die begründete Hoffnung, das; die Leute nicht über Spanien hinauskämen. Schon in Friedenszcit wohnten wir einer gesell schaftlich» Unterhaltung in Paris bei, in der ein früherer Gouverneur von Paris lachend sagte: „Was wir im Kriegsfall mit den vielen Deutschen be ginnen, die in Frankreich wohnen? Das ist doch sehr einfach: sie werden alle eingespcrrt, und so fangen wir das erste feindliche Armeekorps!" Kein Zweifel, daß der Plan von Sammellagern in der Nähe des Atlantischen Ozeans schon seit einer Neihe von Fahren bestand. England hat den Gedanken so genial gefunden, dasz es, allem Lcuterccht zum Trotz, sämtliche noch dienstfähigen Deutschen selbst von den neutralen Schissen herunterholtc. Ohne Uebertrei- bung darf man sagen, dasz auf diese Weise mehr als hunderttausend Militärpflichtige ferngchalten wur den — glücklicherweise fehlt es darum Deutschland nicht an Soldaten! Die Gefangenen, die es macht, müssen sich nach ehrlichem Kriegsrecht ergeben haben, bedeuten einen wabrcn Erfolg unserer Waffen. Wenn man sich je wieder im Haag auf Friedens- tongrcssen begegnen wird, musz man Frankreich und England klarinachen, das; ihr Verfahren eine Ver höhnung des Völkerrechts war, dasz Unschuldige und Wehrlose cinzuspcrrcn das Gegenteil von Ritterlich keit und Tapferkeit ist. Wir haben einen ausführlicheren Bericht über das größte diesere Gesangenlager bei Angers erhalten, zurückzusühren aus den Gerichts schreiber des Appellationshofs dieser Stadt, der die Listen der EingcUefcrten aufzustellcn hatte, einen Bericht, der über das Leben und die Sichrheit der Internierten beruhigende Einzelheiten gibt, aber über die Identität der Gefangenen vollkommenes Stillschweigen bewahrt. Dieser Beamte schrieb einem unserer in Paris verbliebenen Kollegen: „Die Fremden sind in einem offenen Lager bei Aorillö, 7 Kilometer von Angers, untergcbracht. Erst kamen dutzendweise Italiener, Belgier, Russen und Oester reicher an, die versorgt werden mussten; man brachte sie in bequemeren Lokalen unter, so im früheren Seminar, im „Tivoli" und im Tanzsaal „La Cha- louere". Später wurden auch die Ocstcrrcicher sowie die zahlreich nachkommcnden Deutschen nach AvrillS befördert. Das Lager befindet sich auf dem Wege nach Rennes auf einer Anhöhe, trocken und luftig, ' und besteht aus etwa .'>0 Zelten aus Segeltuch, die sonst Flugzeuge auf dem Flugfclde von Angers bargen. Man hat nur Familien beisammengelassen, im übrigen Männer und Frauen gesondert. Sie hatten selbst einen Zcltchef, ihre Köche und Köchin nen zu bestimmen; 11 Küchen wurden hergerichtet. Täglich findet eine Verteilung von Fleisch, Gemüse und Brot unter die Zcltchcfs statt, überwacht vom Offizier, der das Lager befehligt. Den Gefangenen werden so zwei warme Mahlzeiten bereitet: für Kinder, Frauen und Kränkliche gibt es Milch und Fleischbrühe. Damen vom Noten Kreuz warten in einem Krankcnzelt und veranlassen die Uebcrführung nach dem Spital von Angers, wenn sich ernster« Fälle ereignen sollten: der allgemeine Gesundheitszustand ist aber sehr gut. Die Gefangenen, unter denen sich viele befinden, die schon 20 und "0 Jahre in Frank reich weilen, dürfen sich beschäftigen wie sie wollen — ihr einziges