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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 26.11.1915
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1915-11-26
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19151126020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1915112602
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1915112602
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1915
-
Monat
1915-11
- Tag 1915-11-26
-
Monat
1915-11
-
Jahr
1915
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Sprachschwierigkeiten nach dem Kriege Eine Erwiderung von Dr. Albert Steche - Leipzig Mitglied der U. Kammer In der letzten Nummer dieser Beilage wendet sich ein Anonymus gegen meine Ausführungen betreffend die Lösung der nach dem Kriege auflrelendcn Sprachschwierigkeiten durch die Welthilfssprache Esperanto. In einem öffentlichen Meinungsaustausch mit geschlossenem Visier zu Kämpfen, ist ja an sich keine Empfehlung für die vertretene Sache, noch bedenklicher aber ist es, dabei einen Mangel an Sachkenntnis und Objektivität durchblicken zu lassen. Und dies ist in der Entgegnung der Fall. Gleich im Eingänge sind Gedanken meines Aussatzes will kürlich aus dem Zusammenhang gerissen und mit Worten aus gestaltet, die ich nicht gebraucht habe. Man hat tendenziös ge färbt und schreibt dann irreführend zum Schluß: so steht es in diesem Aufsatz. Den folgenden, ausdrücklich teilweise gesperrt gedruckten Satz scheint man gar nicht beachtet zu haben: .Mir müssen als erstes Kulturvolk, das ethisch, politisch und militärisch, das erfinderisch und organisatorisch aus allen Gebieten die Be wunderung der Welt erregt hat, im Besitze dieser Macht unsere Kultur und Sprache allenthalben zur Geltung bringen, wo wir sie durchsetzen können, und die fremden zurückdrängen, wo es nur immer möglich ist; dies verlangt unser Stolz und das Wohlergehen und Fortschrei- ten unseres Volkes." Gegenüber dieser doch gewiß von Vater landsliebe getragenen Forderung schreibt der Anonymus wörtlich: „Kein gewaltigeres Werbemittel, als die Sprache. Wir Deut schen aber sollen unsere uns selbst verkümmern und verschandeln? Gerade jetzt, in dieser Weltenwendung, die deutscher Sprache, deutschem Sein die ungeheuerste Beachtung sichern muß? Wir stehen an der Schwelle, ein Welkvolk zu werden, doch, nach den Esperantisten, beileibe nicht mit unserer Sprache!" Man wirft mir also das genaue Gegenteil von dem vor, was ich gesagt habe, und das ist doch mindestens nicht objektiv richtig gehandelt! Ilebrigens, da der Anonymus die Schrift von Herrn A. Zim mermann so genau kennt, so muß er auch wissen, daß ich in dem Meinungsaustausch mit dem Genannten in Nr. 10 der Monats schrift des .Hansabundes" (Oktober 1015) geschrieben habe: «D i e deutsche Sprache muß selbstverständlich so weit wie möglich herrschend werden auf der Welk; Esperanto sollen wir nur aushilfsweise be nutzen." Auch dies ist durch Sperrdruck besonders hervorgeho ben. Ich meine, wenn man öffentlich schwere Vorwürfe gegen die Esperantisten erhebt, so sollte man doch die wenigen Veröffent lichungen beherrschen, die ihre Stellung bekunden! Aber cs kommt noch schlimmer! Gleich nach dem Ausbruche des Krieges haben die Leipziger Esperantisten begonnen, die amt lichen deutschen Extrablätter, die im Ausland gar nicht oder nur verstümmelt abgedruckt wurden, mit Hilfe der weltumspannenden Esperanto-Organisation im feindlichen und neutralen Auslande zu verbreiten. Sie waren dabei von der