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»Tantchen fühlt sich nicht gut, Martina, und darum Wollte ich dich holen. Komm bitte gleich mit!* Erschreckt sprang Martina auf und eilte mit der Freundin dem Hause zu. »Ist ja gar nicht so schlimm*, lachte Grete heimlich, »ich wollte dich nur erlösen, weil ich dich kenne und Weitz, wie unangenehm dir jetzt so eine Gesellschaft ist.* Neunzehntes Kapitel. »Na, was Neues unterdessen passiert, Johann?* be grüßte Benno den alten Diener, der ihm die Tür öffnete. »Ja, gnädiger Herr! Dar gnädige Fräulein Schwester ist auf Gastspielreisen, und angerufen haben eine ganze Menge Leute — ich hab' die Namen alle ausgeschrieben.* »So? Ra, 's ist gut!* Benno durchschritt eilig sein Atelier und betrat sein Herrenzimmer, auf dessen Schreib tisch ein ganzer Stotz Briefe und Karlen lag, die in der Zeit seiner Abwesenheit für ihn eingetroffen waren. Da neben lag der Block, auf den Johann die Namen derer notiert hatte, die angerufen hatten. Enttäuscht legte Benno den Block wieder auf den Tisch. Der Name, den er suchte, stand nicht verzeichnet. Dann durchflog er die Briefe. Und endlich — .da, der eine Brief war von seinem Mädelchen. Als Benno ihn gelesen hatte, satz er erst eine ganze Weile still und nachdenklich da. »Das arme Kindl* sagte er leise. »Wie mag es nur auf meine Antwort gewartet haben? Mit welcher Sehnsucht, und wie enttäuscht mutz es jetzt sein!* Und er hatte bei dem Gedanken, wie sehr die Geliebt« wohl unter seinem Schweigen gelitten hatte, selbst starkes Herzklopfen. Aber nun sollte sie nicht eine Minute länget im ungewissen bleiben, und hastig griff er-nach dem Telcphonhörer und ließ sich mit dem .Hause Sool ver binden; er dachte nicht daran, daß die Damen hatten ver reisen wollen. Aber dann legte er nach kurzem Gespräch mit dem Diener den Hörer wieder auf die Gabel. Sools waren also verreist, der Vater war geschäftlich im Rheinland und die drei Damen im Riesengebirge. Was nun? Daß auch Meta jetzt ausgerechnet eine Gastspielreise absolvieren mußte, war zu dumm! Sie hätte ihm sicher einen guten Rat gegeben. Und im Geiste hörte er ihre weiche Stimme sagen: »Du Dummer, wenn alle verreist sind, warum reist du da nicht auch? Agnetendorf liegt doch nicht außer der Welt. Und dir wird die Gebirgslust auch sehr gut tun, besonders, da in den Bergen ein liebes, rotblondes Mädelchen weilt, das eben solche große Sehnsucht nach dir im Herzen trägt wie du nach ihm. Warum zögerst du also? Fori mit dir! Auf nach Agnetendorf!* Ganz deutlich meinte Benno die Schwester so sprechen zu hören. Und plötzlich sprang er mit einem Ruck auf, daß die Briefe alle durcheinander auf den Teppich flogen, und eilte an den Bücherschrank, sich das Kursbuch heraus nehmend. Und dann beauftragte er den erstaunten Johann, in einer Stunde ein Auto für ihn zu holen, da er zum Bahnhof müsse. Er reise nach Agnetendorf, wenn jemand ihn anriefe. Und wie lange er dort bliebe, wüßte er noch nicht. Johann bekäme von ihm darüber noch Bescheid. Und nun packle Benno eilig einen neuen Koffer und war mit allem gerade fertig, als der Alte schon das Auto Meldet«. Es ging alles in höchster Eile, und erst als Benno im Eisenbahnzuge saß, wurde er wieder ruhiger. Er hatte ein ganzes Abteil für sich allein und satz nun tn seiner Fensterecke mit geschlossenen Augen und malt« sich im Geiste aus, was Martina Wohl für ein Gesicht Machen würde, wenn er so plötzlich vor ihr auftauchte, und wie ihre Begrüßung sein würde. Und je näher er dem Ziele kam, desto unruhiger wurde er, daß er kaum daS Ende der Fahrt erwarten konnte. AIS Martina am Morgen nach einer unruhigen Nacht erwachte, sah sie, daß die Sonne eben hinter den Bergen emporstieg. Im Tal lag noch bläulicher Rebel, und aus den Gräsern im Garten unten funkelt« der Tau. Sie trat wieder vom Fenster zurück und