Leiden ist aber die Langeweile, da sie sich nicht aus dem Lager entfernen dürfen und ihre Gesuche um Arbeit abgelehnt werden muhten, weil vum»vum - Geschosse. <L II. Im ganzen Lande hat die Nachricht, dah die Engländer und Franzosen Dum-Dum-Geschosse benutzen, stürmische Entrüstung hervorgerufcn. Ein Schrei des Entsetzens geht durch das ganze Volk, dah unsere Gegner unier Verletzung aller völkerrechtlichen Bestimmungen besondere Geschosse verwenden, um die durch sie verursachten Verletzungen möglichst gefähr lich und todbringend zu gestalten. Der Deutsch« Kaiser hat sich in einer Erklärung an den Präsidenten der Vereinigten Staaten gewendet und d'.e'cs Ver fahren vor der ganzen Welt oebrandmarkt. Die amt lichen Untersuchungen und Veröffentlichungen lassen keinen Zweifel darüber, daß die Verwendung ter Dum Dum-Geschoß« von der feindlichen Hecresle': .u'>g angeordnet und im Frieden vorbereitet ist. Dagegen kommen auch alle Ableu-nrngsversnche nn'e.er G g- ner nicht aus. Es sind bet den Gefallenen und Ge fangenen die dienstlich verteilten Patronenpakeic aus- acfunden worden, die solche Ge chosse c.sthielten. In Longwy ist bekanntlich auch eine Maschine erbeutet worden, die zur Herstellung der Dum-Dum-Geschosse dient. Nach allen diesen, amtlich festacstcll.en und einwandfrei beglaubigten Tatsachen steht cs fest, daß die Franzosen und Engländer vor dem Kriege Dum- Dum Geschosse in groszem Umfange auf ma chin^llem Wege hergestellt und di« mit solchen Geschossen versehenen Patronen an die Truppen ausgogcben haben. Dio Dum-Dum-Geschosse entstanden in den briti chen Kolonialkriegen, weil die kleinkalibrigen Geschosse die anstürmenden wilden Völker nicht sofort kampfunfähig machten und niedcrwarfen. Da man nicht sofort das Gewehr ändern und ein größeres, wirkungsvolleres Kaliber einsühren konnte, so wur den die Geschosse verändert, um ihre Wirkung zu steigern. Als im T chitral-Feldzug gegen die wilden Kcötrgsstämme südlich dos Pamir dieser Mangel be sonders zutage trat, fertigte die Staats fabrik Dum Dum bei Kalkutta diese neuen Geschosse, die daher ihren Namen tragen. Ursprünglich waren cs Halbmantelgeschosfe mit geschlitztem Mantel. Die Form wurde mehrfach verändert, zuletzt wurden sie als Hohlspitzgoschosse angefertigt. Aber auch schon Einkerbungen und Riffe in den Mantel sowie Ab flachen der Geschofzspitze genügen, um eine ver heerende Wirkung heroörzubrinaen. Die neuen Spitzgeschosfe, mit denen die großen Schuszlcistungen der modernen Handfeuer- wafzen erzielt weiden, bestehen aus einem Kern von Vle:, der mit einem Stahl- oder Nickelmantcl um geben ist. Die Verwendung ron Blei ist notwendig, weil es ein sehr schweres Metall ist und deshalb den Luftwiderstand gut überwindet. Der Stahlmantel wird umgelegt, um die Härte zu steigern und die Durchschlagskraft zu erhöhen. Reine Bleige chosse würden vor widerstandsfähigen Zielen einfach zer splittern oder sich platt drücken, obne diese zu durch schlagen. Mit Hilfe des Stahlmantels werden selbst Schutzschilde, Mauern uiw. durchschlagen. Trifft ein solches modernes Ge chos? ouf einen mensch! chen Kör per, so durchschlagt es ihn in der Regel glatt. Die durch sie verursachten