Ueberzeugung durch drungen, daß die deutschen Siegcsnachrichtcn die wirksamste Auf klärung seien, wenn sic nur in möglichst weite Volksschichten eindringen würden. Da sich die fremdländischen Zeitungen aber meistens ablehnend verhielten, so war die Verbreitung durch per sönliches Eintreten der Esperantisten ein aussichtsreicher und zu gleich ein schneller Weg, denn es brauchte ja für die ganze Welt nur eine einzige Uebersetzung angefertigt zu werden. Der nachgewiesene Erfolg dieser emsigen und selbstlosen Tätigkeit war ein so großer, daß unsere Feinde gezwungen wurden, nach kurzer Zeit sie nachzuahmen. Natürlich wurde Esperanto durch diese von Freund und Feind geleistete Aufklärungsarbeit außer ordentlich bekannt, und diese von dem patriotischen Zwecke un trennbare Begleiterscheinung gibt nun dem Herrn Anonymus die Veranlassung, den Esperantisten öffentlich zu unterstellen, sie hätten diese Arbeit nur deswegen getan, nm ihre Sonderinteressen zu fördern. Denn er schreibt wörtlich: ..Jetzt möchten sie ihre internationale Hilfssprache sogar mit der nationalsten Angelegen heit von der Welt zur Wirkung bringen. ' Ich meine, der Esperantist kämpft an sich schon für eine ideale große Sache des Fortschrittes, deren Durchfechtung ihm Sorge, Arbeit und Kosten macht. Wenn er nun in glühender Begeisterung seine Kräfte in den erfolgreichen Dienst des Vaterlandes stellt, der vom Staate anerkannt und unterstützt wird, und dann einen derartig niedri gen Vorwurf über sich ergehen lassen muß, so ist diese Tatsache an sich zwar recht traurig, aber für ihn — nickt beschämend. Ferner schreibt der Anonymus in seiner Erwiderung wört lich: .Ein Welthilfssprachapostel, wie Ostwald, brachte es einst mals fertig, als Austauschprofessor, also in einer ausdrücklich und einzig und allein deutschnationalen Mission, Amerika zu be reisen, nicht um deutsche Sprache und Kultur, sondern um die Weltsprache Ido zu verbreiten." Ich muß es Herrn Geheimrat Professor Dr. Ostwald überlassen, zu diesem ungeheuerlichen und kränkenden Vorwurfe seinerseits Stellung zu nehmen, stelle aber hier fest, daß derselbe in Amerika war, ehe die Idosprachc ent standen ist. Und endlich schreibt der Anonymus wörtlich: .Das feind liche Ausland mag Esperanto vertreiben, so viel es will. Das geht uns gar nichts an." In diesem ebenso weitsichtigen wie ele ganten Aussprüche zeigt sich nicht nur die mangelnde Kenntnis von der eigenartigen Kraft und Bedeutung des Esperanto, sondern auch eine mangelnde Kenntnis von den tiefgreifenden, so unendlich wichtigen Beziehungen der Völker untereinander. Wenn im Auslande eine große Erfindung gegen uns aus gebeutet wird, werden wir die unangenehmen Folgen sehr bald verspüren und unsere Sckeuklappenpolitik verwünschen. Der nach dem blutigen Weltkriege anhebende Weltwirtschafts krieg zwischen den beiden Viervcrbänden wird mit allen Mitteln geführt werden, und die Weltsprache Esperanto wird wegen ihrer erwiesenen Vorteile dabei eine große Nolle spielen. Die Bewegung wächst zusehends, auch ohne unser Zu tun. Es handelt sich für uns nur darum, sie auch für unser Volk rechtzeitig nutzbar zu machen. Wir werden natürlich die H i l f s s p r a ch c, und nur um eine solche handelt cs sich, vcr - teidigungsweise dort anwenden, wo wir feindliche Nationalsprachen verdrängen wollen und ..Deutsch' nicht durch setzen können: niemalsaber zur Schädigung unserer Muttersprache. Auch durch Esperanto können und wollen wir deutsche Kultur verbreiten; dieser Weg ist neu: bisher