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5. Beilage zum Riesaer Tageblatt. Sonnavend, 13. Mai 1983, avenvs. 86. Jahrg. Nun haben wir mal wieder Mai, Wie schlägt daS Herz vor Freude. Der böse Winter ist vorbei Mit allem seinem Leide. Es lacht die Welt im Blütenduft Berauscht mit süßer Wonne. Ob, köstlich frische Maieuluft, Oh, schöne Maiensonue. Der wunderschöne Monat Mai, von allen in jedem Jahr aufs herzlichste begrüßt, hat in diesem Jahre an feinem ersten Tage, am „Tage der Arbeit", eine solche Begrüßung erlebt, wie sie bis heute wohl noch nicht dagcwcsen ist. Noch nie hat Deutschland in einem solchen Flaggcnmccr ge standen, noch nie haben sich in Deutschland soich imvosante Massen am Fcstzug beteiligt, wie an diesem Tage. Zn allem machte der Himmel sein schönstes «Besicht und trug so auch zur Verschönerung und zum Gelingen des National- sestcs bei. Was alles au diesem Tage zu erleben und zu sehen war, ist euch ja in den Zeitungen ausführlich in Wort und Bild geschildert worden. Ein kleines Erlebnis, das euch bisher noch nicht be richtet worden ist, habe ich gehabt. Ein kleines Kind kutschierte mit einem Ziegcnbvctgespann über die Straße, um zum Sammelplatz für die Teilnehmer des FestzugcS zu gelange«. Eine J-rau, die mit ihrem Kind auf dem Bürger steig stand, sagte, als das schöne kleine Genährt vorüberfuhr: „Sieh mal, Liebling, was für ein schönes kleines Eselchen!" Dabei zeigte sie auf den Ziegenbock. „Seit wann haben die Esel denn Hörner?" fragte das Kind die kluge Mutter. Ter brave Ziegenbock jedoch, offen sichtlich beleidigt, mit einem Esel verwechselt worden zu sein, ging mit gesenkten Hörnern zum Angriff über, weil wohl ein Esel, nicht aber ein Ziegenbock sich alles gefallen läßt. * Wohl haben alle am l. Akai aus unseres Reichskanzlers Rede bas Programm für das erste Jahr des Aufbaues ge hört, und jeder wird wohl mit besonderer Freude seine Ab sicht gehört haben, wie er die Arbeitslosigkeit zu beheben ge denkt. Er sprach unter anderem von privater Arbeits beschaffung, die er darin sieht, daß wieder einmal alle Deutsche Häuier und Wohnungen in Ordnung bringen sollen, und daß auch der Privatmann besorgt sein soll, nach Möglichkeit jedem Handwerker, sei es der Schneider, der Schuhmacher, der Klempner oder wer cs sei, Arbeitsausträge zu erteilen, damit aus diese Weise wieder Hunderttanscnde zu Arbeit kommen. Eine Ansicht, die ich voll und ganz unterstreichen kann, lieber die Angelegenheit „Private Arbeitsbeschaffung" habe ich schon vor einiger Zeit geschrieben. Ich schrieb über das unangebrachte Sparen und Gcldfesthaltcn vieler Leute, wo durch die Arbeitslosigkeit noch künstlich erhöht wird. Ich glaube, daß ich das, was ich damals schrieb, heute, nachdem ivir die Worte des Herrn Reichskanzlers gehört haben, euch noch einmal zur Beherzigung vvrsctzcu darf. Ich schrieb: Sparen ist bestimmt sehr wichtig, Doch die Wirtschaft zu beleben, Ist bestimmt cs auch sehr richtig. Einmal etwas anszugebcn. Wenn ivir alle leben wollen. Muß, trotzdem heut Spare» Trumpf, Unser Geld, das runde, rollen. Laß es nicht versteckt im Strumpf! Weil man stets nur sprach vom Sparen, Schasste mancher, dcr's noch kann. Sich -das Nötigste seit Jahren, Znkunftsbange, nicht mehr au. Beispielsweise könnt ihr scheu Hier die .Kleidung vom Herrn Pitt, Wiirdcst du mit solcher gehen? Nein, nicht einen einzigen Schritt! Pitt hält einen schönen Hansen Geld zu Hans im Schrank