zog sich eUig an, denn sie wollte heute eine weite Tour unternehmen: auf jenen Berg da drüben hinauf, bis zur einsamen Hütte, die von den Kuhhirten oder von Touristen als Unterschlupf benutz« wurde, wenn ein Wetter sie überraschte. Es war ganz gut so, datz die Tante und Grete noch schliefen, sonst hätte Tante Brigitte sicher diesen Spazier gang verhindert, in ihrer ewigen Sorge, es könne ihr etwas geschehen. Aber eine Nachricht wollte sie doch hinter- lassen, damit vie Tante sich nicht unnütz ängstigte. In der Pcnsionsküche waren die Mädels schon bei der Arbeit, und so konnte Martina erst noch Kaffee trinken und sich Frühstück mitnchmcn. Langsam stieg sie die Höhe empor. Zuerst freilich kamen noch einzelne Pillen, in denen Badegäste wohnten; dann sah man nur mehr vereinzelte Häuser. Durch den ein- . samen Wald ging es zur Höhe hinauf. Wie ruhig und schön war cs doch, so im taufrischen § Morgen ganz allein durch die herrliche Natur zu wandern! j Noch hing der Tau funkelnd an Gräsern und Zweigen, aber die Sonne brach sich doch schon siegreich Bahn und lugte durch die dichten Gipfel der Tannen hindurch. Und wie vergnügt die Vögel zwitscherten! Ab und zu kam auch aus dem Ort ein verschwommener Klang daher« geweht, oder der Wind säuselte ganz leise in den Bäumen. Kühl war es noch, und Martina zog ihren Mantel fester um ihre Schultern und schritt rüstiger aus. Nachher würde es schon warm werden, wenn die Mittagszeit Herankain, und wenn sie dann vielleicht schon so hoch war, daß der Wald aufhörte. Oft blieb sie auch stehen, blickt« sich um und atmete tief die würzige Luft ein. Wie schön, wie wunderschön war doch die Natur! Doch Martinas Augen wurden bei all dieser Schönheit plötzlich wieder trübe, und wie ein schwerer Stein lag es ihr wieder auf dem Herzen. »Benno. Benno*, sagte sie sehnsuchtsbang, »warum hast du mir nicht verziehen? Es war doch nur Ucbermut, daß ich mich Müller nannte; ich konnte doch nicht ahnen, datz ich dich bei Meta Gregori treffen und datz wir uns Wieder sehen würden! Hättest du mich so lieb wie ich dich, dann hättest du ganz gewiß anders gehandelt!* Oben in den Baumkronen rauschte der Wind, und ein« Krähe schrie irgendwo mit häßlichem Ton. Martina zuckte zusammen. Nur nicht wieder grübeln; es half ja alles nichts, sie mußte ihre Liebe, die so fest in ihrem Herzen saß, bezwingen, mußte vergessen lernen, daß sie einmal in seinen Armen gelegen hatte, und daß seine Lippen die ihren geküßt. Jenen kurzen, seligen Moment! — Sie schauerte noch in Gedanken daran selig zusammen und meinte noch seine brennenden Lippen auf den ihren zu fühlen; aber gleichzeitig durchlebte sie auch wieder den heißen Schreck, als sie des Paters Stimme hörte und er so unerwartet ins Atelier trat. Fort, fort mit den quälenden Gedanken, und fort mit den dummen Tränen, die sich wieder tn ihre Augen drängten, daß alles um sie her verschwamm! Rur nicht mehr daran denken! Und schneller schritt Martina auS, bis sie atemlos stehenbleiben mußte. i Die Sonne meinte eS heute besonders gut; sie stand schon ziemlich hoch am Himmel und brannte heiß her nieder. Martina zog ihren leichten Mantel aus und nahm den kleinen Hut vom Kopfe. Run war es schon an genehmer. Aber so schnell durfte sie nicht mehr steigen, sonst würde sie nicht weit kommen und bald ermüdet sein. Vor ihr auf dem Wege gaukelten zwei gelbe Schmetter linge im fröhlichen Spiel, und Martina folgte ihnen und mußte daran denken, wie ahnungslos diese Tierchen ihr kurzes Leben verbringen in der warmen Sonne, und wie ein einziger rauher Sturm, eine einzige kalte Nacht ihre« Dasein ein Ende bereiten. Beneidenswerte Kreaturen, die nichts wissen von all dem Jammer, all der Sorg« und Krankheit der Menschen, die wissen, datz sie einmal sterbe» müssen, um niemals wicderzukehren, und die sich doch ihr kurzes Leben oft