schädigten wir sie, bewußt oder unbewußt, durch den über mäßigen und oft leichtfertigen Gebrauch fremder Nationalsprachen. Hier liegt eine große deutsche Aufgabe vor, deren Lösung durch die neutrale Hilfssprache wesentlich erleichtert wird. Was aber sagt wegwerfend der Anonymus: ..Gerade jetzt, wo wir vor inneren und äußeren Aufgaben stehen, so groß, daß auch der Mutigste täglich sein Herz neu anrufen muß. Esperanto!" Persönlichkeit und Geschichte Von Domprediger E. Pfalzgraf-Bremen Ein bekannter sozialdemokratischer Agitator ließ sich in einer sonst recht geschickt vorbereiteten Verdammungsredc gegen die Kirche zu der kurzen, übrigens nicht ganz neuen Bemerkung ver leiten, daß man dem Manne von Nazareth wegen seiner volks beglückenden Tendenzen die Achtung nicht versagen könne, aber uni so mehr die Staats- und Klassenkirche niederzutreten habe, da in ihr vom Geiste dieses Jesus nichts mehr zu spüren sei. In meiner Gegenrede nagelte ich ihn auf sein Eingeständnis fest, daß auch er sich in Ehrfurcht vor dem Genius des Christentums beuge. Der Erfolg davon war eine der schönsten Heldenposen. In seiner Erwiderung reckte er sich und schleuderte sein Herrenwort in den beifallsfreudigen Saal: .Ich beuge mich überhaupt vor niemand in der Welt." Da hatte ich mein Teil. Und von Stund' an war ich dem Manne von Herzen gut und habe ihm beim Auseinander gehen die Hand geschüttelt. Denn mit diesem Wort stand er wirklich wie ein Enterbter vor mir, der an dem reichen Gut der geistigen und religiösen Werte keinen Anteil hatte, die groß und leuchtend in der Geschichte des Christentums dastehen. Die ganze innere Not der Volksschicht, die er vertrat, schrie nur in diesem verstiegenen Wort auf, das man allzu leicht zur Zielscheibe von allerhand Witzen machen könnte. Die Freiheitsnot der sich unfrei fühlenden Masse, die vor jedem Ehrfurchtsgefühl in der geheimen Angst zurückschreckt, dadurch wieder fester in ein Joch eingespannt zu werden, von dem sie sich lösen will. Diese Angst mag partei politisch gut zu verwerten sein. Tatsächlich läßt sie auf die Dauer einen Menschen seelisch verarmen. Denn sie schneidet ihn von den Quellen des persönlichen Lebens ab, die uns in den großen Persönlichkeiten der Geschichte gegeben sind. Das wird auch überall dort empfunden, wo es geschieht, und man greift zu Abwehrmaßnahmen, indem man mit seinem persönlichen Leben irgendwo neuen Anschluß sucht. Zwei Tatsachen beglaubigen das. Einmal die, aus die auch Fendrich in seiner trefflichen Schrift: .DerKriegunddie Sozialdemokratie" hinweist: Die verhältnismäßig noch junge sozialistische Bewegung hatte in der marxistischen Theorie bereits ihr heilig gesprochenes Evangelium, an das in der Haupt sache keiner zu rühren wagte. Man beugte sich ihm einfach. Da bei mag das mitgespielt haben, was der gefallene Frank in seiner geistvollen Art im letzten Gespräch mit Fendrich spöttisch feststellt: .Marx verbreitet deshalb so gewaltigen Respekt, weil keiner vom andern weiß, ob er ihn schließlich nicht doch gelesen und verstanden hat." Aber das erklärt nicht alles. Persönlich keiten werden mit ihren Ansichten und Hoffnungen von anderen immer wieder zu einer Art Evangelium erhoben werden, an dem man sich messen, in dem man sich spiegeln und durch das man sich geistig bereichern kann. Das erklärt es auch, daß die Sozial demokratie trotz ihrer kurzen Geschichte schon ihre ...Heiligen", ihre .Heroen" hat, zu denen Tausende in blinder Verehrung auf schauen. Das ist nicht menschlicher Knechtssinn, das ist mensch licher Persönlichkeitshunger. Ich erinnere mich da eines Gesprächs mit einem alten, deutschen Seemann, der nach allerhand Weltabenteuern am Leben Schiffbruch gelitten hakte, und den ich als Seemannspastor in einer englischen Herbcrgsspclunke auf stöberte. Der Mann hatte sich von Glauben und Hoffnung nur eins gerettet, und das hieß Bebel. Ganz eigentümliche Legenden wußte er von dem. Es war sein Altar, auf dem er das opferte, was an Ehrfurcht und Persönlichkeitswert noch in ihm vor handen war. Dazu tritt die andere Tatsache, die sich aus der ersten von selbst ergibt, daß mit dem Krieg in unserem Volk viel niedergehal- tene Ehrfurcht wieder aufstieg und den neuen deutschen Männern, wie einem Hindenburg, entgegenslog. Das Hindenbu.gbiid hängt jetzt neben dem von Lasalle. Eine Zeit der Heldenverehrung ist in unserem Volk wieder angebrochen und sie richtet sich auf einzelne Persönlichkeiten, während von Abertausendcu der stillen Helden draußen an der Front kein Lied etwas zu melden weiß. Man glaubt wieder an P e r > ö u i i ch K c i k e u . ihre ursprüngliche Kraft, ihren überragenden Wert, ihre welt geschichtliche Bedeutung, auch wenn sic mit uns nicht gerade aus derselben Partei- und Welkanschauungsschüsse! essen. Bei ihnen versteht man wieder den Schlag des eigenen Herzens besser als in seiner persönlichen Isoliertheit, in ihnen versteht man sein deut sches Wesen, seinen deutschen Willen besser, als je zuvor. Wir haben es ja auch bei Bismarcks Jahrhundertfeier erlebt, wie fest er in das Herz des Volkes hineingewacksen ist. Die immer klareren Einblicke, die wir in die Ar: seiner politischen Tätigkeit erhalten, hindern es keineswegs daß seine Gestalt im Volks bewußtsein ins Riesenhafte, Ideale cmporsteigt, wie ihn der Ham burger Koloß zeigt. Darum mag man klügelnde Untersuchungen darüber einstcllen, inwieweit die großen Persönlichkeiten der Ge schichte auch nur Menschen ihre: Zeit gewesen sind und mehr ge schoben wurden, als sie selber sckoven. Der Prozeß geht dock weiter, daß sich einige von ihnen das Volk erobert, in ihnen Wunderschöpfungen seines persönlichen Wesens sieht und ihnen geistig Vasallcntrcuc hält. So feierten, als der Krieg kam, auch die großen Persönlich keiten aus der Zeit der Befreiungskriege ihre Auferstehung, wie Stein, Kleist, Arndt, Fichte, S ch l c i c r m a ch c r. Richt so, als ob sic aus der Vergessenheit, in die sie geraten waren, plötzlich wieder austauchten Sic waren ule vergessen, und haben bei den geistigen Strömungen der Gegenwart reckt oft Pate ge standen. Aber jetzt erschienen sie im öffentlichen Volksbewußt sein als ein Reichtum persönlicher Kräfte, den ein anderes Volk so nicht aufzuweisen hatte. Man brauchte sie nickt, um seine eigene Armut reich zu machen. Man brauchte sie, um in die Fülle der eigenen Impulse und der eigenen Ziele Ordnung zu. be kommen und um in ihrer Gemeinschaft den jetzigen deutschen Krieg als eine geschichtliche Notwendigkeit zu erkennen, für die das letzte herzugeben ist. Eins der ursprünglichsten Lcbensgcsiihle, das ohne weitere Geburtshilfe zur Welt kommt, die Volks und Vaterlandsliebe, sucht, ich will einmal sagen, nach einer festen, geschlossenen Darstellung seiner selbst und greift dazu noch den großen, nationalen Persönlichkeiten, die in der Geschichte da stehen. Liegt die Sache so, dann würde es einfach ein Kuriosum sein, wenn das ursprünglichste, allerpersönlichste Lebensgefühl, das es gibt, das religiöse, abgesperrt werden müßte oder auch