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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 31.05.1908
- Erscheinungsdatum
- 1908-05-31
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-190805313
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19080531
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19080531
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- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1908
-
Monat
1908-05
- Tag 1908-05-31
-
Monat
1908-05
-
Jahr
1908
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,»«ÄW«er TaMaN. Nr. ISO. l02. Jahraana. Ein niedevsSchfifchcr tzeinratsfest. Äon Wilhelm Poeck. An die „HeimatSkunst" soll man nicht die Maßstäbe der „großen Kunst" legen; 70 will auch ich es nicht tun. Man kann zweifelhaft jein, ob nicht die Hcimatskunsl mit ibrer Gebundenheit, ihrem kleinen Hori zont, ihrer enggesteckten Marschroute, ihrem Konservativismus saft schon zur Feindin der „großen Kunst" wird. Ob nicht mit allen Mitteln eine Reaktion auzubahncn ist, die nach all der Milieu-, der Klein- und Erdenwinkelkunst in unser Leben wieder einen großen Zug der Be freiung, der Erlösung bringt. Sv wie Goethe und schiller fie um die vorvorige Jahrhundertwende, wie Hebbel sic um die Mitte des vorigen Jahrhunderts brachten. Aber ein Goethe, ein Schiller, ein Hebbel sind Gescheite der Gott heit. So dürfen wir wohl, da ein ganz Großer nach chnen nicht er schienen ist, der Heimatsknnst nicht den Stuhl vor die Tür setzen. Es ist gut, daß wir fie haben, und wir wollen uns an ihr freuen. Nur wollen wir nicht in ihr versimpeln. Wir wollen über sie hinweg immer den Blick aus jenen Horizont der Unendlichkeit gerichtet halten, den uns Goethe und Nietzsche, Rembrandt und Michelangelo in ihren Werken zeigen. Dann wird uns der richtige Maßstab für die Einschätzung der Heimatskunst mit ihren zahlreichen arbeitsfrohcn Hirnen und Händen, ihrer getreuen Kleinarbeit und ihrer erfreulichen Bodenständigkeit immer vor Augen sein. Baut sie sich auch keine Paläste, kann sie auch keine großen und neuschöpferischen Gedanken hervorbringen, so hat sie dafür etwas von der Ordunng und dem Wesen des Biencnstaates, in dem tausend kleine Flügel sich regen, um seinen reinen und guten Honig zu erzeugen. * * * So fuhr ich deun nach dem in der Mitte zwischen Hamburg und Bremen gelegenen Heidcmtt Scheeßel, wo der Berein für niederfäch fisch es Bolkstum in Bremen am verflossenen Sonnabend und Sonntag ein großes „Heimatsfesl" veranstaltet hatte. Niedersachsen war es, dessen Stammeseigenart sich äußerlich in den buntmalcrischen Volkstrachten des alten Wigmodigaues, innerlich in architektonischen, kunstgewerblichen und malerischen Darstellungen, in dramatischen Bildern und gesprochenem Wort nach vier Jahren wieder neu betonen wollte. Damals sand dort das erste niederiächsische Hei- matssest statt, das sich im wesentlichen als „Trachtenfest" darstellte. Seine beste Frucht war nicht die Neubelebung oder Erkaltung der alten Frauentrachten — denn die ist unmöglich; ist doch z. Ä. von den alten Männcrrrachtcn längst jedes Charakteristikum vcrfchwundcn —, son dern die' Gründung des Vereins für niedersächsisches Volkstum. Um es gleich zu sagen: dieser Bremer Verein hat Tüchtiges ge leistet. Er hat Gedanken, die implicttc von den Worpswcdern, explicitc von Schultze-Naumburg und den übrigen Kunstwartleutcn seit langen Jakren dargeslellt und entwickelt worden sind, ausgenommen. Er hat einsichtige Männer gesunden — das bewiesen die Rede des Bremer