Wunden sind im allgemeinen gutartig und heilen gut und schnell. Es kommt namentlich bei den kleinen Kalibern vor, daß sich die Wunde schnell schließt und daß der Getroffene nichr sofort niederstürzt. Entfernt man einen Teil des Stahlmantels, na- menrchch an der Spitze, so durchschlägt das Geschoß beim Austreffen nicht mehr glatt den Körper, sondern der Bleikörper tritt aus der Oesfnung heraus, zer reißt den ganzen Mantel und gibt eine ausgebreitete, zerrissene und zerfetzte Wunde. Eine ähnliche Wir kung wird erzielt, wenn der Stahlmantel mit Ein kerbungen und Rissen versehen wird. Auch dann wird der Mantel beim Durchschlagen des men chlichen Körpers, namentlich wenn er auf Knochen trifft, aus- cinandergerissen, er zersplittert und der Bleikern wird ganz deformiert. Noch schlimmer ist die Wirkung, wenn die Spitze nicht nur abgeplattet, sondern gle ch- ,zeitig ausgehöhlt ist. Dadurch wird die Deformation erhöht und gleichzeitig eine explosionsartige Wirkung herbe'geführt. In der von amtlicher militärischer Seite zur Ver fügung gestellten photographischen Abbildung sind die verschiedenen Formen angegeben, deren sich unsere Gegner bedient haben, um die Wirkung der Dum- Dum-Geschosse zu erzielen. Das beigefügte Paket läßt keinen Zweifel an der offiziellen Herkunft. ohnehin schon französische Arbeitskräfte unverwandt bleiben und diesen noch eine Konkurrenz erwachsen würde. Die zuerst eingelieferten Deutschen und Ocsterreicher kamen aus den östlichen Grenzgebieten, aus Nancy, Longwy, Reims, Chalons — meist Mechaniker und Handwerker; dann die Pariser, darunter junge Maler und Bildhauer, schließlich manche der deutschen Ansiedler van Argvntcuil und Montmorency. Die Tag und Nacht ausgcübt« mili tärische Bewachung ist nicht zu streng, da die Inter nierten keine Unzufriedenheit mit ihrem Lose zeigen. Auf dem Wege nach Ponts-de-Ee wurden in einer ehemaligen Schule von Mangazon. mitten in einem Park, viele deutsche und österreichische Frauen mit ihren Kindern einlogiert: sic haben cs dort besser als im Zeltlager. Ein kleinerer Teil Frauen, meist frühere Lehrerinnen und Erzieherinnen, die man aus irgendeinem Grunde für verdächtiger hält und strenger von der Außenwelt abschneidcn will, ver brachte man in die Strafanstalt „Le Bon Pasteur", eine Art Hamburger „Graues Haus". Dieser Brief, der den Nachweis führen will, daß die „Internierten" sehr menschlich behandelt werden, sagt nicht, ob es sich hier um Leute handelt, die zum Unterhalt beitragen können. Jedenfalls wird es nicht überall so schön zngehen, wo man die Tau sende von deutschen Gefangenen eingepfercht hat. kriegsbil-er aus -em Osten. Die Fahrt zum Schlachtfeld bei Tannenberg. Unser nach dem Osten entsandter, vom Großen Eeneralstab genehmigter Kriegsberichterstat ter, Herr Rudolf von Koschützki, schickt uns aus dem Hauptquartier im Osten folgen den Bericht vom 6. September 191-1: Aus dem Hauptquartier im Osten, 6. September. Heute Sonntag morgen um 1/28 fahren wir nach dem Schlachtfeld hinaus. Ein paar weiße Wölkchen schwammen am blanken Frühhcrbsthimmel. Nur dann und wann ein sonntäglich angetaner Landmann, der zur Stadt pilgerte, oder ein paar fuchsrote Rehe, die aus dem