nur abgcspcrrt werden könnte gegen den Reichtum von religiösem, persönlichem Leben, das in der Geschichte aus uns zuströmt. Wir leugen nicht, daß cs ehrliches, innerlich starkes religiöses Ein siedlertum geben kann. Nur halten wir cs für einen Irrtum, seine Religion als eine Art Eigengewäcks zu erklären, die mit keiner Tradition irgend etwas zu tun hat. Herder wird recht behalten, daß auch unsere besten, edelsten Gefühle und Werte aus uns herabgeerbt worden sind. Und nur das ist die Frage: ob wir uns diese Vererbung einfach stillschweigend gefallen lassen oder ob wir das Erbe ganz bewußt antretcn wollen. Ich halte das letztere für das natürlichere. Man muß auch hier das Erbe erst er werben, um cs zu besitzen. Und das ist nur möglich, wenn man sich innerlich mit ihm auseinandersetzt. Ohne den Willen dazu geht es nach und nach wieder verloren. Ich weiß, daß sich bei unserem stark ausgeprägten Pcrsönlickkeitsgefühl viele dagegen abwehrend verhalten werden, und eine der Zuschriften, die ich zu meiner Freude über meine früheren Aufsätze erhalte, verrät die leise Angst, als ob cs mir darauf ankomme, dem religiösen Menschen unserer Zeit durch die geschichtlichen Persönlichkeits werte des Christentums die sogenannten Heilstatsachen ge nießbar zu machen. Der Gedanke daran liegt mir ganz fern. Die Hcilstatsachen interessieren mich in diesem Zusammenhang gar nicht. Nur auf eins kommt cs mir an, daß der Blick wieder über den eigenen Horizont hinausgehen und sich cinstellen lernt auf die Tatsachen des persönlichen, vor allem des religiösen Lebens, die uns in der Geschichte entgegentretcn und die in dem Christentum, man mag sonst darüber denken, wie man will, eine klassische Dar stellung gefunden haben. Die Sache wird deutlicher, wenn wir uns z. B. fragen, was an religiösem Besitz in unserem Volk vorhanden wäre, wenn wir die L h r i stu s p er s ö n l i ch k e i t daraus wegzudenken ver mochten. Man kann es sich ja leicht machen, indem man von der kraftvollen, naturfrcudigcn Germanenreligion schwärmt und bekundet, daß ihr durch das römisch-mittelalterliche Ehristusbild das Rückgrat gebrochen worden sei. Setzt man dann der Christus- religion noch die deutsche Kirchen- und damit Volksspaltung aus das Konto, so muß es erscheinen, als ob die geradlinige Entwick lung der deutschen Religion durch das Ehristusbild nicht nur ge hemmt, sondern unmöglich geworden sei, womit dem Christentum sein Urteil gesprochen ist. Damit wird man dem einfachen Tat bestand keineswegs gerecht. Die Lhristusgeschichte, die die deutsche Seele zu verarbeiten hatte, hat uns nicht nur die Schätze der reli giös-kirchlichen Kunst, zu denen ein Rembrandt, Steinhaufen, Uhde gehören, geschenkt, sie hat auch in Luther die auf ihr Ge wissen allein gestellte Persönlichkeit geschaffen, über die hinaus cs überhaupt kein Persönlichkcitsideal mehr geben kann. In der re ligiös-männlichen Poesie des Christentums, wie sie von Luther über Paul Gerhardt bis zu Gustav Schüler erklingt, hat sich bei Kricgsanfang so ziemlich die ganze deutsche Seele daheim ge fühlt. Und selbst in den deutschen Klassikern, die so gut wie kein persönliches Verhältnis zu der Christusgestalt und zu dem damali gen, marklosen Christentum gehabt haben, klingt wie von einer versunkenen Glocke her der Ton von Nazareth. Auch ist cs jetzt kein Geheimnis mehr, daß Nietzsches Christushaß seine letzte Quelle darin hatte, daß er mit seiner reinen, empfindsamen, selbst herrlichen Persönlichkeit innerlich nie loskam von