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194 düster geworden, daß der Regen in schweren Tropfen nieder fiel, er hörte nicht den Donner in der Ferne grollen. Erst als ein rasche» Klopfen an der Thür hörbar ward, hob er den gesenkten Kopf. .Herein!' Lin alter Mann in Schiffertracht trat über die Schwelle. Er schaute unruhig um sich her und dann den Pfarrer an. .Was gickt «S, RemtS?" »Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, ich — ich wollte nur frage», ob — Lucia, Fräulein Lucia hier ist?" Und dabei fuhr er mit der Hand über die nasse Stirn. .Lucia, nein, wa» ist'» mit ihr, — ReentS, waS habt Ihr?!" klang es atheullos zurück. Der alte Mann schien die Sorte nicht finden zu können, er sah angstvoll und bittend zu dem Pastor hinüber. .Verzeihen Sie, Herr Pfarrer, «» ist nicht meine Schuld, — aber sie bat so viel, eS war ja zum letzten Mal, ich wollte selbst, aber .Weiter, Wetter, Mann, so kommt doch zuIEnde, wo ist Lucia?" Mit einem Segelbot aufs Wasser hinaus," rang eS sich endlich lo». .Großer Gott! Und allein?" .Ja, sie wollte e» so, — sie hat es ost gethan, — es schadet auch sonst nicht, sie weiß das Boot zu führen, wie der beste Schiffsmann, — aber jetzt kommt edi Wetter auf, s sie könnte zu weit hinaus gerathea sein, könnte nicht die nöthige Kraft haben. Herr Gott, was fangen wir an!" .Fort, fort, Mann, und helfen so schnell wie möglich! Nehmt ei» anderes Boot, wir müssen ihr nach, müssen sie retten! O, diese» Wetter, — wird es nicht schon zu spät sein, — Lucia!" Er stürzte hinaus, todtesbleich, der Schiffer ihm nach. .Sie brauchen sich nicht so zu ängstigen, Herr Pfarrer, es ist nicht so schlimm, sie versteht zu rudern," so wollte er trösten. Aber der Pastor hörte ihn nicht. Wie km Fluge eilte er dahin, der Alle vermochte ihm nicht zur Seite zu bleiben. Es war ein furchtbares Wetter, der Regen strömte vom nachtschwarzeu Himmel, Blitze zuckte», und daS dumpfe Grollen der See klang unheilverkündend näher und näher. Wenn sie noch draußen war, so war sie verloren! Der Pfarrer dachte eS, und sein Herz wollte fast stocken. Da zwischen den Dünen schienen noch die weißen Schaumköpfe der wildrollenden Wellen hervor. Was mußte nun kommen? Schneller und schneller eilte er weiter und dann stand er plötzlich wie angewurzelt da. War eS eine Vision? Kam sie nicht daher, zwischen den ersten Dünen dort? Ja, sie war es, bleich, todtmüde, mit wirre», »affen Haaren, ohne Hut und Tuch. .Lucia!" Mit unendlichem Dank, laut jubelnd kam der Name von seinen Lippen. Und noch einmal: .Lucia!" Sie stand schon vor ihm, seine Arme hatten sie schon an sich gezogen, heftig, voll Leidenschaft. Er fühlte, wie sie den Kopf an seine Brust schmiegte, wie ein krampfhaftes Schluchzen ihren Körper erschüttern machte. Ach, er war auch nur ein Mensch mit Fleisch und Blut, — fester und fester preßte er sie an sich, heiße Worte drängten sich auf seine Lippen, un aufhaltsam. — Da hob sie den Kopf, die thräneuden Augen zu ihm em por, in demüthiger Bitte. Aber sie schloß sie urplötzlich Bieder, erschreckt vordem Strahl, der ihr da entgegenbrach, sie sentte das Haupt wieder aus seine Schulter und erschauerte. DaS