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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 05.04.1914
- Erscheinungsdatum
- 1914-04-05
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191404054
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19140405
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19140405
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-04
- Tag 1914-04-05
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Monat
1914-04
-
Jahr
1914
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Lvnutss, S. Llprtl ISl^. munder Stadtverordnetenversammlung heißt e-s dann: „Nach den Feststellungen der Armenoerwaltung sind viele Familien obdachlos, deren notdürftige Unterbringung der Verwaltung die größten Schwierigkeiten bereiten wird, obwohl sie zum Teil in der Lage und gewillt sind, Miete zu zahlen. Besonders sind es die kinderreichen Fa milien, die kein Unterkommen finden können." So sind wir denn glücklich in Deutschland bei französischen „Kulturzuständen" angekommen! Der Duisburger Selstmordfall hat die Bedeutung eines öffentlichen Notschreies und ist ein warnendes Mene tekel. Wer das Geburtenrückgangsproblem auf der einen, den immer krasser und herzloser zutage treten den Egoismus aus rein mammonisttschen Gründen auf der anderen Seite leicht einschätzt, versündigt sich am Ganzen unseres deutschen Volkes. Der Nieder- gcrng einer Nation aus solchen Gründen ist ein sitt liches Manko. Das ist und bleibt die erschütternde Tatsache der Weltgeschichte, die sich so furchtbar rächt." Heer und Zlotte. die Gewährung einer neuen vlenftprämle für Unteroffiziere beim Ausscheiden nach acht- oder neumähriger Dienstzeit, deren Einführung zwecks Verbesse rung der ttnteroffizierlaufbahn zurzeit erwogen wird, soll, wie wir hören, erst für den Etat ür 1915 in Frage kommen, da zu ihrer Ein- ührung eine Abänderung des Mannschaftsver- orgungsgesetzcs vom 31. Mai 1906 vorgenom- men werden muß. Die Erwägungen erstrecken sich darauf, nicht nur eine kleinere Dienstprämic von 500 Mark den ausscheidenden Unteroffi zieren nach acht- oder neunjähriger Dienstzeit zu gewähren, sondern es soll gleichzeitig auch ein Anstelluugsschein für den Unterbeamtcu- dienst mit der Prämie verbunden werden. Wenn diese neuen Maßnahmen der Heeresverwaltung zur Durchführung gelangen, so würde ass un mittelbare Folge hiervon eine weitere Hebung des Standes der Militäranwärter (Anhaber des Zivilversorgungsscheins- erreicht werden, der dann nur noch aus den im Militäranwärter unterricht durchgebildeten befähigteren Unter offizieren bestehen würde. Die Durchbildung und der weitere Ausbau des Militäranwärterunter richts ist in letzter Zeit dadurch bewirkt worden, daß das Maschinenschreiben und die Kurzschrift beim Unterricht Aufnahme gefunden hat, und daß eine Belehrung über alle Zivilversorgungs angelegenheiten stattfindet. Durch die neuen Maßnahmen würde damit aller Voraussicht nach eine Beschränkung des Ansturms auf die mitt leren Stellen eintrcten, so daß hierdurch im gan- Leipztger LsgedUM Leite 2. Nr. 173. Lomttstzs-ttosüüve. flinksten religiösen Eindrücke mitunter in katholischen Landern empfangen: am Osterfamstag in Bozen, wenn die alt« Pfarrkirche im Iubvlchor von Orgel, Orchester und Singstnnmen erbraust, indes von draußen das Geschützfeuer der Artillerie Herei «dröhnt; beim Hochamt in St. Peter und bei einsamen Höhen Wanderungen in der Karwoche, wenn vom Tal statt der verstummt en Kirch« ng-locken das Geräusch (wie inan in Oesterreich sagt- der „Ratschen", der Holz klapper, hinaufscholl. In den russischen Kirchen hat mich nie das dumpfe Gefühl verlassen: wie ist es nur möglich, daß (worin im Grunde doch Vie tiefsten Wir kungen gottesdienstlicher Handlungen bestehen) eine einhellige, Gebildete wie Ungebildete, Hohe wie Nied rige, in gleicher LVeise erfassende Stimmung sich ein stellt? Klostevgeistliche habe ich nicht amtieren ge sehen. Man sagt mir: sie seien die Unterrichte deren; diejenigen, die di« entscheidenden und höheren Stel lungen inne Haden und das ganze geistliche Bildungs wesen in der Hand halten. Die Biscl)öse, Erzbischöfe und Metropoliten, di« wie im Westen unvermählt zu bleiben haben, kommen aus ihren Reihe». Aber, wie gesagt, ich sah sie nie als Träger von Kultushand- lungen; äußerlich heben sie in ihren schwarzen, falten reichen Talare», mit den zylinderförmigen hohen Ba rctts. von denen rückwärts ein« Art schwarzer Tropen schleier herabwallt, sich immerhin vorteilhaft von den Vertretern der sogenannten „weißen Geistlichkeit", Len Weltgeistlichen, ab. Im übrigen ist an Liefen Weltpriestern nichts Weißes. Sie gehen, wenn sie „in Zivil" sind, in braunen Kaftanen einher und halten sich, jcheint's, im allgemeinen an di« Regel der Be quemlichkeit: die Sauberkeit ist ein« Zier. Soweit es nicht gerade Söhn« von Popen sind, steigen sie aus den Tiefen des Volkes herauf und erheben sich in dem Ausmaß ihrer Bildung nie wesentlich über Liefe Tiefen. Vielfach dem nationalen Laster, der Trunk sucht mit Inbrunst ergeben, sind sie bei Vornehm und Gering ost mißachtet, respektiert und verehrt nur in spärlichen Fällen, und immer wieder fragt man sich, wenn man diese Gestalten sieht, die in Auftreten und Habitus in der Isaakkirchc im Grunde kein« anderen sind, als im Dorf oder im weltverlorenen Provinz nest: wie geht es zu, daß auch gebildete, wohlgepflegte Leute von Geschmack und Nerven sie als Mittler zwi schen sich und Gott überhaupt vertragen? Indes ich wollte von den, Unhygicnischen der russischen Kirchen sprechen: von dem, was, wie ja auch Herr Professor Holl zugibt, bei der Gottes verehrung der Russen die größte Rolle spielt, dem Bilde. Man muß, um die Höhe des Unfugs (so wird man's am Ende ausdrücken dürfen) zu ermeßen, einmal durch ein paar Stunden und zu wechselnden Tageszeiten den „Verkehr" vor einem besonders be rühmten und wundertätigen Heiligenbild - etwa vor der iberischen Mutter Gottes in Moskau — beob achtet habe». Vierundzwanzig Stunde» lang, am Tage wie in der Nacht, reist hier der Strom der Be sucher nicht ab. An dem Bilde selber ist natürlich, wie an allen russischen Heiligenbildern, nichts zu sehen. Die Heiligen werden ja „eingeklcidet": die Gestalt verschwindet unter einer Hülle von Gold und Edelsteinen; nur an zwei Stellen, wo man den Kopf zu suchen bat und die Hände, schimmert ein bräunlich dunkles Etwas — die ursprüngliche Oelmalerci — hervor. Aber gerade aus diese Stellen haben e<° die Gläubigen abgesehen. Die Bilder werden, weil fromme Beter sich mehrfach in die Edelsteine ver bissen" hatten, unter Glas gehalten, und auf Glas preßen die Andächtigen, gewaschene wie ün- qcwafcheilc, Kinder wie Erwachsene, vornehme Daisten, Offiziere aller Grade, Säufer mit stierem Blick, stinkende Weiber und Bosjakcn (die so genannten Barfüßer, die von weither nach Mütterchen Moskau pilgerten, um deren Heiligtümer zu ver ehren) vor Inbrunst ihre Lippen. Versteht sich ? immer auf dieselbe Stelle. Und nie fällt es einem Kirchendiener ein, mit einem Tuche säubernd ül>cr ' Las Glas zu fahren. Nein, für dieses Land ward die Hygiene wirklich noch nicht entdeckt . . . k>oliMe!ie Ueberliekl Vie Aufklärung über öen Kaijerbrief. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" schreibt: „Die Angelegenheit des Briefes Seiner Majestät des Kaisers an die Landgraf in von Hei sei, bei deren Uebertritt zum Katholizismus ist jetzt auf geklärt. Wir sind ermächtigt, folgendes mitnrtcilen: Von Kardinal Kopp, dem die Frau Landgräfin seinerzeit den Brief zur Aufbewahrung überlaßen hatte, war Vorsorge dafür getroffen, Laß der Brief unmittelbar nach seinem Tod« durch Vermitt lung de» Bischofs von Fulda der Frau Landgräfin wieder zugestellt werde. Dies ist jetzt geschehen. Di« entstandene Verzögerung erklärt sich daraus, daß der Bischof von Fulda aus einer Romreis« abwesend war. Der Brief stellt sich lediglich als Kundgebung des Oberhaup tes de» hohenzollernschen Hauses an eine diesem Hause entsproßene Fürstin dar, also als eine Familienangelegenheit, die für di« Oeffentlich keit weder bestimmt war. noch bestimmt ist. Gegen über den falschen Mitteilungen, die über den Inhalt des Briefes verbreitet worben find, sei festgestellt, daß der Brief keinerlei Ausspruch irgend welcher Art über den katholischen Glaube», die katholische Kirch« oder die Katholiken und die Stellung des Kaisers zu ihnen enthält. Alle gegenteiligen in der Preße verbreiteten Angaben sind aus der Luft gegriffen. Ihre Urheber trifft der schwere Borwurf, eine Privat angelegenheit unter gröbster Entstellung des Sachver halts an die Oeffentlichkcit gezerrt, damit den kon fessionellen Frieden gefährdet und S. M. den» Kaiser leichtfertig eine ihm fremde feindselige Mißachtung des Katholizismus angedichtet zu haben." Damit kann dieses Thema nun endlich als ab geschlossen gelten. Hoffentlich gibt sich nun auch der Ultramontanismus zufrieden. Vertagung o-erSchließung -es Nelchstagsl Die „Norddeutsche Allgemeine Zei- t u n g" schreibt zu der Preßeerörterung über di« Frage, ob der Reichstag geschloßen oder vertagt wer den soll, daß die Verfassung die Schließung als Regel, die Vertagung als Ausnahme hrn- stcllt. Es müsse die Frag« geprüft werden, ob etwas in dem gegenwärtigen Stand der parlamentarischen Arbeiten der Regel widerspreche und die Aus nahme empfehle. Seit der Vertagung am !M. Juni 1913 bis zu den Osterferien wurden 21 Ge setzentwürfe cingebracht, und davon sieben erledigt. Gegenüber diesem Gange der Reichstagsgeschäfte scheint d:r Appell des Al>g. Baßermann an die Selbst zucht der Fraktionen lreachtenswert, der Reicl^stag habe die Verpflichtung, Selbstbeschränkung zu üben und die Länge und Zahl der Reden einzuschränken. Die Regierung treffe aber keine Schuld, daß sie den Reick-stag zu spät cinberufen und dann mit einer bunten Reihe von (Gesetzentwürfen befaßt habe. Nach Erledigung der Wehrvorlage im Sommer 1913 habe es dem eigenen begreiflichen Wunsche des Reichstags entsprochen, erst Ende November wieder zusammenzutretcn. Was die Gesetzentwürfe anlang«, so hätten di« verbündeten Regierungen schon lange auf ein lang sameres Tempo in der Ausarbeitung von Gesetz entwürfen hingewirkt. Würde der Reichstag zu der alten guten Gewohnheit zurückkehren, Len Etat vor dem 1. April fertigzustetten, so wüvde sich auch der Sessionsschluß meist vor Pfingsten bewerk stelligen laßen und die Einberufung zum Herbst könnte dann früher erfolgen. In die Erörterungen der Frage, ob Vertagung oder Schluß, spiele endlich auch die Frag« derFrei - fahrkarten hinein. Dem Gcdankengang könne die Regierung aber nicht folgen, daß durch das ,<uut-L«np Schluß des Reichstags ei »tretende Aufhören der Gültigkeit der Freikarten der Reichstag be straft werden solle. Solange hq» Postulat der dauernden Freikarten nicht bestehe, müße Ne Ver tagung lediglich davon abhängen, ob sie im allge meinen Interesse zweckmäßig und notwendig er scheine. Im vorliegenden Falle werde der Reichs kanzler die Entscheidung des Kaisers erst herbciführcn, wenn sich das Ergebnis der Reichs- tagsvcrhandlungcn genauer übersehen läßt. Darüber, was nach Ostern noch erledigt werden solle, werde sich hoffentlich eine Verständigung zwischen der Regierung und den Parteien erzielen lassen. -u>g. öaffermann über -ie nationalliberale Partei. Der Adg. Bassermann veröffentlicht in der „Köln. Ztg." einen Artikel zur letzten Zentralvor- standssitzuna der nationalliberalen Partei. Baßer mann erklärt, in der Beschlußfassung liege keine feindliche Stellungnahme gegenüber irgendeiner Richtung. Es möge bitter sein, für den Iungliberalen Verband, der gute politische Arbeit geleistet und zur Belebung des politischen Lebens beigetrogen habe, daß heute seine Auflösung gewünscht werde. Aber eine politische Organisation sei nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Wenn dieser erreicht sei, könne eine solche Organisation verschwinden. Sie könne dieses Opfer wohl bringen im Gefühl, dem Vaterland gedient zu Haden Der Rai konservativer Blätter, die Partei solle nicht nur das „liberale", sondern auch das „nationale" betonen, sei eine politische Ungezogenheit. Die Nationalliberale Partei müße sich solche Anwürfe aufs entschiedenste verbitten. Der Beschluß vom verfloßenen Sonntag, der ohne lange Diskussion alle führenden Männer der Partei einigte, bedeute, daß eine politische Notwendigkeit vorliege. Der Artikel schließt: Möge dem geschäfts führenden Ausschuß die erstrebte Einigung der Organisation zum Segen der Partei gelingen! Zranzöfifche „Kulturzufiän-e" in Veutfchlanü. Die Korrespondenz des „Evangelischen Preßver bands für Deutschland" enthält folgenden nachdenk lich stimmenden Beitrag zur Frage des Geburten rückgangs: „Unterm 31. März wurde den Blättern aus Duisburg gemeldet, daß ein 37jähriger Arbeiter, Vater von sieben Kindern, Selbst mord begangen habe, indem er sich vor einen v°Zug warf, weil er auf der Wohnungssuche überall wegen der großen Kinderzahl ab gewiesen worden war. Angesichts der für den 1. April bevorstehenden Aussetzung seiner Familie auf die Straße sei der Mann in den Tod gegangen. — Das in der Meldung angegebene Selbstmordmotiv erschien uns so ungcheurlich, daß wir uns verpflichtet hielten, zuvor dessen Richtigkeit einwandfrei fest zustellen. Unsere telegraphischen Erhebungen er gaben, daß die Wohnungsoerweigerung der polizei lich, also amtlich angegebene Grund für den Selbst mord war. Frankreich ist bekanntlich die Wiege des Zwei kindersystems. Die Folge davon war und ist daselbst ein so rapider Geburtenrückgang, daß die Republik vor einer osfc» eingestandcnen nationalen Kata strophe steht. Namhafteste französische Volkswirt- schaftlcr haben auf Grund überzeugenden Materials die drohende Gefahr des Untergangs der französischen Nation dargetan. Als bedenklichstes Symptom ist in der französischen Preße und Wissenschaft auf die zu einem offenen Skandal ausgewachsene Entartung hingewiesen worden, daß kinderreiche Familien in den größeren Städten keine Unterkunft mehr finden können, da die Hauswirte sich beharrlich weigern, sie aufzunehmen. Daß hier keine Uebertreibung vor liegt, haben die berühmt gewordenen Vorstöße des „Vaters der wohnungslosen Kinderreichen" in Paris erwiesen, der von Straße zu Straße zieht, um sich seiner Schutzbefohlenen anzunehmen, und dem man bereits Schlößer von Philanthropen für