Unterholz nach uns äugten. Die Luft still und frisch, ein köstlicher Morgen. Tiefer Friede, wer es nicht wußte, mit wie breiter Sense der Tod hier gemäht hat! Die Gegend ist stark gewellt, der Wald voll Schluchten und Höhen. Links am Wege liegt ein halber Munitionswagen, eine Strecke weiter ein ganzer, umgcstürzt im Graben, die Tür aufgesprengt oder offen gelaßen in der Eile. Man sieht die Artillcriegcschosse in den dreiteiligen Weidcnkörben. Die Böschungen hinauf liegen Zeug fetzen. Bunte Taschentücher, Halstücher, Unterhosen, zerrißene blutige Hemd-.n, im Todeekampf vom Leibe geriffen. Eine Strecke wett ist der Sommerweg völlig zugedeckt von solchen Fetzen. Auch Zeitstücke und russische Tornister aus graugrünem Segeltuch liegen herum, zerbrochene Gewehre, ein zertrümmerter Kutschwagen. Rechts au» dem Walde kommt jetzt ein starker Leichengeruck herüber, von toten Pferden. Wo der Wald sich lichtet, auf der Höhe, wurde eine Mahlzeit unterbrochen. Eine angebratene Eans liegt im Graben, Butterbrotpapiere und hoch an der Böschung steht ein Teller. Ich gehe hin. Es ist noch Suppe darin, ein Butterbrot liegt darauf und eine Rotwein flasche steht daneben. Vielleicht der Hauptmann, der sein Mittagbrot hier im Stich laßen mußte, um vor oder zurück zu eilen — zum Sieg, in die Gefangen schaft, in den Tod. Und wenn das letzte — wo liegt er? Auf den einfachen Holzkreuzchen, aus Kiefern stämmchen rasch zusammengebunden, steht nur: 18 Mann Inf.-Regt. Nr. .. . Rechts von dem Dorfe liegt eine Reihe solcher frischer Soldatengräber. In der Sonne funkelnde Helme liegen darauf, grüne Reiser, ein paar Blumen. In dem ersten Grab dieser Reihe liegen fünf Offiziere eines Infanterieregiments. Eine herrliche Ruhestätte, hoch über dem See, der sich weit hin streckt mit seinen schilfigen Buchten und der be waldeten Insel. Hier muß der Kampf heiß getobt haben. Die Straßenbäume sind ganz übersät von Flinten kugeln. Auch die Dächer am Anfang des Dorfes. Ein Auto konnte hier nicht weiter. Es liegt halb im Graben. Die Hinterreifen sind heruntergenommen. Sonst sieht man keine Beschädigung daran. Jen seits des Dorfes auf einem Stoppel liegt ein ganzer Berg russischer Kartuschen, abgejchossene Messing hülsen von Artillerie-Geschoßen, aber alle sauber in di« dreiteiligen Körbe verpackt. Nicht weit davon eine russische Feldflasche aus Holz von der Form eines flachen Forellentönnchens. Ein am Knöchel abgeschnittener Stiefel, zerschoßene Helme von den Unser». Sie zeigen ja fast nur den Kopf beim Schießen. An einer Stelle lagen Heringe verstreut, und oft sieht man neben ein«m Strauch Gänse federn. Aber noch schwimmt eine ganze Herde der wehrhaften Martinsvögel auf dem Dorfteich und läßt ihren Kriegs- und Wanderruf erschallen. Die Leute aus diesem Dorf sind alle geflohen beim Anmarsch der Rußen; auch der Lehrer. Der hat seine Kuh in der Eile zurückgelassen. Die Kuh aber ist den Rußen, die zwei Tage hier lagen, durch gebrannt und hat sich bei der Rückkehr ihres Herrn auch wieder eingefunden. Eine Wunde hat sie zwar abbekommen, grast aber ruhig im Garten und gibt Milch. Ein prächtiges schwarzbuntes Tier. Zehn Schritt vor dem Hause dieses Lehrers hat eine Granate