verwahrt, Doch — er möcht nichts Neues kaufen, Weil er geizig ist — und spart. So wie Pitt gibt'S viele Leute, Und so kommt cs, daß zum Schluß Mancher Handwerksmeister heute Mit den Seinen hungern muh. Besser unsre Wirtschaft stände, Alle kriegten etwas mit, Wenn nicht am verkehrten Ende Mancher sparte wie Herr Pitt. Mancher Hausherr, angstbeklommen, klebend falsche Sparsamkeit, Läßt sein schönes HanS verkommen. Hoffend auf 'ne bessrc Zeit. Schmutz und Bruch an allen Ecken, Ohne Farbe Tür und Tor, Loser Kalk fällt von den Decken. Heil kein einzig Abfallrohr. Die Tapeten sind verschlissen Auf des Hauses Dache sind Biele Ziegel loSgerissen, Durch die Löcher Reist der Wind. Wer in solchem schauderbaren Zustand sein Besitztum hält. Ist bei seinem falschen Sparest Eines Tages doch geprellt. Einmal muß cs doch geschehen, Daß man gründlich renoviert: Auf die Dauer kann's nicht gehen Daß mau keine Mark riskiert. Auch der Schreiner will heut leben, Maler, Klempner, Maucrmann. Soll die Wirtschaft sich beleben, I- angt ni a l sclbst zu kurbeln an! Laßt die Taler nicht verrosten, Die ihr zu verwahren liebt. Laßt auch euch cs mal was kosten, Daß es ivieder Arbeit gibt. Helft ihr nicht, ist für die Assen Alles Kurbeln in Berlin. Jede r muß, soll man es schaffen, Mit am gleichen Stricke zieh«! Ein weiteres Mittel, die deutsche Arbeitslosigkeit zu beheben, würde ich darin sehen, wenn jeder Deutsche endlich einmal das Bestreben Hütte, nur deutsche Waren zu kaufen, sich deutsch zu kleiden und deutsch zu c r n ähren! Mit dem Singen des Liedes „Deutschland, Deutschland, über alles" ist es noch lange nicht ge tan. Mancher singt es mit der größten Begeisterung, gießt sich aber auch mit der größten Begeisterung einen französi schen Kognak, ein Glas französischen Rotwein oder Sekt hinter die Binde, nicht daran denkend, daß unsere armen Winzer ihre Keller mit Weinen vvllgelagert haben, den sie in Deutschland nicht absetz..c können. Man wird es sicher keinem Wirt verdenken, wenn er auf seiner Weinkarte die eine oder die andere ausländische Marke führt, aber leider gibt es noch viele, viele Wirte, die nur, da mir gerade vom Wein sprechen, französischen Rotwein auf ihrer Karte füh ren, während der Rotwein vom Rhein und von der Ahr doch sicher mit den ausländischen Marken konkurrieren kann. Sicher haben wir auch nicht nötig, uns Anzüge ans cng- lichcn Stossen machen zu lassen, wenn unsere deutschen Fabriken gleichwertige Ware zu gleichen Preisen liefern. Ebenso wenig nötig haben wir es, amerikanische Aepfel auf unseren Tisch zu stellen, wenn unsere deutschen Obstzüch- tcr Erzeugnisse gleicher Qualität liefern. Ebenso gehört auf jeden 'ejsch deutsches Gemüse, und so könnte sta noch sebr viele Sa^-m ausülircn, die wir vom Ausland beziehen, die wir aber zu demselben Geld und vielleicht noch besser im eignen Laude kaufen könnten. Würde jeder den Spruch: „Deutsche, kauft deutsche Waren" beher zigen und danach handeln, dann würde auch dieses zu einem großen Teil dazu beitragen, die herr schende Arbeitslosigkeit zu beheben. Ich habe gestern meinem Freund, Herrn Landwirt und Kleingärtner Knickebein einen Besuch abgestattet. Herr Knickebein war voller Zufriedenheit und blickte stolz aus seine grünen Gemüsebeete, auf seine blühenden Obstbäume und sagte: „Jetzt endlich srcut man sich doch seiner Arbeit, da man doch sicher hoffen darf, seine Erzeugnisse aus dem Garten künftig restlos an