brachte ihn zu sich. Seine Arme lösten sich auch heftig, seine Zähne preßten sich wie im Schmerz aufeinander, — und dann stand er wieder da, ruhig, kühl, wie immer. Jetzt war auch der alle Schiffer herangekommen, athem- los, schweißbedeckt vom raschen Lauf. Er streichelte deS Mädchens Hände, gab ihr tausend Schmeichelnamen, nannte sie eine böse Ausreißerin, ein Teufels mädchen, das eine Medaille verdient hätte. »Bin ich schuld daran, Luciechen, sqg'S, hab' ich es gewollt?" Sie schüttelte mit mattem Lächeln den Kopf. »Nein, Vater Reents, Ihr nicht, ich, ich allein trage die Schuld." Und wieder wandte sich ihr Blick, Verzeihung flehend,' auf den Onkel. Sie hatte sein Gebot übertreten; er hatte eS ihr ein für allemal streng untersagt, aufs Wasser hinaus zu fahren, wie sie es doch so gerne that und früher auch so oft gethan hatte. Aber da kam sein Verbot und sie ward ihm gehorsam, bis heute. Sie mußte noch einmal auf die See hinaus, sie konnte dem Drängen nicht widerstehen, es war so wunderbar schön da draußen, so ganz allein, nur umrauscht vom Wellen gesänge. Und es kam auch noch etwas anderes hinzu, daS sie hinausgetrieben, Trotz und Bitterkeit gegen den Mann da, aus dessen Stirn nun ein so tiefer Schatten lag, den sie ge kränkt mit ihrem Ungehorsam, der sich um sie geängstigt hatte. Er faßte plötzlich ihre Hand. „Komm jetzt, Lucia, wir muffen uns eilen, Deine nassen Kleider könnten Dir leicht eine heftige Erkältung, wenn nicht noch Schlimmeres zuziehen." Sie folgte ihm schweigend. Der Alte war noch etwas weiter hinabgegangen, um nach seinem Boot zu sehen, so traten die Beiden allein den Heimweg an. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Himmel war noch schwer und düster, jeden Augenblick konnte er neue Güsse senden. Sie mußten deshalb eilen, um so schnell als möglich das schützende Dach zu erreichen. Lucka hielt wacker mit dem voraneilenden Manne Schritt, aber nicht lange, sie hatte ihre Kräfte übermäßig anstrengen müssen da draußen, in dem Kampf ums Leben, jetzt waren sie zu Ende. »Ich kann nicht mehr!" Der Pfarrer wandte sich tief erschrocken nach dem zitternden, erschöpften Mädchen um. Sie schwankte fast, und im nächsten Augenblick stand er neben ihr, sie stützend. Sie waren noch eine ziemliche Strecke vom Dorfe ent fernt, und eben brach der Sturm aufs Neue los, der Regen floß wieder in Strömen. Rathlos schaute der Pfarrer umher — da, nicht weit von ihnen, stand ja der Leine hölzerne Pavillon, eben für solchen Zweck hergestellt, um den vom Regen überraschten oder auch nur ermüdeten Badegästen eine Zuflucht zu gewähren. Schnell entschlossen hob er das ermattete Mädchen auf seine Arme und trug es hinüber. Sie waren dort jetzt, vor dem Unwetter geschützt und Lucia konnte sich eine Weile ausruhen. Sie saß auf der Bank und hatte den müden Kopf zurückgelehnt, während langsam Tropfen auf Tropfen durch die leicht geschloffenen Lider rann. Endlich erhob sie sich leise und trat zu dem Pfarrer hin, der in dem offenen Eingang stand und finster und unruhig in den immer noch strömenden Regen sah. „Onkel, vergieb!" schluchzte sie, seine niederhängende Rechte erfassend. Er ließ sie ihr, aber sah sie