Lehrers Brandes und die vorzügliche Demonstration Dr. Schaefers —, die diese Gedanken für Niedersachsen aufzunchmcn und zu entwickeln verstanden. Beispiele und Gegenbeispiele guter und schlechter Bauern hausarchitektur, bei denen vergleichsweise alte Bauernkaustypen aus ganz Deutschland herangezogen wurden, bewiesen dies in hübschen Licht- bilderdarstcllungcn. Deutlicher noch zeigten dies dem nachdenklichen Beschauer die in einem alten Bauernhause ausgestellten architektonilchcn Entwürfe von niedersächsischen Bauern-, Schul-, Jörsterhäufern, sowie Eiscnbahnstationsgebäuden. Mir hat das Herz im Leibe gelacht, als ich das alte strohgedeckte niedersächsische Bauernhaus, das in seinem Grundtvp in Schleswig-Holstein, Hannover und Westfalen das nämliche ist — ach, leider gewesen ist! — wie dies, in Zieaeldachkonstruktion aus geführt, zu neuem Leben erwacht dastehen sah. Wie an den Grundlinien nichts geändert, nichts verschoben ist, wie Dach und Wand, Wohnräume, Flett und Piebställe sich in ihrem Verhältnis zu einander darstellen als alte Freunde aus der Vorzeit, und wie sic doch jeder vernünftigen technischen Neuerung in ihnen ein Plätzchen gönnen: wenn es nur der Bauer will! Ein großes plastisches Modell mit aufgeklapptem Dach erläuterte diese bautechnisch so einfache und darum überzeugende archi- iektonische Entwicklung des alten Bauernhausgcdankcns in vorzüglicher Weise. Und ich wünschte im stillen: möchten doch unsere niederdeutschen Bauern von der Königsau bis zur Sprachgrenze der zweiten Lautvcr- 'chiebung sich mit diesen Hausmodcllen recht eingehend bekanntmachen, damit endlich die handwerksmäßige Verschandelung unserer Dörfer durch öde Steinkasten mit Pappdächern aufkört. Sehr schön sind auch die Schulhausentwurfe. Sie sind für alle Gegenden mit reiner Ziegel- bautcchnik verwendbar; besonders auf sie möchte ich die Aufmerksamkeit unserer Gemeinden und Schulbehörden hinlcnken. Zur Architektonik tritt das Kunstgewerbe. Hier gebührt die Palme einem Manne von bescheidener Zurückhaltung, von vielseitiger Be gabung. Es ist ein Msirit.us rootor des ganzen Festes, der Künstler Ernst Müller-Scheeßeb Ob er malt, mimt oder künstlerisch-technische Entwürfe macht, immer gibt er sich selbst, immer etwas Gutes und Echtes, Kann seine „Heidestimmung" auch nicht den Vergleich mir ver Kunst der Worpswcder auSkalten, vor allem nicht mit der dichterisch empfundenen „Märchenerzählerin" Vogelers, so entschädigen uns dafür die von ihm entworfenen Möbelstücke. Seine von Heinrich Bogeler und den übrigen Preisrichtern ausgezeichnete Zimmereinrichtung: Tiich, Stühle und Schrank aus poliertem Birkenholz mit Intarsien, sind Glanzstücke. Birke war früher mal modern, wurde abgcsetzt, wird sich aber durch den wundervollen silbrigen Wellenschlag und die edle Fascrkonstruktion ihres .Holzes, die an Ahorn erinnert, immer wieder in die Herzen der Liebhaber hineinschmeicheln. Vor allem in die der Heidesrcunde. Denn die Birke ist, wie kaum ein anderer, ein echt nor discher. ein Heidebaum. Ihre lyrische Zartheit erscheint in den Müller- 'chcn Entwürfen selbst in die praktischen Gebrauchsstücke hinübergerettct. Ein Entzücken für jede Hausfrau, die ihre Sachen ju schonen versteht! Daneben auf der Bauerndiete famose praktische Stühle von Schu macher-Winterhude, neubelcbter altländer Hausrat von Corleis-Buxte- hude mit farbenfreudigen Hanbschnitzereien und dem Kunsttrick der verkürzten Stuhlhinterbeine lum die Lehnensteishcit der Originalstühle zu milderns, ferner sehr behagliche und lächerlich