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4464 Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. Nichtamtlicher Teil. pv 82. IO. April ISI2. einem Plazet-Stempel versehen soll, nur einen bedingten Er-, folg. Nicht weil mir der Gedanke an sich nicht einleuchtete, sondern weil ich glaube, daß bei der überfülle der zu be wältigenden Stoffes auch den eifrigsten und fleißigsten Kom- missionsmitgliedern die Arbeit über den Kopf wachsen wird. Man brauchte zum mindesten eine Anzahl Musiker, die bereit wären, sei es mit, sei es ohne Entgelt, ihre ganze Zeit und Kraft lediglichder gedachten Betätigung zu widmen. Und diese wird, diese kann man schwerlich finden. Vorausschicken möchte ich sodann noch eins: es liegt mir fern, mit Ihnen in irgendwelche Polemik einzutreten. Seit langem schätze ich Sie als vielerfahrenen Fachmann, der sich insbesondere durch seine zahlreichen, gehaltvollen, auf dem Gebiete der Statistik liegenden Aufsätze um unser Musikleben ansehnliche Verdienste erwarb. In diesen Artikeln trat mir das Bild eines Mannes entgegen, der, in allem Sachlichen und Persönlichen bestunterrichtet, unserem heutigen Kunstge- tllmmel wohlwollend und mit nachsichtigem Lächeln für menschliche Schwächen gegenübersteht. Solche Männer Pflegen, nicht mit Unrecht, eine behagliche Unterhaltung einer aka demischen Erörterung vorzuziehen. So lassen Sie uns denn in zwangloser Aussprache über einiges Mißverständliche, noch nicht genügend Geklärte miteinander zu Rate gehen. Vor allem werden wir uns fraglos darin einigen, daß der Kampf gegen die musikalische Schundliteratur nicht »Partei sache« ist. Der »Musikpädagogische Verband« läßt sich ebenso wenig von einer Partei, einer Richtung, einem Klüngel ins Schlepptau nehmen wie die »Genossenschaft Deutscher Ton- setzer«. Wie in der letzteren, so sind auch in ersterem Ton- künstler und Tonkünstlerinnen jeder Farbe, jedes musikalischen Glaubensbekenntnisses vertreten. Brahmsianer und Liszt- ianer reichen sich in ihm friedlich die Hände; die um Strauß haben in ihm ebenso ihre überzeugten Vertreter als die um Reger. Er nennt sich ja auch nicht »Musikpädagogischer Reger Verband« oder »Musikpädagogischer Strauß-Verband«, son dem schlechthin »Musikpädagogischer Verband«. Er verfolgt ausschließlich erzieherische Zwecke — wie die Tonsetzer-Ge nossenschaft fast ausschließlich wirtschaftlichen Zwecken dient Wer zur seelssia luiiilaus gehört, der gibt hier und dort seine mit der Parteimarke versehenen Vorder- und Hinterlader, Dhnamitpatronen und Giftbüchfen hübsch in der Garderobe ab, ehe er die Versammlungszimmer betritt. Wie jede Zeit Periode Erfreuliches und Unerfreuliches aufzeigt, so auch die unselige. Zum Erfreulichsten in ihr gehört es un streitig, daß man, unter vorübergehender Ausschaltung des Trennenden, das Gemeinsame, Verbindende betont, um zum Wohle aller auf dem Wege genossenschaftlichen Zusammenschlusses das zu erreichen, was der Ein zelne nicht durchzusetzen vermag. In diesem Sinne hat es sich auch der »Mustkpädagogische Verband« zur Aufgabe ge stellt, seine Schutzbefohlenen für den Kampf ums Dasein sorg fälliger vorzubereiten, als es bisher möglich war, für den Musiklehrstand bessere Daseinsbedingungen und angenehmere gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen, — mit dem Einflüsse aber, den die derart innerlich und äußerlich gefestigte pädago gische Kraft auszuüben fähig ist, dahin zu wirken und dabei mit- zuhclfen, daß gute Musik jeder Art als hochwichtiger Faktor der Geistes- und Gcmütspflege den breiten Massen der Hun derttausende zugänglich gemacht werde. Wir leben in der Zeit der — leider notwendigen — harten Zusammenstöße und schwierigen Ausgleichungen auf sozialem Felde. Die Schlacht, das Handgemenge: sie verrohen. Um so notwendiger ist es, aufklärendes Wissen und veredelnde Kunst überallhin zu tragen, dem aber, das geeignet ist, schlechten Instinkten Vorschub zu tun, nach Möglichkeit den Boden abzugraben. Mit Schelt- und Strafreden erreicht man schon bei Kindem nicht viel, ge- schweige denn bei Erwachsenen. Hingegen besteht die gesunde Politik des praktischen Idealisten darin, daß er ver sucht, durch zielbewutzte unablässige Verbreitung des Ein wandfreien die Unbelehrten und annoch Haltlosen an das Edlere, Fördernde zu gewöhnen, ihnen auch durch drastische Gegenüberstellung schmutziger oder trivialer Hervorbringungen und reinlicher Kunst die Augen aufgehen zu lassen. Solche Politik treiben der deutsche und der österreichische Musikpäda gogische Verband. Solche Politik treibe auch ich, indem ich mich für die Gründung und den Ausbau von »Musikali schen Volksbibliotheken « einsetze. Sehen Sie sich in der Sphäre dieser Verbände, dieser Bibliotheken um: Sie werden mit Genugtuung feststellen, daß man dort jede Gattung achtbarer Musik mit gleicher Liebe betreut, aus welchem »Lager« sie nur immer stamme. Don Schund werden Sie dagegen hüben und drüben nicht das Mindeste entdecken. Jedoch Sie meinen, daß darüber, was musikalische Schundliteratur zu nennen sei, keine rechte Übereinstimmung bestehe. Sie glauben, an sich sei überhaupt keine Musik wohl- duftend oder anrüchig, züchtig oder unzüchtig: erst ein mit ihr in Beziehung gebrachter Text gebe die Möglichkeit, sie, wie sich etwa ein deutscher Professor der Philosophie ausdrücken würde, »in Hinsicht auf ihr moralisches Substrat zu qualifizieren«. Noch weiter als Sie geht ja der Dichter, wenn er sagt: an sich ist nichts gut oder böse; das Denken macht es erst dazu. Je nun: wir sind beide keine Dichter. So kann ich mich denn zu Ihnen, auf den Boden des Realen, begeben, und Ihnen Vor schlägen, daß wir einmal die absolute Musik und die mit et- welcher Poesie oder Afterpoesie verbundene gesondert betrach ten. Die letztere kennzeichnet sich auf einen flüchtigen Blick hin zur Genüge. Einen saudummen, stumpssinnig blöden, stinkend zotenreitzerischen Text wird nur ein Musiker mit Tönen aus statten, an den Mutter Natur herzlich wenig gewendet hat. Macht sich aber ausnahmsweise ein Musiker von Geist über eine derartige Reimerei her, dann gehört sein Erzeugnis, wie gewisse, von hinlänglicher Begabung sprechende Zeichnungen oder Stiche französischer oder den Franzosen nachempfindender Künstler, in die verschlossenen pornographischen Mappen be güterter Liebhaber, doch nicht auf den offenen Markt. Bleiben wir bei den Franzosen: sie haben das treffende Wort von der »musiqua eauaillk« erfunden und damit festgestellt, daß auch in Tonreihen, Tonverbindungen an sich etwas »Ge meines« zum Ausdruck gebracht werden kann. Vornehmlich durch ihr rhythmisches Gesicht. Summen Sie gewisse Offen- bachische Motive ohne Worte vor sich hin, spielen Sie sie im richtigen Zeitmaß oder langsamer: das Ordinäre daran wird sich Ihnen so und so kundgeben. Von Franzosen vorgetragen, in einer Sprache gesungen, die sich für graziöse Zuspitzungen besonders geeignet erweist und mit Geschick und Vorliebe zwi schen Ein-, Zwei- und Mehrdeutigkeiten herumtändelt, ist der gleichen noch annehmbar. Verdeutscht, will sagen vergröbert, streift es an den Schund. Es wird zum Schund in dem Gemächte derer, die sich mehr oder weniger als Nachahmer Offenbachs darstellen — ohne seinen »ssprlt«, ohne seine aus knappe einprägliche Sätzchen, auf schlagkräftige Wirkungen zu- geschnittene Technik zu besitzen. Die heutige Wiener Operette ist alles andere eher als Volksnahrung; sie wirkt viel mehr geradezu bolksvergiftend — ich verweise auf die vielfach abgedruckten Beantwortungen der vor Jahressrist von der »Zeit« veranstalteten Rundfrage. Brennende Schamröte mutz dem Deutschen ins Gesicht steigen, der — wie es mir in Italien, Frankreich, Spanien öfters begegnete — von ange sehenen ausländischen Musikern allen Ernstes gefragt wird, ob denn zurzeit Franz LehLr wirklich unser erfolgreichster