den starken Persönlichkeikswerten, die in Jesus auf ihn eindrangcn. Damit will ich die I c s u s f r a g e als Problem nicht anschnei den. Sie steht zurzeit nicht im Brennpunkt des religiösen Interes ses. Es wird weiter eine Aufgabe wissenschaftlicher Arbeit sein, der Entstehung des Christentums nackzugehcn und darin auch der Entstehung des Ctzrislusbildes mit seinen geschichtlichen, origina len und legendarischen Bestandteilen. Ich persönlich glaube nicht, daß durch eine wirklich kritische Forschung einwandfrei festgestellt werden kann, die Christusgestalt wäre nichts anderes als eine Synthese von allerhand orientalisch-religiösen und sozialen Strö mungen und ihre Ucbcrtragung auf ein erdichtetes Idol. Dazu tragen die Urkunden des Christentums zu viel kerniges, ungekün steltes, ursprüngliches Leben in sich. Jedenfalls ist das alles eine Frage der Studierstube und nicht einer VolksvcrsammlungSmajo- rität, vor deren Forum man sie vor wenigen Jahren gezogen hat. Sic mag entschieden werden, wie sie will. Sicher ist. daß Jesus einen Per önlickkeilswert bedeutet, der aus der Geschickte des Geistes nickt wcg'mdcnken ist. Müßte man auf ikn verzichten, ich weiß nickt, waS dadurch im religiösen Leben der Deutschen reicher würde, wobl aber, was dadurch ärmer würde. Wäre die Christuspersönlichkeit etwas ganz scharf Ilmrisse- nes, dann könnte ich mir denken, daß sie eines Tages restlos von dem religiösen Gefühl einer Zeit verarbeitet werden könnte und damit ihren Dienst getan hätte. Aber das ist sie nicht. Jede Zeit, ja jede Persönlichkeit hat i h r Ehristusbild. Man braucht sich nur cnrmal in dem kürzlich bei Voigtländer erschienenen wunderschönen Buck von HanS Preuß: Das Bild Christi im Wandel de^ Zeiten' den Christuskopf Raffaels in der „Verklärung" und Michelangelos „Christus als Weltenrichter" anzusehen, um das zu verstehen. Und darin liegt ja gerade das Wunder einer schöpferischen Persönlichkeit, daß sie in der von ihr ergriffenen Seele wieder neue Schöpfung wirkt. Menn wir alle malen könn ten und Goet h e nach dem malen sollten, was er u n s persönlich ist. aller Voraussicht nach würde die Galerie der Goetheköpfe ge rade so bunt wie die der Christusköpfe. Wie viele haben denn überhaupt von Goethe eine klare, feste Vorstellung, wie viele leben ganz in seinen Werken und seiner Persönlichkeit, ille sein bestes Werk ist! Und doch fühlen Unzählige, daß ihnen durch viele Ka nälchen Goetkeschc Persönlichkeit zufließt, sich mit der ihrigen mischt und sie vollwertiger macht. So sollen wir auch erst einmal religiöse Genien anschen lernen. Man klebt dort noch meist dank der formellen kirchlichen Erziehung an Einzelheiten und ist damit nicht für die ganze Innenkrast ihrer Persönlichkeit frei. Ich er innere an das erschütternde Bekenntnis Wildes in „Oe pro- sunäi- und an die köstliche Schilderung Roseggers über seine erste Evangelienlcktürc auf dem Krankenbett. In beiden kommt cs zum Ausdruck, welche Befreiung ein Mensch dadurch erleben kann, daß seiner eigenen, allem Geistigen zugcwandten Persön lichkeit eine andere Persönlichkeit voll Wucht und Tiefe entgegen tritt. Wir behaupten nicht, daß das überall der Fall sein muß. Wir wollen nur, daß auch mit dieser Tatsache im geistigen Leben der Menschen gerechnet wird. Denn dieser Tatsache begegnen wir auch bei den religiösen Genies selbst. Man kann Jesus nicht ohne die Propheten, Paulus nicht ohne Jesus, Luther nicht ohne Paulus denken. Und wir
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