billige Sitztruhen, Stühle und Tische des Harsefelder Möbelhauses von Ahrens L Dreyer. Fein durchgcbiü>eten Künstlergeschmack verraten die geradlinigen Stuhl entwürfe von Theo Herrmann, die, in grünen, roten und braunen Beizen ausgeführt, das Auge des Beschauers erfreuen. Zu erwähnen sind ferner die altländer Silberfiligranarbeiten, die allerdings Ansätze zu neuen Formen nur bei einem Aussteller erkennen ließen. Sie werden in Buxtehude angefertigt und meistens nach Badeorten, wenig mehr nach dem Altenlande verkauft. Auch schneeweiße Schnuckenfcllc fesseln unsere Aufmerksamkeit. Daß man aber die braven Schnucken nach ihrem Tode in Tiger und sonstige reißeitde Tiere verwandelt und diese den Besuchern des Heimatsfestes extra vorführt, hätte die AnS- stellungslcitung nicht gestatten sollen. Wie sagt Klaus Groth: Gros oder fin, Beer oder Win — Aber echt mutt et sin. * * * Was an plattdeutscher und hochdeutscher Heimatsliteratur ausgelegt war, war weder zahlreich, noch bedeutend. Von nur bescheidenem lite- rarsschen Wert waren die beiden plattdeutschen Baucrnstucke „De eeken Lad" von Friedrich Freudenthal-Fintel und „Wigmodi" von Albert Lemmermann-Meinsredt. Das erstgenannte „Bauernstück" ist eine Apotheose der Heimatslicbe und verfolgt zugleich die Tendenz, die Bauern auf die Schönheit und den Wert ihres alten Hausrats kinzu- wcisen. In ihm konnte man niederdeutsche Bauern Theater spielen iekcn. Schlierieer und Oberammergau standen zwar nicht au» der be- icknidcnen Scbccßler Bühne. Das gedämpfte, schwerfällige Tempera- incnt des Norddeutschen kann sich nicht so leicht wie das süddeutsche zu der naiven Unbefangenheit durchringen, die TlwliaS Dienst erfordert. Aber echt waren sie, richtige Plattdeutsche in Haltung und st-iebärde, sprechen und Spuck», Derbheit und Feinheit. Mit besonderem Bei- all nahm die aus d«r ländlichen Umgegend, Hamburg und Bremen berbeigeströmtc zahlreiche Zuhörcrsckzast die Bauernszenen des Stückes „Wigmodi" entgegen. Es ist zwar vlme eigentlichen dramatischen Kern und streift die vitalen Interessen, das wirkliche Leben des nie-erlaclist- ichcn Bauern nur mit leichter Hand, weiß aber durch einen eingelegten Baucrntanz „Kuntra von achter rinn" zu fesseln. 'Verfasser und Dar steller sind Lehrer, Mitglieder des Hamburgischen Vereins Wigmodi, der den alten Gaunamen deL Distrikts zwischen Elbe und Weier zur Tenne seiner hcimatsfreundlichcn 'Bestrebungen macht. Sv hübsch das Stück gespielt wurde und so gni es in den Nahmen eines Vvlkssestes paßte, wünschenswert wären doch auch Volksstücke, die nelwn der Situa- tionsmalerei auch wirkliche Handlung, wirkliche Konflikte geben, an Feuilleton, denen das Bauernlebeu nicht arm rst. Ich denke au di« Anzengrrrber- schen und Stavenhagenfchen Dichtungen. Der Verein für nieder sächsisches Volkstum in Bremen hatte sür di« Erlangung der oben er wähnten Bauernhauscnttvürfe Preise ausgeschrieben. Vielleicht er muntert er in gleicher Weise auch einmal die norddeutschen Dichter zur Schöpfung niedersächsischer Bauernstücke von wirklich literarischem und dramatischem Gehalt. * * * Eine der wichtigsten mit der Erhaltung des niedersächsischen Volks tums verguickten Fragen ist der Bestand und die Erhaltung der platt deutschen Sprach«. Wie die alten Kostüme, das alte Bauernhaus, der äußere, so ist seine Sprache der innere Wesensausdruck der nieder sächsischen Bauern. Was von der Bühne mit plastischem Ausdruck und drastischer Wendung herunterklang, ja, das war noch die alte Nicder- fossensprache. so wie sic fern