nicht an. „Du hast mir weh gethan, Lucia, mir qualvolle Augen- — 185 blicke bereitet, — welches Unheil hätte darau» entstehen könne»!" .Ja," sagte sie.leise, „ja, ich wäre fast nicht wiedergekehrt." Seine Hand zuckte in der ihren, er entzog sie schnell. „Das kommt davon, wenn ein Mädchen Mänuersport treibt." .DaS war erdicht, Onkel, o, gewiß das nicht. Mir war nur so unendlich weh zu Mothe, und da dachte ich, es müßte auf dem Waffer besser werden. Ich mußte doch auch Abschied nehmen." Ihre Stimme brach. „Thut Dir denn da» Scheiden so weh?" M erschrak selbst vor seiner Frage. »Ob es mir weh thut? Und daS fragst Du noch, Onkel, daS weißt Du nicht? O, Du siehst eS wohl, wie ich mich härme deswegen, aber Du magst mich nicht mehr um Dich haben. Onkel," schluchzte sie plötzlich auf, »was habe ich Dir nur gethan, daß Du mich so gar nicht ein wenig lieb hast, daß Du mich nicht leiden kannst!" Er preßte die Lippen aufeinander, seine Gestalt erbebte, aber er schwieg beharrlich. „Laß mich nicht fort, Onkel," begann sie wieder bittend mit innigem Ton, „mir graut so vor der fremden Welt, wo ich Niemanden lieb haben kann. Laß mich bleiben, ich will alles thun, was Du willst, will alles lernen, waS Mutter Rika kann, Stopfen und Flicken und was eS noch mehr giebt. Laß mich nicht fort!" Ob sie eS denn garnicht ahnte, wie furchtbar sie den Mann da neben ihr versuchte, fast bis an die Grenzen seiner Kraft? Ach, in seinem Herzen sprach ja eine ebenso bittende Stimme, und er mußte sich wehren bis aufS Blut gegen diese beiden Versucher, die ihn seine Pflicht vergessen machen wollten. Nur nicht jetzt erliegen im Kampfe. „Darf ich bleiben, Onkel?" Die zuckenden Mädchen lippen berührten schmeichelnd seine Hand. Er stieß sie von sich. „Du bist kindisch, Lucia," sagte er schwerathmend. „Ich halte diesen Aufenthalt in der^Stadt für Dich unumgänglich nöthig. Du mußt die Welt und die Menschen kennen lernen. Sprich nun nicht mehr davon, es kann nicht sein. Und nun komm!" Er mußte um jeden Preis diesem Kampfe, diesem ge fährlichen Beisammensein ein Ende machen. Aber sie sprach auch nichts mehr, sie ging bleich und schweigend neben ihm dem Dorfe zu. — Als Hans Waldau, der Verabredung gemäß, am Abend sich wieder im Pfarrhause einfand, traf er den Freund in selt sam gereizter Stimmung, und Lucia hatte bereits ihr Lager aufgesucht. Mutter Rika hatte nicht eher geruht, sie fürchtete alles Mögliche und Unmögliche für ihren Liebling. Noch ganz unter dem Eindruck deS ersten Schreckens er zählte sie dem Maler, in welcher Gefahr daS Kind geschwebt hätte, wie es matt und blaß jetzt in den Kiffen läge und ge wiß noch von einer heftigen Krankheit befallen würde. Bon einer Abreise den nächsten Tag könne garnicht die Rede sein. „Ach, Du lieber Gott, waS soll das noch werden! Wenn daS Kind nur unter den Kiffen bleibt, ich habe ihr Flieder- thee gegeben, das soll ihr gut thun. Und sie sieht so eigen aus. Ach, Herr Waldau, mir ist so angst, waS soll ich nur machen?" So jammerte die Alte und eilte dann wseder hinaus an da» Bett ihres Lieblings, klopfte ihr die Kiffen auf und fühlte ihre Stirn und Hände, ob auch nicht kommen. Morgen war sie sicher