eingejchlagen. Ein Sprengstück ist ins Zimmer geflogen und hat ein Loch in die Wand geschlagen. Dann aber hat der Luftdruck über die Hälfte der Dachziegel aufgerichtet, wie man die Strohdächer manchmal vom Sturm zerzaust sieht. Ich konnte mir die merkwürdige Erscheinung erst gar nicht erklären, bis ich das meterbreite Loch im Gartenbeet entdeckte. Mehrere Häuser sind hier verbrannt. Ein dicker Schornstein ragt aus seiner kleinen Brandstätte. Darangelehnt steht der grüne Kachelofen noch unversehrt; zur Seite eine ausge- glühtc Nähmaschine, und in der Fensteröffnung ein paar Blumentöpfe. Es ist, als wenn man in den kleinen freundlich-fleißigen Haushalt noch durch den Schutt hineinblicken könnte. Es war das Häuschen eines Arbeiters. Am Zaun der kleinen Postanstalt steht ein magerer, weißbärtiger Mann. Der blickt noch ganz verstört aus seinen hellblauen Augen. „Um halb vier, da steh' ich hier noch ganz ruhig am Zaun", sagt er. „Da kommt ein« preußische Patrouille auf Rädern die Dorfstraße daher, legt sich dort drüben hin und fängt an zu schießen, da durch die Lücke nach dem Wald« hin. Und von drüben und links geht das Geschieße auch los. Ach mein Gott." Seine Hände zitterten ihm. Er ist vor kurzem operiert worden. Aber in der Kasse hatte er doch nichts ge lassen, und seine Bücher hat er mitgenommen und di« Hörer vom Telephon, ehe er vor den Rußen das Feld räumte, um mit wankenden Knien den Wald hinter dem Dorfe zu gewinnen. „Das Klavier haben sie mir kaputt gemacht und meine Geige mit- .nowmen. Und zwei preußische Offiziere, die da nach hier waren, sind in meinem Wagen nach dec Stadt gefahren und haben ihn zerbrochen." Ich tröstete ihn, er werde alles ersetzt kriegen, er solle es nur anzeigcn. Ja. und noch «ins hatte er auf dem Herzen: „Der pensionierte Lehrer, der war neu gierig, was die Russen hier machten, denn ex wollte veukscde Männer. 28j Geschichtlicher Roman von Wilhelm Jensen. Das versetzte den einsamen Reiter in einen Gemütszustand, der ihn mit Vorstellungen von der Möglichkeit einer Schönheit des Lebens umgaulclte, und seine abweisend umhcrschweisen- den Gedanken und Empfindungen ließen ihn zeit weilig nicht auf die Straße achten, sondern ge- statteten deut Pferde, freien Laus zu nehmen. Aber dann ward'S ihm einmal auffällig, daß die Waldgclände an den Seiten kein Ende nah men, vielmehr sic!) enger zujammendrängten und höher answiichsen; er mußte nicht auf dem rich- tigcn Wege nach Erfurt zn wohl zu tief iuS Ge. birge hineingeralen sein. Eine Uebersicht indes war nicht möglich, es blieb nichts übrig, als umzukehren oder der Talrichtung weitcrznfolgen: so entschloß er sich doch zum letzteren, in der Hoffnung, irgendwo nach links abbiegen zu kün- ncn. Zum Befragen begegnete ihm niemand; der lchluchtartig werdende Einschnitt zwischen den Berglehnen erschien völlig unbewohnt, und be. benklich trat hinzu, daß die TageShclle abzu. nehmen begann. Aber da traf doch ein erfreu licher Ton an sein Ohr, hinter ihm klang noch ein anderer Hufschlag auf, und wie sein Kops sich umwandte, gewahrte er in einiger Entfer nung einen auf dem gleichen Weg herankommcn- den Reiter. Freilich, sonderbar hielt auch dieser jetzt an; eS erregte fast den Eindruck, er sei nach gefolgt, weil der vor ihm Rettende diese Rich tung eingefchlagen habe. So sahen beide sich einige Augenblicke ungewiß entgegen, dann jedoch setzte er sein Pferd wieder in Bewegung, kam herzu und fragte: „Sind Sie auch fremd hier? Ich bin Ihnen nachgeritten, weil ich Sie für wegkundig hielt." Er mochte nur einige Jahre älter, als der von ihm Angesprochenc sein und erschien nach seiner Kleidung wie ein auf geschäftlicher Reise begriffener städtischer Bürger, nur war seine Haltung straffer al» die eine» solchen zu sein pflegte, und er trug einen mehr auf einen Jä ger hindeutenoen Hirschfänger am Gurt. Sein Gesicht bot etwas offen Ehrliches, in vollstem Maße Zutrauen Einflvßeudes dar, schloß jeglichen HinterhaltSgedanken aus. Gibich antwortete: „Reiu, mir scheint, daß ich mich verirrt habe. Wohin wollen Sie?" „Rach Osten, auf Halle zu. Und Sie?" Ein wenig an Befehlen Gewöhntes klang aus den letzten Worten, doch der Befragte zögerte nur einen Augenblick und versetzte: „Dann haben wir gleichen Weg. In Halle hält sich ein Freund von mir auf, der Major von Schill." „Verloren!" stieß der andere mit dumpfer Heftigkeit aus. „Er wie ich. Mein Todesurteil liegt unterschrieben. Sie tragen das Herz auf der Zunge, ich bin'S auch gewöhnt. Vielleicht haben Sie von mir gehört, ich heiße Dörnberg." lieber Hans Gibichs Züge war eine jähe Bestürzung gefallen. Er wiederholte: „Verloren? Schill? Was wissen Sie von ihm?" „Daß er nicht in Halle ist; er war's, aber nur ein paar Stunden lang und mußte nach Norden zurück, sein Regiment zu retten, wcnn's noch möglich bleibt. TaS Wort Wagram sagt genug. cLie sehen mich an, als verständen Sie's nicht." Das traf zu, die Nachricht vou der zweiten Schlacht hatte sich noch nicht in Marburg ver breitet, als der jäh Davongerittenc die Stadt verlassen, und cS dauerte etwas, ehe ihm aus kurzer Erklärung des andern der Sinn des un bekannten Dorfnamens und die darin liegende ungeheure Bedeutung begreiflich ward. Halb wie betäubt sah er drein, und nochmals verging eine Weile, bis seinem Kopf eine Vorstellung auf. dämmerte, die ihn fragen ließ: „Sind Sie der Oberst von Dörnberg, der den Bauernauf stand —?" Eine bittre Lache brach vom Mund des cinfallendcn Freiherr» Ferdinand Williclm von Dörnberg: „Ja, ich bin der Mann, der mit Feld- Mäusen Kanonen und Flintenläufe anbeißen wollte. In Kassel wird ein guter Preis auf mei. nen Kopf gefetzt sein, den könnten Sie verdienen. wenn Sie nicht Schills Freund wären. Nehmen Sie'ü nicht übel, unsre Zeit läßt auch eine ehr liche Zunge Gift spritzen. Ihnen galt'S nicht. Ganz so dumm war ich nicht, gescholten sollt' es erst, wenn Schill nah herangekommcn wäre, und Kalte und Hirschfcld sollten mithelfen. Aber )ie hirnlose Rotte brach wider meinen Befehl zu rüh los, und meine westfälischen Jäger waren ranzösische Kanaillen. Gäb's noch die alte Feme, 0 hingen sie alle mit dem Strick ums Genick wie Tannäpfcl von den Bäumen herunter." Die letzte Vorstellung schien vem Sprecher ein Vergnügen zu bereiten; Gibich hatte seine Be sinnung so weit wiedererlangt, daß ihm vom Munde kam: „Aber wenn er nicht mehr in Halle ist, weshalb »vollen Sic dorthin?" „Ich will zum Herzog." „Zu welchem Herzog?" „Dem Braunschweiger, er ist in Ocls." Zusehends hatte zwischen den hohen Wald, lehnen die Dunkelheit zugenommen, und ab brechend setzte Dörnberg hinzu: „Wir siud auf einem Holzweg, weiter zn reiten wäre Torheit. Die Nacht kommt, und wir müssen sie hier zu- bringen. Ist das Licht wieder da, schafft's uns rascher vorwärts, als im Finstern zu tappen. Hier wittert uns vielleicht «ine Fuchsschnauze, doch keine Jeromesche Spürnase. Wer sind Sic denn?" Er sprang vom Sattel, was er gesagt, war unbestreitbar richtig. Hans Gibich gab auf die letzte Frage kurz über sich Auskunft, dann suchten sie im wegschwindeudcn Dämmerschein am Wald- rand nach einem Lagerplatz, für die Pferde bot ein saftiger Wiesenfleck dicht daneben rcichlicl)es Futter. Dörnberg sagte: „Meins läuft nicht von mir fort, da bleibt Ihr Mietgaul auch ber ihm; Tiere find noch treu. Haben Sie etwas gegen das Magenknurren ber sich? So weit denkt ein Gelehrter wohl nicht voraus, aber ein alter Soldat weiß, daß der eiserne Bestand not tut." Seine Annahme traf zu und er teilte dem Lagergefährtcn, der auf Nachtunterkunft in einer Herberge gerechnet hatte, kameradschaftlich von dem in seinem Mantelsack mitgeführten Nah rungsvorrat aus. Dann streckten sie sich aus den weichen Grund hin, doch noch nicht, um zu schlafen. Länger als eine Stunde ging Wechsel rede von Mund zu Mund; Dörnberg berichtete, wie er bei der auseinanderstiebenden Flucht sei ner Bauern kaum vor den Jägern seines aus Kassel gegen ihn ausgcrückten westfälischen Re giments entkommen sei; „Deutsche Schurken, Pfaffcnknechte, welsche Hundsfötter" sprudelten ihm grimmig als Bezeichnungen für sie über die Lippen. Endlich wob sich ein bleicher Schein des fast eine Stunde später als gestern aufge gangenen Mondes um die Wipfel des jenseitigen BcrgzugS, und die Stimme Hans Gibichs, der seit feinem Fortritt von Marburg kein Auge mehr geschlossen hatte, ließ hören, daß sein Be wußtsein zu vergehe» ansange. So sagte Dörn berg als letztes: „Der Schlaf bringt die besten Gedanken, lassen Sie sich von ihm raten, ob Sie morgen früh umkehren oder mich zum Her zog begleiten wollen. Nach dem, was Sie mir erzählt haben, zweifle ich nicht, Sie werden ihm besonders willkommen sein. Vielleicht mehr als ich, der lächcrlicl)e Karsthans." Ob der Schlaf es Gibich gebracht oder wa» sonst, jedenfalls ließ ihn der erste Morgenschein mit dem deutlichen Bewußtsein erwachen, er be- finde sich unterwegs zum Herzog von Braun schweig, habe dazu ein Recht und eine Pflicht, denn er sei von ihm geladen, nach Ocls zu kom men. Dörnberg entschied dafür, statt einer zeit raubenden Umkehr dem trügerischen Wege doch weiter zu folgen, denn er hob sich gerade dem Sonnenaufgang entgegen zum Bergrücken hinan. Und der Erfolg bewährte die richtige Einsicht des von Kindheit auf in gebirgigen Landschaften Erfahrenen; zwar blieb bald nur mehr ein Bieh- steig, zu dessen Erklimmung die Pferde vorsichtig am Zügel geleitet werden mußten, aber er stellte sich als ein andauernder, einer Paßeinsattlung zusührendcr Pfad heraus. (Fortsetzung in der Morgenausgabe.^
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