selbst verderben. Warum ihr nur heute so trübe Gedanken kamen — Dachte es die Einsamkeit oder die Größe der Natur? Aufatmend blieb Martina stehen. Vor ihr breitete sich Lin weites Feld, mit Tausenden von bunten Blumen über sät, als läge ein weicher, schimmernder Teppich zu ihren Füßen. Und wie das lebte, wie das schwirrte über den Blüten — ein Summen von vielen feinen Stimmen, wi« das leise Klingen einer Harfe. Das waren die fleißigen Bienen und die bunten Käfer, die so emsig von dem sützen Met der Blüten naschten. Und über all dem lebendigen Getümmel leuchtete die Sonne mit warmen Strahlen. Martina setzte sich hier am Rande des Waldes auf einen großen Felsbrocken und ließ ihre Augen auf diesem reizen den Bild ruhen. Jenseits des Feldes begann wieder der Wald; sie mußte noch ein weites Stück zurücklcgen, ehe er aufhörte end das Knieholz begann. Vielleicht mußte sie auch schon vorher umkehren, denn die Mittagsstunde kam schon heran. Wenn sic auch auf dem Zettel geschrieben hatte, daß sie zu Tisch nicht käme, so wollte sie doch die Tante nicht zu sehr ängstigen. Aber ein Stückchen wollte sie noch empor steigen. Nachdem sie sich eine ganze Weile ausgeruht hatte, stand Martina wieder auf und schritt durch das blühende Meer chi/durch. Schade, daß die Sonne sich ausgerechnet jetzt h-eiier einer Wolkenwand verkriechen mußte — nun sah das schöne Bild gleich ganz verändert aus. Windig wurde es plötzlich auch. Sie blickte besorgt zum Himmel; aber da vinten war er blau, und nur diese grauen Wolken hatten sich unmerklich herangcschobcn. Tas bedeutete sicher nichts, die würden schon wieder verschwinden. Bald hatte sie auch den Wald erreicht und stieg weiter empor. Aber es störte sie, daß die Sonne verschwunden war, und daß der Wind in den Bäumen kräftiger rauschte Und jetzt war es ihr auch unangenehm, daß sie sich so ganz allein im weiten Umkreise befand, daß keine Menschen seele in der Nähe war — nur sie, so ganz allein. Grollte nicht da in der Ferne leiser, dumpfer Donner? Doch nein, sie mußte sich getäuscht haben, es hatte sich eher angehört, als fiele in der Ferne ein Schuß. Gewiß ein Jäger, der ein Wild erlegte. Wie der Himmel sich nur so schnell verändern konnte! Jetzt war er von grauen Wolken ganz überdeckt, und die Sonne war verschwunden Aber dafür kam der Wind jetzt kräftiger an und zaust« wütend in den Bäumen. Martina mußte ihren Mantel wieder anziehen, denn es war auch empfindlich kühl ge worden, und sie war vom Steigen erhitzt. Wäre ich doch nicht so weit gegangen!, dachte si« seufzend. Jetzt sieht alles nicht mehr so freundlich und Ichön aus; und wahrhaftig, ich beginne mich zu ängstigen! Nun mache ich es wirklich der Tante Brigitte nach, die auch stets um jede kleinste Sache eine Heidenangst bekommt! Unsinn, ich will mich bezwingen und nicht umkehrcn! Und Martina stieg weiter den Berg hinauf, trotzdem ein Wetter an. Limmcl heraufzog. Zwanzigstes Kapitel. Benno batte die Nacht über in der Stadt Hirschbcrg Dleiben müssen, weil er in der späten Abendstunde keine Verbindung mehr nach Agnetendorf hatte. Aber am nächsten Morgen in aller Früh« sah er schon tn der Klein bahn und fuhr seinem Ziel entgegen. Die Ungeduld hatte ihn gepackt: alle Augenblicke sprang er von seinem Platz auf und ging nach der anderen Seite des Abteils nach dem Fenster und schaute hinaus, um dann wieder auf seinen Platz zurückzukehren. Doch endlich war die Station erreicht, und ein Wagen brachte ihn nach der Pension, in der die Damen Sool logierten. So sehr er sich aber auch umsah, von den Damen war nichts zu erblicken. Nachdem er sich in seinem Zimmer vom Reiscstaub befreit hatte, ließ er sich bei der Tante Brigitte melden, die ihn auch sofort empfing. _ So mißtrauisch sie auch damals gegen ihn. den Künstler, gewesen war, so freudig streckte sie ihm jetzt ihre Hand entgegen und sagte auS tiefstem Herzensgründe: »Sie ichickt mir der Himmel, Herr Gregori, denn ich vergehe fast vor Angst um Martina, meine Richte!