von den großen Kulturzentren oas Volk spricht. Und daß es auch noch in Norddeutfchland Gebildete gibt, die ihrer Muttersprache treu geblieben sind, das bewies die plattdeutsche Ansprache des Pastors Wagner aus Cadenberge. Aber wie lange wird das Plattdeutsche Bestand haben? Werden Jakob Grimm und Reuter recht behalten, die sein baldiges Absterben vorausjagten? Ich mußte an deren pessimistische Prophezeiungen denken, als ich auf dem Festplatze Bauernmädchen in niedersächsischer Tracht unter sich und mit anderen hochdeutsch sprechen hörte. Oder dürfen wir dem ettvas zu versichtlicheren Urteil Klaus Groths trauen, der der plattdeutschen Sprache im Gegensatz zu Grimm noch eine lange Lebensdauer zuzu schreiben geneigt ist? Ich maße mir nicht an, diese Frage zu ent scheiden. Gewiß ist nur eins: daß sie in der Nähe der großen Städte zurückgcht. Aber dieser Rückgang läßt sich sicher verlangsamen, wenn die Gebildeten sich ihrer in der richtigen Weise annekmen. Wenn häufiger, als es jetzt noch geschieht, die Prediger in niederdeutschen Bezirken von der Kanzel plattdeutsch zur Gemeinde sprechen, wenn die Lehrer nicht gar zu selten in der Schule eine plattdeutsche Lippe riskieren, wenn die Schullelebücher von unserer reichhaltigen, guten plattdeutschen Literatur mebr Auswahl bringen würden, damit der Niederdeutsche seine Sprache wieder achten und schätzen lernt und, anstatt im Verkehr mit Gebildeten ein schreckliches hochdeutsches Kauderwelsch von sich zu geben, so spricht, wie ihm der plattdeutsche Schnabel gewachsen ist. Vielleicht dünkt das dem einen oder anderen altfränkischer Konservativismus. Aber c-Z muß daran erinnert werden, daß es sich nicht uin die Erhaltung eines Dialektes, sondern einer selbständigen Sprache handelt, einer Sprache, die noch jetzt in "Deutschland von etwa Ist Millionen Menschen gesprochen wird, die Perlen der Literatur hervorgebracht hat und deren Wort schatz auch jetzt noch für ihre vornehmere Schwester, die hochdeutsche Sprache, von einer hohen regenerativen Bedeutung ist. Erinnerungen nn 4806. Im Vertage von Calmann-Levi in Paris erschienen dieser Tage die Memoiren der Herzogin von Dino, gesammelt und kerausgegebcn von ihrer Enkelin, der Gräfin Jean de Eastellanc. Die Herzogin Dorothea von Dino, eine Tochter des Herzogs Peter von Kurland und Sagan, hatte 1809 den Fürst-Herzog von Talleycaud-P<.rigord, einen Neffen des berühmten Diplomaten, geheiratet. Sehr interessant ist das aus Deutsch lands Schmach bezügliche Kapitel ihrer Memoiren. „Während des ganzen denkwürdigen Jabrcs 1806", schreibt sie „wurde meine Mutter in Kurland zurückgehaltcn. Ich sagte bereits, daß sie mich in Berlin zurückgclasscn hatte; von hier aus sah ich in den ersten Tagen des Oktobers die preußische Armee vernichtet und drei Viertel des Königreichs im Besitz des Feindcc. Die bösen Nachrichten folgten einander so rasch, und es lag so wenig Zeit zwischen dem Beginn der Feindseligkeiten und der vollständigen Deroute, daß die Maßregeln, die man ergreifen mußte, nur vom Zufall abhängig waren. Der Tod des Prinzen Louis bei Saalfcld, der Verlust der Schlacht bei Jena machten Berlin ganz bestürzt. Es verbreitete sich sogar das Ge rücht, daß die Königin gefangen sei; sie habe, erzählte man, durchaus beim König bleiben wollen und sei in dem allgemeinen Getümmel von An- Hangern der Franzosen entführt worden. Während man aber noch Er kundigungen cinzog, sah man einen mit sechs Pferden bespannten Wagen, der vor dem Schlosse hielt; ihm entstieg die Königin, die eine Stunde im Schlosse blieb und Papiere verbrannte, worauf sic Anordnungen kür die sofortige Abreise ihrer Kinder traf. Dann stieg sie von neuem in den Wagen und fuhr ab, nachdem sie noch rasch mitgeteilt hatte, daß sie den König in Küstern erwarten wolle. Bald nach ihrer Abreise verließ die ganze königliche Familie Berlin. Meine Patin ließ mir sagen, daß es un klug wäre, in einer Stadt zu bleiben, die bald besetzt werden würde, und daß ich mit ihr nach Danzig reisen müsse, wohin sich auch der Kronprinz begebe. Es wäre in der Tat nicht schicklich gewesen, wenn ich allein mit meiner Gouvernante ein großes Haus bewohnte, das bald in die Hände französischer Offiziere gelangen mußte. Unser Entschluß war daher bald gefaßt, aber es stellten sich unserer Abreise unendliche materielle Hinder nisse entgegen. Nachdem wir unsere Sachen durcheinander in die Koffer geworfen hatten, wozu wir zwei Stunden brauchten, reisten wir mit meinen Pferden ab; die Postpferdc wurden alle für die königliche Familie gebraucht. Wir fuhren so langsam, daß wir immer fürchteten, von den Feinden verfolgt zu werden, und daß wir den Kovi nickt zum Türfenstcr hinauszustcckcn wagten, aus Furcht, von französischen Plänklern bemerk: zu werden. In Freienwalde, der ersten Station hinter Berlin, trai, während wir den Postmeister vergebens um Pferde baten, der König ein; wir waren um sein Schicksal so besorgt gewesen, daß wir vor Freude laut aufschrien, als wir seinen Wagen erblickten. In diesen ersten Augen blicken der Furcht war alles geflohen, auch Leute, die gar nichts zu be fürchten hatten: ohne Geld, ohne sonstige Hilfsmittel, in schlechten Wagen sah man ganze Familien in Städte und Dörfer einziehen. Dieses Schauspiel war für den König herzzerreißend, obwohl sein Volk ihn auch nicht einen Augenblick für das Unglück verantwortlich gemacht bat. An einer Fähre bei Stargard trafen wir den Kronprinzen und erfuhren, daß Napoleon in Berlin cingczogcn sei. Von Danzig schrieb ick an meine Mutter, um sie zu fragen, was »ck weiter tun sollte. Ihre Antwort fand mich nicht mehr dort; denn die Pläne der französischen Armee zwangen uns, diese Stadt zu verlassen. Alles wanderte nun nach Königsberg au-, wo infolge des großen Zulaufs so gut wie alles fehlte. Darum macksten wir uns bald auf den Weg nach Kurland. . Aatfel Alltags. Von Paul Gehaus. Daß im Frukling alles grünt, blüht ukid wächst, ist uns allen etwas so Selbstverständliches, daß wir uns gewöhnlich an. der angenehmen Tatsache genügen lasten und nach den Ursachen, dem Herkommen dunes plötzlich erschienenen Lebens nicht mehr fragen. Und das tun w:r viel leicht aus dem richtigen Jnstinkl, hier vor den größten Rätieln der Naturwissenschaft zu stoben. Die sichtbaren Organe der Pflanzen und allen wok.:bekannt, wir zählen und kennzeichnen lie. wir wißen ibre Be stimmung. Nun zeigen uns aber die Kinder der Flora auch Erscheinun gen und Funktionen, sür die wir kein Organ bemerken, auch keines Nndcn, bis wir uns endlich cingesteken, daß ine Welt der Lebewesen doch finden und unS freudig cingestchen. daß die Welt der Lebewesen doch nicht so simpel ist, wie sie in manchem guten Lehrstücke erscheint. Zu diesen vollkommen rätselhaften Lebensiunknoncn acööri in erster Liinc das Wachstum von Pflanzen, die weder sriscke Lui«, noch Lickt, noch Nahrung, noch überhaupt einen Berührungspunkt mit dem Erdboden haben. Die in Frage kommenden Beobachtungen find die denkbar ein fachsten und den meisten längst bekannt. Ein Beispiel: Ein Rotloklkopf ohne Wurzel wurde Ende März, der Länge nach durckgeschnitten und in eintw nach Norden gelegenen, völlig lichlloien Keller im Schranke einge- fchlosten Drei Wochen später Kai derselbe Koklkov' auS »einer Milte einen 20 Zentimeter Koben, daumendicken Schau emporgctricben, der rings mit rötlichen Blattern und gelben Blüten besetzt ist. Wenige Tage danach bat derselbe Blüienschast ein darüber ste'indlickes Brett von über > Psund Gewickt um 2 Zentimeter emporgeboben. In dein Sckranke bestand sich weder ein Körnchen Erde nvck irgendwelche Feuchtigkeit, auch keine Wärmegurlle, die Temperatur blieb vielmckr bis Anfang Mai nnoeränderf. Ein weiteres Beispiel; Eine Zwiebel, die, rstensalls zerschnitten, in einer Schublade vergessen worden war, trieb zu gleickwr Zeit einen grünen, kräftigen priest von etwa 12 Zeno- meter Lange hervor. Was ist bae Ursache dieser spontanen dtzaatläußerungen? Welche Organe befähigen die Pflanze zu diesem Wachstum? Es sind keine zu finden. Denn selbst ein glatt beschnittener Stecken von Weiocnholz, der im Winter durch und durch getrocknet war, also nur noch ein totes Stück Holz darstellie, begann im März plötzlich unter der Rinde grün zu werden und sich mit Sait zu füllen. Gleiches findet man bei ab geschnittenen Trieben von wildem und vereinzelt auch bei echtem Wein, mag man dieselben in den Boden pflanzen oder frei liegen lassen. Die Gärtner benutzen besonders bei wildem Wein diese Eigenschait zur Erzielung neuer Pflanzen. Fragen wir nun nach der Ursache dieics Wachstums, io bleiben wir noch viel unwissender, als vorher. Aller- dings gibt es da eine schöne Hypothese, die besagt, daß bei jeder P'lanze nach einer gewissen Ruhepause in der Entwickelung der Trieb zum Wachsen periodisch selbst wiedererwache. Tas klingt plausibel. Wie aber gehl es zu, daß alle Pflanzen diesen Trieb zum Wachsen zur selben Zeit, nämlich im März oder April, äußern und gerade ausschließlich in diesem Stadium vitaler Entwickelung die Fähigkeit zeigen, ihre sonstigen LcbenSbedingungcn, Wasser, Erde, frische Lust und Lickt gänz- lick zu entbehren! .Hier muß eine wunderbare Kraft jm Werke sein, die imstande ist, steinerne Wände zu durchdringen, und doch mit den be kannten elektrischen Strömungen nichts gemein hat, da man durch diese ein solch absolutes, von keinem Mittel genährtes Wachstum nicht zu erzielen vermag. Und wie stark si^d diese geheimnisvollen Wirkungen, daß sie einen jämmerlichen, kalben Kohlkopf in den Stand setzen, ein Brett, das fast so schwer als die Pflanze selbst, mehrere Zentimeter emporznbeben! Vor allem aber, wodurch spürt die Pflanze in ihrem dunklen Kcllcr- vcrließ, daß die gewaltige Erdkugel ihr Stellung zur Sonne langsam verändert und damit den Frühling aus ihrer nördlichen Hälfte hervor zaubert! Es roill uns nicht in den Sinn, daß eine Pflanze seiner organisiert fein solle, als der Mensch, und doch ist dem so, wenig stens gewissen Kräften gegenüber. Und dies gilt nicht nur für die rela tiv hoch entwickelte» Kohlarten, sondern auch für die aus ganz niesriger Stufe stehenden Pflanzcnartcn, wie Pilze, ja sogar Bakterien. Ein jeder, der einmal Ckamvianons gezüchtet hat, weiß, daß dieser köstliche Pilz am besten in Kellern gedeiht, die nach Norden gelegen sind, also der Sonne ermangeln. Er wird ferner wissen, daß ver Champignon am üppigsten im Frühjahr emporschießt. Dem Treiben und Blühen der höheren Vegetation entspricht bei den Bakterien der Vorgang der Virulenz, der aus meist unbekannten Ursachen eni- springt, eine starke Vermehrung und Nahrungsau'nahme der Spalt