dieselben angcboten hat. Die Kalamität des Geburtenrückganges ist in zwischen leider auch für Deutschland eine öffentliche Gefahr geworden, von d«r die Preß« Tag für Tag widerhallt und die Regierung, Parlament und alle Dolksfreunde gleichermaßen bewegt. Wie ein greller Blitz beleuchtet der Duisburger Fall die wahre Sach- läge. Man kann sich damit nicht entschuldigen, daß es sich hier um eine Ausnahme handele. Die Schwierigkeit kinderreicher Fain'lien, di« selbst in wirtschaftlich günstigen Verhältnissen stehen, in Berlin und den Vororten ein« ihnen paßende Wohnung zu finden, wächst von Monat zu Monat und ist eine offenkundige Tatsache. — In seiner Nummer vom 3. d. M. schreibt ferner der „Neichsb.": „Die Feindschaft gegen kinderreiche Familien, die sich bei den meisten Hausbesitzern geltend macht, ist eines der förderlichsten Mittel für den Geburten rückgang. Schon im letzten Herbste haben wir an- läßlich der geradezu trostlosen Wohnungsnot für Familien mit mehrer-n Kindern in Elbing ein dringlich darauf hingewiesen. Manche Mieter werden geradezu mit Vertreibung aus der Woh nung bedroht, wenn noch Familienzuwachs ein treten sollte. Jetzt hat sich wieder der Magistrat in Dortmund genötigt gesehen, für den Dortmunder Spar- und Dauverein die Bürgschaft in bezug auf ein mit 4s^ v. H. zu verzinsendes Tilgungsdarlehn von 1500 906 tt zu übernehmen." In der Begründung der Vorlage an die Dort laoso Eine Märzwanöerung nach Rippach. Bon Dr. W. In unserer abendlichen, von Freunden deutscher Dichtkunst durchsetzten Tischrunde war kürzlich aus irgend ivelchem Anlaß das an der Chaussee Leipzig— V<eißcnfels auf preussisch»! Gebiete gelegene Dorf Rippach genannt worden. Wie nahelag, wurde dabei der bekannten Tatsache gedacht, daß Goethe im „Ja u st" diesem Otte durch seine Erwähnung in der Szene „In Auerbachs Keller" zu einer gewißen Berühmtheit verhalfen hat. Faust und Mephisto treten m den Keller ein. Die vier dort zechenden Studenten bemerken sie und versuchen neugierig heraus,zubetommen, wer die beiden neuen Gäste sind. Dabei sagt Frosch: Ihr seid wohl spät von Rippach aufgebrochcn? Habt ihr bei Herren Hanns erst noch zur Nacht gespeist? Mephisto: Heut sind wir ihm vorbeigereist. Wir Haden ihn das letzte Ada! gesprochen. Von seinen Vettern mußt' er viel zu sagen; Viel' Grüße hat er uns an jeden aufgetragen. Es ist bekannt, daß das Dorf Rippach an der von Frankfurt a. M. über Fulda, Eckartsberga, Lveiszen- fels und Markranstädt nach Leipzig führenden alten Handelsstraße in früheren Zeiten eine R«isestation war, an der di« nach Leipzig Fahrenden zum letzten Mal« längeren Halt machten. Was es mit dem dort wohnhaftem .Herren Hanns" aus sich habe, war bei jener abendlichen Unterhaltung niemandem unseres Kreises bekannt. Es wurde di« Vermutung ausgespro chen, daß damit vielleicht der Schinder (Henker) in Rippach gemeint gewesen sei, eine Annahme, zu der eine unbewußte Gedankenverbindung mit d«m Namen „Schinderhannes" geführt haben mochte, dessen Träger freilich mit Rippach nichts zu tun gehabt hat, da er der Hauptmann einer rheinischen oder süddeutschen Bande war, die überdies Jahrhunderte nach der Zeit, in der der „Faust" spielt, ihr Wesen trieb. Tatsache ist aber, Laß viele auf Las Vorsprechen d«r beiden Zeilen und die Frage, wer „der Herr Hanns" wohl gewesen sein möge, sogleich mit „der Schinder" ant worten. Auch in der Schauspielerwelt besteht dies« i Meinung, wie »ns ein Mitglied derselben oersicherte. LLenn nun auch nicht di« Hoffnung, die Perso nalien -es „Herren Hanns" dabei zu ermitteln, den Gedanken einer Wanderung nach dem einsamen Rip pach eingebcn konnte, so erschien es doch an sich inter essant genug, einen der meilenweitem Spaziergänge, die ich mit einem Wandergenoßen an freien Tagen in Leipzigs näherer und fernerer Umgebung unter nehme, einmal nach Rippach zu richten. Wir brachen also, der Mathematiker und der Jurist, am letzten Bußtag, den 11. März 1014, in Lindenau vom Ende der Straßenbahn vormittags 8 Uhr zu Fuß auf der Liitzner Straße aus und erreichten ^10 Uhr Markran städt, um 11 Uhr Lützen, welche Otte ohne Aufenthalt durchschritten wurden. Die Gunst eines herrlichen, frischen Vorfrühlingstages gab uns das Geleit, und so rein und tlar war die Luft, daß die Türme Merse burgs am fernen Horizont zu unserer Rechten sich scharf umrißen abhobcn. Bis Lützen kommt mancher Leipziger, darüber hinaus nur selten einer. Zunächst wird etwa Stunden dahinter das rechts izart an der Landstraße gelegene Dors Rücken erreicht, der Geburts- und Bsgräbnisort Les Philosophen Fried rich Nietzsche. Unsere, mit Absicht an noch nicht schulpflichtige, im Dorfe spielende Kinder gerichtete Frage, wo denn hier „Nietzsches Grub" sei, wird so sicher beantwortet, daß auf zeittoerligen Frenroen- besuch zu schließen ist. Nietzsches — neben dem seiner Eltern gelegenes — Grab ist mtt einer einfachen polierten Granitplatte bedeckt, di« nur seinen Namen, sowie seinen Geburts- und Todestag aufzeigt. Ohne innere Beziehungen zu der Geistesrichtung des dort Schlummernden verließen wir bald den Friedhof, um unserem Rippach fürbaß weiter -uzustveben. Es war gegen 1 Uhr mittags, als wir vor uns d« bisher auf einer Hochfläche sich Lachi»ziehende Straße plötzlich in einen steil abfallenden Hohlweg eimnün- den sahen. Wir durchschreiten ihn und sehen uns in einem vom Rippachbache herausgewaschenen Berg kessel, wie man ihn so nahe dem Flachlande nicht ver mutet. Mitten darin das kleine Dorf Rippach. In bedeutender Höhe überschreitet links ein Eisenbahn viadukt die tief« TaHurche. Bald stehen wir vor einem niedrigen Hause, an dessen Vorderfeite ein weißer Schwan in blauem Felde angebracht ist: es ist der berühmte, uralt« Rippacher Postgasthof zum „Weißen Schwan". Links vom Hause ein mächtiger Hos, der vor Jahrhunderten wohl manchen Post-, Fvacht- und Mcßgüterwagen aufgenommen hat. Wir treten in das Haus ein, dessen mächtige Manorn auf großes Alter deuten. In der Gaststube nehmen wir als die einzigen Gäste Platz. Während di« freund liche Wirtin in Lac KLche unsere Bestellung erledigt, tritt ein Alaun i« ledernen Gamaschen, halb Sand mann, seinem Dialskte nach Rheinländer, ins Zim mer, in dem wir bald den Wirt erkennen. Es ent wickelte sich folgendes Gespräch: Wirt: Was führt denn di« Herren hierher in unser einsames Dorf? Wir: Wir wollten mal das Rippach sehen, das Goethe im Faust erwähnt, am Ende gor auch etwas von dem „Herren Hanns" hören. Wirt: Wer war denn Ihrer Meinung nach der Hanns? Wir smit apodiktischer Bestimmtheit): Es ist der Schinder von Rippach gewesen. Wirt (satirisch lochend): Nehmen Sie's nicht übel! Sie haben ja gar keine Ahnung vom richtigen Sachverhalte, genau jo wenig Ahnung wie die vielen Kommentarschreiber zum Faust, die Dunker usw, die ins Blau« hinein erklären ohne gründliche und ohne glückliche Forschung am Orte. Ich habe die Mut maßungen dieser Gelehrten gelesen. Alle sind falsch. Wir: Nun, so laßen Sie uns den Sachverhalt wißen. Wirt: Hören Sie also zu! Ich bin vom Rheine, aus Eleve, und seit 18 Jahren hier im „Schwan" Wirt. Ich hatte hier schon viele Jahre als Wirt ge lebt und mich um Goethes Faust und seine Worte über unser Dorf nicht im mindesten bekümmert. Da kamen im Jahre 1904 ein paar Leipziger Studenten bier in dies Zimmer, die mir von der Stelle im Faust und weiter davon erzählten, daß sie — ohne Erfolg — soeben in d«n Kirchenbüchern unserer Pfarrei Großgoehren nach dem Hanns ge forscht hätten. Mich interessierte ihre Erzählung. Abends, als sic weg waren, berichtete ich meinen Gästen ans dem Dorfe von ihnen. Als ich geendet hatte, sagte ein alter Ortseinwohner — hier auf diesem Stuhle saß er, Waller war sein Nam«, vor vier Jahren ist er 78 Jahre alt gestorben —: „Der Mann, nach dem die Studenten gefragt haben, kann doch niemand anders gewesen sein, al» der Rippacher Hann» Ochse, von dem mir mein Vater viel När risches erzählt hat. Einmal z. B. kmtte Ochse im nahen Orte Hohenmölsen eine Kuh verkausen wollen, war sie aber nicht los geworden und meldete sich deshalb dort abend» beim Torschreiber zusamt der Kuh mit den Worten ab: „Hanns Ochse, ein Rindvieh, zurück!" Diese Abmeldung war notwendig gewesen, um der Marktsteuer zu entgehen. Wir: In der Tat wäre hier wohl der Schlüssel des Rätsels gegeben, wenn über den angeblichen Hanns Ochse ihn urkundlich bestätigende Tatsachen festzustellen wären. Haben Sie die Kirchenviicycr nachschlagen laßen? Wirt: ttlich! Die Person Ochses ist wirklich im Großgöhrener Kirchenbuch« ermittelt worden. Dort heißt es: „Johann (Hanns) Ochse, Nachbar und Einwohner von Rippach, getraut 10. Februar 1746 in Großgoehren mit Marie geb. Krups von dort, ge storoen 1780 am 9. Februar." Er hat hier gegenüber meinem Postgasthofe gewohnt. Wir: Haben Sie etwas dafür getan, daß Ihre Entdeckung in der literarischen Welt bekannt wird? Wirt: Jawohl; ich habe darüber ein Schristchen versaßt und es „an Wustmann" nach Leipzig geschickt, der mir gedankt und es m die Stadtbibliotyek einge stellt hat. Auch einigen anderen Gelehrten habe ich es geschickt. In einer Leipziger Tageszeitung soll seiner zeit darüber auch etwas gestanden haben In Wirklichkeit war unser Wirt im Besitze einiger Zuschriften von Professoren, die sein« persönlich« Be- kanntscyaft gejucht hatten. Zndeßen ist feine Ent deckung, wie es scheint, noch nicht in weitere Kreise gedrungen. So war sie einem namhaften Kenner der sächsischen Geschichte, den man den sächfischen Fonrane nennen darf, und dem m«in Gefährte sie umgehend berichtete, noch völlig unbekannt. Daß di« Entdeckung des Gastwirt» Wilhelm Plei- nes (ipr. Plaehn, französische Refugiosamilie) in Rippach den Nagel auf d«n Kopf trifft, ergeben noch folgende Betrachtungen: Hanns Ochse, in Rippach gegenüber dem Gasthof« wohnend, ist sicher zahlreichen, au» dem Westen, „aus dem Reiche", wi« man damals sagte, die Universität Leipzig bezieh«nden Studenten ein« bekannte Person und für sie wegen seines Namens die Zielscheibe studentischer Ulkereien gewesen. Alle auf Leipzig zu fahrenden Postwagen nahmen wohl im Rippacher Gasthofe, um durch den erwähnten steilen Hohlweg yinaufzukommen, neuen Vorspann. Das eraad für die reisenden Studenten immer längeren Aufenthalt in und vor dem Gasthofe. Da mögen sie zu ihrer Kurzweil den gegenüber wohnenden armen Hann» Ochse ost genug durch lustige Zurufe aufgezogen Haden. Hatte doch auch Goethe am 25. März 177k und am 2. Dezember 1776 auf der Reise von Weimar nach Leipzig in Rlppach beide Male so langen Auf«nt- balt, daß er dort zwei uns erhaltene Briefe an Frau v. Stein während des Umspannens schreiben konnte. Erstmalig dürfte Goethe, als er 1765 die Leipziger Universität bezog und Hanns Ochs« 19 Icchre ver-
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