* Benno machte ein höchst bestürztes Gesicht. Run glaubte er sein holdes Mädel bald in seine Arme zu schließen, da empfing ihn die alte Tante mit diesen Worten. »Was ist denn nur geschehen, gnädiges Fräulein? WaS ist denn mit Ihrer Nichte? Ist sie krank, oder ist ihr sonst ein Unglück zugestoßen? So reden Sie doch nur — Si« haben mir wirklich einen argen Schreck eingejagt!* Tante Brigitte blickte den jungen Mann über ihre dunklen Brillcnränder hinüber verwundert an, dann pfiff sie leise vor sich hin und nickte dazu. Also das war es, was Martina jetzt immer so still und traurig die einsamen Spaziergänge machen ließ, und warum sie so kalt gegen all die netten jungen Männer blieb, die ihr den Hof machten. Deshalb hatte der hübsche Graf Steinfels auch leine Aussicht, ihre Liebe zu gewinnen. Aha, dieser Herr Benno Gregori war also die Ursache. Und w.eder spitz« die Tante ihre schmalen Lippen zu einem feinen Pfiff. Benno guckte sie verwundert an; er konnte sich dal Benehmen dieser feinen, alten Dame absolut nicht er. klären, die einfach pfeifen konnte, wenn er sich um Martin» sorgte. Tante Brigitte hatte indessen blitzschnell überlegt, das es doch eigentlich wohl keine allzu schlechte Partie für Martina wäre, wenn dieser berühmte Maler, der so un geheuer viel verdiente, sie heiraten würde. Wenn schon der eigene Bruder dessen Schwester, die Schauspielerin, zur Frau begehrte, so hätte Georg auch sicherlich nicht« gegen Martinas Wahl. »Ich weiß gar nicht, was mit meiner Nichte eigentlich los ist*, fing Tante Brigitte vorsichtig an, nachdem Benno auf ihre einladende Handbcwcgung ihr gegenüber Platz genommen hatte, »sie ist seit einiger Zeit gänzlich ver- ändert: still, blaß, traurig, und sucht immer einsame Weg« auf, nur um mit keinem Menschen zusammcnzukommen. In aller Herrgottsfrühe macht sie weite Spaziergänge, die schon mehr ein Bcrgkraxcln sind, und auch heute ist sie schon vor Tag in die Berge gestiegen. Sie ganz allein Und in den letzten Tagen sollen hier Wilderer in den Wäldern ihr Unwesen treiben. Darum ängstige ich mich schon seit dem frühen Morgen. Wenn ihr nun was passiert, ich würde es ja nicht überleben, ich habe doch die Ver antwortung für die beiden Mädchen übernommen. Helfen Sie mir doch, lieber Herr Gregori!* »Aber selbstverständlich, darum bin ich doch hier, das heißt, ich bin hergekommen... Doch wo ist sie denn nur hingegangcn?' »Hier, diesen Zettel hat sie mir auf den Tisch im Wohn zimmer hingelegt.* »Tann ist sie also zu jener Höhe hinauf, wenn ich mich nicht irre — nicht wahr?* Benno war ans Fenster ge treten und zeigte nach dem hohen Berge, der drüben im Tal aufstieg. »Ja, das Unglückskind wollte dort schon immer hinauf und hat es nur noch nicht getan, weil ich es stets verbot, wenn sie davon ansing. Nun hat sie es doch heimlich getan. Ach, wenn ihr nun so ein Wilddieb entgegenkommt?* Tränen rollten bei diesen Worten über die bleichen Wangen der alten Dame. »Ich werde mich sofort auf den Weg machen, um mein... das gnädige Fräulein zu suchen*, sagte Benno hastig, neigte sich über Tante Brigittes Hand und stürmte zur Tür hinaus. Tante Brigitte aber trocknete umständlich ihre Tränen, putzte dann ihre Brillengläser und blickt« nachdenklich aus dem Fenster. Und als sic jetzt den jungen Mann mit langen, schnellen Schritten durch den Garten auf die Straße eilen sah, da atmete sie befreit auf, und ein Lächeln huschte über ihr faltiges Gesicht. »Ja, ja, hol' dir nur dein... Mädchen, mein Jungchen! Ich wäre nur erst froh, wenn du sie schon getrofsrn und hergebracht hast. Wirst schon ebenso große Angst jetzt habe» wie ich vorher.* Und als Grete ins Zimmer trat, da sagt« sie au- ticsstem Herzensgründe: