Suche löschen...
01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 07.04.1914
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1914-04-07
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19140407018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1914040701
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1914040701
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-04
- Tag 1914-04-07
-
Monat
1914-04
-
Jahr
1914
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
14. »erhand ln Hän- s Fecht- )en als Herren mnover Leip, Gan; »üringer üften i beab- u. Bei rmochtc ;en. ößte» Z alle« l. 2IA. lriik. - §«!>»,» dsi» om 1S14. '«>. Ill ; allAe- dt unck stckruoü rurüek- du»» cni 3. veilsge. Olenstsg, 7. Aprtt 1914. Leipziger Tageblatt. Llr. 176. Morgen-ttusgsve. Sette 11. politische und wirtschaftliche Interessenvertretung. Die politischen Parteien von heute sind hervor gegangen aus den politischen Kämpfen des vorigen Jahrhunderts, und sic gruppierten sich wesentlich nach ihrer Stellungnahme zur Frage der deutschen Einigung. Auf diese Frage waren die Partei programme eingestellt, und die Lösung dieser Frage war ein zugkräftiges Ideal, für dessen besondere Art der Verwirklichung die Parteien kämpften. Nachdem aber das Deutsche Reich geschaffen und die Grund lage der Reichsgesetzgebung gelegt war, war das Haupttampfobjekt dem Streit der Parteien entzogen. Für die Zukunft handelte es sich in erster Linie um den Ausbau des schon Gegebenen. Die großen poli tischen Fragen waren gelöst, und wut.ch^ftlicl.c Fragen begannen immer stärker in den Vordergrund zu treten. Diese Wandlung blieb nicht ohne Einfluß auf den Charakter der Parteien, und es entstand eine Verquickung von Politik und Wirtschaft, die zeit weilig für das politische Leben nicht vorteilhaft ge wesen ist. Aber warum löst man diese Verquickung nicht? Borgeschlagen wurden mehrere Wege. Die weit gehendste Maßregel wäre die vollständige Trennung von reiner Politik und Wirtschaftspolitik und dem gemäß auch die getrennte Behandlung in ver schiedenen Parlamenten. Wir halten eine solche Trennung für undurchführbar. Vielleicht ist es zur Begründung dieser Meinung zweckmäßig, ein Buch anzuführen, das gerade zu dem Zwecke geschrieben ist, diese Trennung zu befürworten. Es ist das vor einiger Zeit in A. Hartlebcns Verlag (Wien und Leipzig) erschienene Buch eines österreichisck-en Poli tikers. des Abgeordneten I. V. Z e n k e r: „Der Parlamentarismus, sein Wesen und seine Entwicklung." Zenker ist durch und durch Demokrat, und seine Kritik des heutigen Parlamentarismus ist dennoch sehr scharf. Aber hier kommt nur das in Betracht, was er über die zunehmende Vertretung wirtschaft licher Interessen innerhalb der Parlamente sagt. Er schreibt über das Bestreben, möglichst viel wirtschaft liche Fragen im Parlament zu behandeln: „Der Umfang des Wirkungskreises steht in gera dem Verhältnis zur Fülle der Macht. Und gerade die kleinen, die territorialen und berufsständischen Inter essen sucht das Parlament in den Bereich seiner Macht zu ziehen, weil in dvr Ordnung und Befriedigung dieser Sonderinteressen für die Parteien das stärkste Agitationsmittel ihren Wählern gegenüber liegt. Wenn ein Abgeordneter zu seinen bäuerlichen Wäh lern kommt und von seiner Partei rühmen kann, sie sei mit Erfolg für die Freiheit der Meinungen und Gewissen eingetreten, wird das gewiß nur sehr mäßige Begeisterung Hervorrufen, wenn er aber darauf Hinweisen kann, daß seine Partei für die Er höhung der Korn-, Milch- und Diehprcisc erfolgreich eingetreten sei, kann er seiner Wiederwahl gewiß sein." „Die Sonderinteressen sind viel stärker und werden von den Menschen schon deshalb, weil sie Kamprnteressen sind, viel unmittelbarer empfunden als die Gemeininteresscn." Um dieser Sonder interessen willen entsteht „ein Handel wirtschaftlicher gegen politische Interessen. Regierung und Mehrheit machen dasselbe Geschäft, Zugeständnisse an Einzel interessen auf Kosten des Eemeininteresses, um mög lichst viele Gruppen auf eine Seite des Hauses zu bringen." Zenker schließt sein Kapitel mit den Wor ten: „So hat sich das Parlament zu einem InvFo <ii trukkioo ausgebildet, auf dem nationale und wirt schaftliche Zugeständnisse gegen politische Grundsätze geschachert werden. Wer diese Korruption, die schwerer wiegt, als die Bestechlichkeit einzelner, be seitigen will, der muß für die Ausschaltung aller Tausch- und Schacherobjekte cintreten, die jetzt cm Parlament gegen Freiheit und Recht gehandelt werden." Auf die Frage, ob eine Trennung der wirtschaft lichen und politischen Interessen möglich sei, erwidert Zenker: „Die wirtschaftlichen Verhältnisse bilden die materielle, die politischen Einrichtungen die formelle Seite des sozialen Lebens. Da sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in beständigem Fluß befinden, die poli tischen Einrichtungen aber schon deshalb, weil sie Einrichtungen sind, eine viel größere Beharrlichkeit besitzen, tritt meistens eine große Inkongruenz zwi schen Wirtschaftsformen und politischen Formen ein. Die Politik rechnet mit den gegebenen wirtschaftlichen und politischen Tatsachen, wie mit etwas Feststehen dem, und muß dies tun, weil sie sonst von Gesetzen absehen müßte, die immer sub speciv aoternitstiz ge macht werden . . . Die Wirtschaft beruht überall auf Sondcrinteressen. Die Politik hat es immer nur mit dem Gemeinsamen, dem Allgemeinen zu tun. Für die Praxis handelt es sich um zwei grundverschiedene Welten, und es ist unrecht, über beide Dinge durch dieselben Parlamentsmehrbeiten und nach denselben Methoden entscheiden zu lassen." Zenker kommt zu dem Vorschläge: Teilung des Parlaments in zwei Kammern, in eine gesetz gebende Körperschaft und in eine Reichswirtschasts- kammer. So scharf der Verfasser mit dem heutigen Parla mentarismus ins Ger.cht gehl, und ,o eingehend er seinen Besserungsvorschlag begründet — überzeugen kann er uns nicht. Gar mancher kritischer Satz ist auf die Eindrücke zurückzuführen, die er dem öster reichischen parlamentarischen Getriebe entnom men hat' diese sind aber doch nicht in jedem Belang allgemein gültig. Aber der .Haupteinwand ist der: seine Unterscheidung zwischen rein politischen und wirtschaftlichen Aufgaben ist papierne Theorie. Das Nebeneinander- und Ineinanderverflochtensein von Politik und Wirtschaftsleben ist ein Ergebnis unserer geschichtlichen Entwicklung. Der Staat ist heute nicht mehr ein äußerliches Ge bilde zur Betreibung politischer Zwecke: gerade aus dem Wirtschaftsleben heraus erwachsen seine größten Probleme. Wenn aber der Staat die Fürsorge für günstige Lebensbedingungen mit übernehmen muß. so kann er sich auf eine getrennte Behandlung der politischen und wirtschaftlichen Fragen in zwei Parlamenten nicht einlassen: jedenfalls würde er durch eine solche Einrichtung keine Vereinfachung be wirken. Die Folge wäre vielmehr eine ungeheure Erschwerung. Um nur ein Beispiel anzuführen: wie wäre bei der Entscheidung über Handelsverträge die Trennung nach der politischen und wirtschaftlichen Seite zu vollziehen? Wie soll die Sozialpolitik be wertet werden? Nach rein wirtschaftlichen Gesichts punkten? Das wäre sicherlich falsch. Ein Wi r tsch a f t s p a r l a m e n t ist wohl nur in der Form Lenkbar, daß es aus der fortschreitenden Organisation der wirtschaftlichen Vertretungen her- auswächst und die Aufgabe übernimmt, große wirt schaftliche Entscheidungen und Gesetzgebungen vor- ,z über eit en. Das wäre eine Entlastung für das Volksparlament, sagen wir den Reichstag insofern, als sich durch die Beratung im Wirt chastsparlamenr, oder wie man es sonst nennen mag, sehr oft Heraus stellen würde, daß diese oder jene wirtschaftliche Frage zu einer gesetzgeberischen Behandlung über haupt ungeeignet ist. Nur in jenem Sinne war auch die in der „Köln. Ztg." und später in ver chiedenen Zeitschriften erschienene Abhandlung von Dr. B. Westenbcrger über ein Wirtschaftsparlament gemeint, und wir nehmen die Gelegenheit wqh^ eine Aus legung, als'sei darin eine Trennung, wie sie Zenker verlangt, oder gar eine Ausschaltung des Reichstages äks Ziel bezeichnet worden, zutMzuweisen. Das Buch Zenkers wird als Kritik des heutigen