pilze bewirkt und,ganz verschieden günstige oder schädigende Folgen nir den diese Lebewesen beherbergenden Wirt zeitigt. Daß beispielsweise fast alle tierischen Lebewesen Bakterien zu ihrer Verdauung nölig ge brauchen, daß wir aus Bakterien treffliche Gegengifte gegen gewisse Erkrankungen, die sogenannten Antitoxine, gewinnen, dürste all bekannt sein. Minder bekannt ist dagegen der Umstand, daß die Pflanze, welche in der Oekonomic unseres Vaterlandes vielleicht die größte Nolle spielt, nämlich die Kartoffel, ihr Gedeihen zum großen Teile einem Ba zillus verdankt, der unterirdisch an der Wurzel sich fortvslanzt. Tiefer segensreiche Spaltvilz bewirkt eine außerordentlich krisslige Bewurze lung und Knollcnbildung an der Kartofsclpslanze. Man bat ihn auch bereits in Nährgelatine gezüchtet und mit gutem Erwlge bei Saatkar- roneln angewandt. Ti« Ausbeute wurde durch dies Bewahren merklich höher. Gewisse Bakterien scheinen mit der höheren Flora die Eigen-chast zu teilen, daß sie ihr Wachstum, ihre Vermehrung nach den Jahres zeiten einrichten. So erscheint es völlig außer Zweifel, daß der Er reger der gefürchteten Genickstarre, ein Bazillus, sich besonders lcbhait in den Monaten März nnd April vermehrt, dann aber, nach der Zahl der Erkrankungen zu urteilen, in der Vermehrung innekäli und infolgedessen zurückoekt. Der Ckolcrabazillus zeigt hingegen während des Hochsommers und Herbstes eine besonders stärke Virulenz, der Erreger der Influenza in den Winrermonalen. Wieviel bei diesen zeitlichen Wirkungen allerdings am Dispostnon der von den Bakterien Betroffenen zu ictzen ist, läßt sich gar nickt ent scheiden. Auch sür jahriausendelang bekannte Erscheinungen der Pflanzenwelt, wie das Wachstum an sich, wissen wir nickt die geringste Erklärung zu geben. Wir lernen, daß die P'lanze mit dem Walser ge wisse Mineralien, mit der Luft gewisse Gaie. je nach der Tageszeit Sauerstoff oder Kohlensäure, in einigen Fällen auch Sr-ckstpsf cssninl- liere, d. h. ihrem organischen Aufbau zurühre. Aber wie wir uns des genaueren diele Assimilation vorstellen sollen, kann uns kein Gelehrter der Wett sagen, da die betretenden chemischen Vorgänge in völliges Dunkel gehüllt stnd. Die Kierer, ein Baum, der im kümmerlichsten Sande gedeiht unv ;. B. den Ertrag der brandenburgischen Forsten darstellt, enthält, wie alle Nadelhölzer, chemisch untersucht, «ine besonders große Menge von Koblensto'rver- bindungen, mehr als die meisten anderen Bäume. Zolleri nun oll die'e Zentner von Kohlenstoff in den Nadelwäldern der Erde aus der Kohlensäure der Lun assimiliert worden sein? Tas erscheint kaum plausibel, da die Lust dock nur etwa 1 Prozent Kohlensäure cnrdäll: eine 'o lebhafte Einwirkung des an »ick indifferenten Gaies, neck dazu in solch geringem Maße in der Lun vorhanden, kann unmöglich eipe derartig starke Vegetation, wie unsere norddeutschen Kiesernwälver Hervorrufen. Da dämmert eine bange Frage am. Sollte vielleicht d'.c Kiefer die im sandigen Boden unermeßlich reich enthaltene Ke'Z'änr assimilieren und — in Kohlensionvervindungen mnwandelr? dieser simple Baum die Jahrhunderte alten Bestrebungen der Alchnm-.stcn die Elemente umzwwandeln, in 'einem eigenen Organismus mühelos u-g mit Eriola durcksühren? Fast scheint uns keine andere Erklärung für den enormen Kob'cn- stonreicktum der im weißen Sande gedeihenden Nadelhölzer ru ver bleiben. Zeigt dock an stck das chemisch« Verhalten des Koklenste'- eine Menge korrespondierender Erscheinungen mit dem der Kicstl'äure Soll das Gesitz von der Unwandelbarkeit der Grundstoffe bier durckbrocken werden? Nun. es ist 'ckon an anderer stelle durch brochen. Die Verwandlung von Lithium in Kupier, von Radium in Helium sind keine Neuigkeiten mehr, und an diesem Punkte der Natur- erkenntnis scheint sich der Schleier lüsten zu wollen, um neue Wahr heiten von unermeßlichen Kon'cauenzen zu enthüllen. Und der Bear " des „icrnorabiintis" wird seine Herrschaft über neue Gcbieie erstrecken Rurr-schar«. * Der geschichtliche Sinn »er Naturvölker. Ten vrimitiven Böllern ist lange Zeit die Fähigkeit abgesprocken worden, betkulungsvolle Ereign'-e -:n. Gedächtnis scstzuhalten und mündlich der Nachwelt zu überliefern. Ihre Mythen nnd Erzählungen erklärte man al- Gebilde der Phantasie ebne wirk lichen Hintergrund: sie galten als „grickicht-loS". Allmählich aber bat man in den Sagen und Märchen der Wilden einen bsstorsschcn Kern gefunden, io z. B. in den Flntsaqen den Niederschlag lokaler ertgeschickstlicher Ereignisse aus sticken Zeiten, und auch sür die historische Begabung dieser ans tiefer Kuliurnu'e stehenden Völker lassen sich eine ganze Reihe von Merkmalen anfüdrcn. Dr. Lasch erläutert in einem interessanten Aussatz deS „Globus" an zahlreichen Beispielen diese- Fettleben geschichtlicher Ereignisse in der Tradition der Nainr- völker. So erinnerten sich die Tlinkitindianer der Ankunft de- cr-en euro päischen Schisses nnterEook (1778^ j» folgendem MvtbuS: „Sein Schiff war eiw: vom Nebel verhüllt. Ganz plötzlich lichtete sich derselbe, und ein Häuvt- ling erblickte da§ Schiff. ES war da- erstemal, das ein Tlinkst einen Weißen sah. Er ging an Bord und kehrte dann nach Hause zurück Vier Tage saß er bewegungslos am Feuer und iann über die unerhörte Erscheinung nach, und dann erzählte er seinem Volke non den fremdartwen Men'chen, die aus der Nrbelwolke bcrvorgetretcn seien." Tie Erscheinung de-s russischen Entdecker- und Händlers Alexander Baranow, der eine Reibe von Jahren unter ihnen lebte ist von den Tlinkil zu einem gancen Geickicklenkreise, die die Abenteuer Nan.aks behandeln, ausgebildet worden. In Südgrönland sind bei den EskiinoS sogar die Kämpft, die zwischen idncn und den Normannen von 1379—1456 stalt- sandrn, nock beute in lebendiger Erinnerung. Erdbeben, vulkanische Ausbruche und andere Naturerscheinungen machen ans die Eingeborenen einen großen Eindruck und werden von ihnen nicht selten sogar als Anhaltspunkte für die Zeitbestimmung verwendet. Aus Nias im Snndaarckiprl wurde z. K. das Aller nach den beiden großen Erdbeben von 1843 und 1861 bestimmt und gesagt: Er zählt soundso viel Iadre nachher letzten großen Erschütterung dcrErde." Tie Tongana Nüssen noch deute einige Anekboten zu erzählen, die auf die Ankunft deS Entdeckers von Tontzatabir, Tasmcrn, :m Iabre 1643 Bezug haben. AIS Cook im Inbie 1773 zu ihnen kam, zeigten sie ibm den Ankerplatz von Tasnnani. »dein ersten „pnpnianch' (Weistenl und gaben genau an, wieviel Tage er sich dort nlis- oedalten hätte. Auch der Name des während TasmanS Anwesenheit regiercicken Tnitonga oder Priesterkönigs wurde erwäbnt und die Tonganer wußten a seine fünf Nachfolger ans derselben Dynastie an.zngebeir. Im allgemeinen wci lick reich« das Gedächtnis ter Australier sür geschichtliche Ereignisse nickt 'e r inest znrnck So erinnerten sick die Narrinyeri an der Mnrrarnnündung nur noch an eine schreckliche EviSemir, die vor fünfzig oder sechzig Iabre» stußadwar:« zu idnen gekommen war und si< sönnltch dezrmiert hätte.
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