tob Bett nicht mehr verlassen. Aber von alledem geschah nichts. Luck. Morgen kam, wieder frisch und gesund Federn, sie hatte ja für die Abreise »och Sie weinte und klagte jetzt nicht mehr, und als kam, konnte sie gar mit ihm lachen und scherze», sollte «S sehen, wie schwer ihr der Abschied wurde, vor alle» Dingen er nicht, der ihr so weh gethan, der sie kindisch ge scholten, weil sie die Heimath nicht lasse« mochte. Und endlich kam der letzte, so gefünPete Moment, sie ihm die Hand reichen mußte zum^Scheiden. Mutter RikaS Umarmung und heiße Segenswünsche hatte sie bereits empfangen, jetzt stand sie vor ihm und ihre Hand streckte sich ihm zagend und kühl entgegen. „Adieu, Onkel, und hab' Dank für — Barmherzigkeit," klang es bitter »ach. Er sah sie verwundert und forschend an. Der Zug von Trotz und Bitterkeit in dem jungen^Gesicht war ihm fremd. Auch die blauen Augen blickten anders als sonst, und sie blieben völlig trocken. ES that ihm weh und seine Stimme bebte, alS er jetzt zu ihr sprach: „ES wird Dir da draußen manches begegne«, was bis ¬ her Dir fremd blieb, Gates und BöseS, auch manche Sünde, aber ich vertraue Dir, Lucia." Sie neigte leicht daS Haupt. „DaS ist ja alle» auch unumgänglich nöthig, Onkel." Sie gebrauchte seine eigenen Worte, abfkhtlich »der un bewußt, aber sie thoten ihre Wirkung. Er ließ ihre Hand plötzlich fallen und trat zurück. „Leb' wohl, Gott schütze Dich!" „Adieu, Onkel!" Sie warf sich noch einmal in Mutter Nikas Arme, «ck jetzt war eS, als wollte sich eia Schluchzen aus ihrer Brust hervorbrechen, aber sie ermannte sich und ging da«« ruhig an deS MalerS Seite von dannen. Aber seltsam schwer wurden ihr doch die Schritte, die Füße versagten ihr fast den Dienst. Und dabet hatte sie das Gefühl, al» ob sie nie im Leben wieder froh werd« könne, um dieses Abschieds willen. Halb trotzig, halb zagend streifte ihr Blick nochmal» die alte liebe Stätte. Der stmck noch an der Gartenpforte, er hatte sich auf das Stucket gestützt, und es war ihr, als sei sein Antlitz bleicher wie sonst. Die frischen Mädchenlippen preßt« sich wie im Schmerz zusammen, und eia« Mommt stand sie zögernd still. Dana aber ging sie wieder weiter an des MalerS Seite, der so lustig plauderte und ihr so glänzende Bilder entwarf von de« neuen Hei«, dem sie entgegen ging. Er that eS augenscheinlich, «n ihr über die Schwere des Abschieds hinwegzuhelfen. Aber sie hörte nicht darauf, es waren andere Gedanken, die sie erfüllt«. Noch wenige Schritte, dann war sie um die Biegung jenes HauseS, und das heimathliche Dach unter dm grün« Lind« war ihr« Blick« entschwunden. Der lustige Onkel Hans plauderte immer fort, — er hatte es gar nicht bemerkt, daß die flink« Kühe urplötzlich sich gewandt hatten und die schlank Mädchengestalt wie ttn Fluge dahintrugen, den Weg zurück, dm sie gekoimnm. Jetzt erst wandte er sich nach ihr um und sah sie davoneilm. Sie stand bereits vor der Pforte', die vor wenig« Augenblicken sich erst hinter ihr geschloffen. Und dort «ter den Lind« stand auch er noch und schaute sie jetzt erschreckt« Blickes an. Dann aber flog e» wie ein Laufen über sedl Angesicht. „Ich kann nicht fort, On'?l, ich kann nicht!"