seine deutschen Mitbürger abznsctzen." Hoffentlich haben jetzt, genau wie Herr Knickebein, alle deutschen Landwirte und Kleingärtner das Bcrtraucn, daß wir ihnen, indem wir uns nun nur noch mit deutschen Erzeug nissen ernähren wollen, helfen werden. Dieses Bcrtraucn gibt wieder die Freude an der Arbeit, die wir bisher so sehr entbehrt haben. Weil der Mutter heut wir denken, Will auch ich als braver Mann, Mutti, dir ein Sträußchen schenken Nimm es gnädig von mir an! Nimm dazu ein extra dickes Küßchen, das mein Muüd dir beut. fWas sie schmunzelt — kiek — es kiek e-s Ho-u, was sich die Mutti freuk!) Heute fließt kein böses Wörtchen Ucber meine Lippen, Kind Ich spendier ein Apfeltörtchen, Wenn wir gleich beim Kaffee sind. Fest will ich dir heut' versprechen, Nicht zum Stammtisch mehr zu gehn. Will das Doppelte jetzt blechen Für den Haushalt, du sollst sehn! sHömm!) Will dich ans den Händen tragen iLie wiegt huudertarhtzig Pfund) Will nur Schnucki zu dir sagen Mit zum Kuß gespitztem Mund. Wünsche dir das Allerbeste, WaS das Herz sich wünschen ma Heut an deinem schönen Feste, Das genannt der Muttertag! Schade, meine lieben Leser, daß ihr gleich nicht bei uns am Kasfcctisch sitzen könnt. Mein Töchterchen und ich haben meiner Frau zum Muttertag eine Torte gebacken. Die muß man gesehen haben! Tie ist so schö—ö—ö—n! Eine Wintertorte! Nach dem Rezept im Kochbuch haben wir den Teig angemengt. Ta fehlte nichts. Beim Backen sollte die Torte sechs Zentimeter hoch werden. DaS war sie auch, als wir sie aus der Backhaube nahmen. Aber sic blieb nicht so hoch. Sie wurde immer dünner. Zuletzt war sic so dünn wie ein Zigarrcnbreltchen und so hart wie Eis. Daher der Name Wintertvrte! Im Koch- und Backbuch stand: In erkaltetem Zustand schneidet man die Torte durch und legt die Füllung dazwischen. Das war nicht so einfach. Wir haben sie in einen Schraubstock ge klemmt und sind mit der Läge drangcgangen. Als wir sie in zwei Hälften zerlegt hatten, hat mein Töchterchen die eine Hälfte ö Zentimeter dick mit Gelee bestrichen, ich habe auf die andere Hälfte mit einem Meißel die Worte: „Der lieben Mutti zum Muttertag!" cingraviert, dann wurde die Hälfte wieder auf das Ganze gelegt und die „W i n t e r t o r t c", l> Zentimeter hoch, war fertig. Ich freue mich jetzt schon ans das Gesicht meiner Frau, wenn sie gleich unsere Wintertortc anschneidct. Mag's sein, wic's will, ich hab 's gut g e meint! Denkt daran, ich bin kein Bäcker, Wenn mau mir das Urteil spricht. Meine Tochter backt sonst lecker, Diesmal doch gclang's ihr nicht. Gut gemeint hatte cs auch Herr Wumva. der seiner Frau schon gestern abend zum Muttertag bescherte. „Bim— bim—bim", macht er gestern abend im Hausflur als er nach Hause kam,' „Mathilde, sieh mal, das Ehristkindchcn ist da- was dir das initgebracht hat. Tu hast dir doch zu Weihnach ten ein Paar Schneeschuhe gewünscht. Am Christtag hab' ich es vergessen. Aber heut' hab' ich dran gedacht! Wie gefal len sie dir? Und dann hier noch was! Einen Schirm, einen ganz modernen, wie unsre Oma einen hat. Was sagste jetzt?" Was Frau Wumba zu den ihr jetzt im Mai geschenkten Schneeschuhen und der langen Flinte, die zur Zeit der Königin Luise modern war, gesagt hat, will ich n-r nicht wiederholen. Es war zu schlim m ! Ernst Lächerlich. SWeiiliM M Sie See. Chemnitzer Brief. Es ist Mai geworden, die Natur prunkt im frischen grü nen Kleide, und weit nud unendlich blaut der Himmel über dem Tächermccr der Großstadt. Es ist die Zeit, da die Sehn sucht in den Herzen der Großstadtmenschen erwacht, die Sehn sucht hinanszudiirsen in die Weite, wandern zu können in Licht und Lust und Svliuenglanz. Alle können wirs nicht. Aber das Chemnitzer Wohl fahrtsamt hat es in diesen Tagen doch einer ganzen Reihe von Schulkindern aus der Großstadt und aus dem ganzen Kreishauptniannschastsbezirkc ermöglicht, hat einen ganzen Sammeltransport von über 7üll Kindern, darunter 14tt Chemnitzer, in ihr Kinderheim Lohme und in das Er holungsheim auf Wlcck gesandt. Aus dem ganzen Erzgebirge und aus dem Botlandc strömen die Kinder iu Chemnitz zusammen: blonde Mädels und blauäugige Jungen, liebes, munteres Volk, das zum ersten Male den nächtlichen Betrieb auf -em großstädtischen Bahnhof sah und Augen machte, die fast noch größer schienen als die Scheinwerfer der fauchenden Lokomotiven. Unablässig gingen die Blicke umher. Jeder Elektrokarren löste Rufe des Staunens aus, icdcr ankom mende Zug wurde mit Hurra begrüßt. Tic Verbindungs brücken zwischen den einzelnen T-Zugwageu ldcr Chem nitzer Bahnhof hatte 1ä Wagen seines besten Materials ge stellt) hatte es den Jungen natürlich besonders angetan. Wie die Wicicl flitzten sic von einem zum andern Wagen, dic- wcilcn die Mädels die Zeit der Abfahrt schon nicht mehr er warten konnten: wo man sich auch sehen ließ an einer Wagenrcihe, überall dieselbe nngebuldiac Frage der kleinen Blondköpfe: wann geht es weiter? Schon haben einige, die die See schon nicht mehr erwarten können, mitten in dem abendlichen Tnnkel die Schutzbrille aufgesetzt. Ein Presse photograph eilt über de« Bahnsteig. Armer Kerl! Wenn er jede Kindcrbitte erfüllen wollte, er müßte noch nm nächsten Morgen photographieren, denn photographiert werden wollen sie alle. Stiller geht cs in den Wagen zu, die die Chemnitzer Kinder besetzt haben. IUnterwegs wird man noch in Mitt weida, Waldheim, Töbeln und Riesa Kinder anfnchmen.) Hier stehen meist Vater und Mutter noch bei ihren Lieb lingen, und sechs, sieben, acht Kinderköpsc beugen sich über einander weg aus den breiten Fenstern. Die Mütter können es nicht lassen: es hagelt noch ganze Serien von Wünschen und Ermahnungen, von guten Lehren und Aufträgen. Aber keines der Kleinen hört dranf. Sie sind alle schon an der See. Eins hat sich zu weit hcrausgcbeugt, muß die Tücke des Bahuhoss erfahren: ein Kohlcnkörnlcin sitzt im Ange, und will nicht weichen. Ter begleitende Arzt, dem ein eigner Sanitätswagen zur Verfügung steht, hat schon die erste Arbeit. Vorsorglich zeitig wird das Signal zum Einstcigen ge geben. Tic Türen werden geschlossen. Fähnchen werden an den Fenstern angebracht, und wie dann der letzte Händedruck erledigt ist, setzt sich die Lokomotive in Bewegung Es ist eine Chemnitzer Maschine, eine herrliche, wuchtige Hnrtmann- maschine. Hunderte von Taschentüchern wehen. Hunderte von Kinderstimmcn jauchzen, nur in dem Muttcraugc kann man Tränen schimmern sehen. Seltsames Muttcrherz! Sie fahren doch der Lonne, der See und dem Glück entgegen! Im glutroten Scheine der Lokomotive hebt sich dunkel und anfgcrcckt die Gestalt des Maschinciiführers ab. Geradeaus geht sein Blick in die dunkle Nacht. Er sühlt die hohe Ver antwortung, die heute auf ihm ruht: 7lli> Kinder fährt er hinaus, ein Stück deutscher Zukunft, das die See stärken und gesunden soll zu kommenden Jahren des Kampfes und des Aufbans! Loh eng rin.