Parlamentarismus Wert behalten: das Endergebnis seiner Untersuchung aber bringt uns der praktischen Lösung nicht näher. Eine Reife in Rußland. Bon Dr. Richard Bahr. V. Wer das Lartd nur oberflächlich bereist, wird ge neigt sein, zu finden, daß die Verfassung — die sogenannte Verfassung — am Ende nicht viel an seinem Wesen änderte. Zwar, man hat jetzt in Ruß land die Preßfreiheit, aber es ist, wie Herr v. Thadden-Triglaw sie einst uns Deutschen wünschte, die Preßfreiheit mit dem Galgen daneben. Ein Mann, nebenbei ein sehr gescheiter und gebildeter Mann, der im russischen „Vormärz" — eigentlich sollte man hier Boroktober jagen — sieben Jahre lang ein liberales Blatt herausgab, bis die Regie rung ihm erst die Erlaubnis zur Abonnements erhöhung abschlug, und später einmal, kurz vor ZlZeih- nachten und mitten im Wintcrquartal, das Blatt auf ein Vierteljahr verbot, hat mir gestanden, es sei ehe dem leichter gewesen, eine liberale Zeitung zu redi gieren als heute. Der Zensor bekam ja nie das fertige Blatt zu sehen immer nur die Fahnenabzüge. In denen aber verlor sich häufig die einzelne Notiz. Wenn man heute von einem ungerechten und räube rischen Beamten berichtet hatte, morgen wieder und übermorgen zum dritten Male, so machte das auf den ..abgeteilten" Herrn Zensor, wie es in schauerlicher Verdeutschung im alten baltischen Amtsstil hieß, keinen allzustarken Eindruck. Mitunter mochte er auch schon vergessen haben, was er am Tage zuvor mit seinem Placet versehen hatte. Aber wenn ein geschickter Redakteur dann alle diese „von der Zensur erlaubten" harmlosen Notizchcn im Satz stehen ließ, bis sie zu einer Spalte angewachsen waren oder gar zu zweien, und sie nun gemeinsam auf einen Schlag veröffentlichte, gabs einen Artikel, der schlechthin aufreizend wirken konnte. Heute ist die Presse „frei", daneben steht zwar nicht der Galgen, aber der Herr Prokureur, der Staatsanwalt. Und wer von solcher garantierten Freiheit gar zu freien Gebrauch macht, den sperrt er ein. Nicht viel anders steht es mit dem Parlamentarismus. Wie die Re gierung ihn selber bewertet, ward, scheint mir, schon in der Wahl seines Standortes ausgedrückt. Es ist doch ein etwas mokanter Zug, daß sie Krone dem jungen Parlament als Morgengabe just das Tau rische Palais darbrachte: ein verlassenes Lustschloß, das die zweite Katharina einst ihrem Potemkin, La er wieder einmal als „Sieger" heimgekehrt war, hatte erbauen lassen, uno das nun schon manches Jahrzehnt ohne rechte Bestimmung war. Das liegt da, wo Wolf und Fuchs einander gute Nacht sagen. Wohnstätten der Armut umringen Palais und Garten, und eine mit vieler Heimtücke gepflasterte Straße führt zu ihnen hinaus. Von dem eigentlichen Leben Petersburgs ist das weit, weit ab: vom Kaiserschloß, non den Ministerien, vom Verkehr, von Handel und Wandel. Dafür befindet sich der zum Oberhaus avancierte Reichsrat im Herzen der Stadt: auf dem riesigen Platze vor der Isaakskirche, zur Linken flankiert von unserer neuen Botschaft, die Peter Behrens so wenigen zu Dank gemacht hat, und die mir schön und erhaben erscheint. Ich habe immer die Empfindung gehabt, als ob auf d i e Art reichlich maliziös angedeutet werden sollte, wie wenig in diesem Lande das Parlament zu sagen haben würde. Das hat noch immer nicht seinen rechten Lebensstil gefunden. Die erste und die zweite Duma wurden — vielleicht mit Recht — auseinander gejagt. Für die dritte ersann man ein Wahlrecht, das den Ein fluß der unruhigen Elemente, der Bauern und der Arbeiter von vornherein ausschloß und das Uebcr- gewicht des großrussischen Elementes sicher stellte. Trotzdem kam der Tag, wo auch dieses gefügige Par lament Stolypin nicht genügte »nd e?s° kurzerhand auf ein paar Tage iuspendierte, um derweile eine besonders nationalistische Vorlage durchzudrücken. Die vierte Duma gar, die doch auf Grund desselben oktroyierten Wahlrechts gekürt wurde, macht An Die erste Zahrt auf -er Leipzig- Dresöner Eisenbahn. Von dem großen Eindruck, den die Entstehung der Lisenbahnen in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf die damals lebende Menschheitsgeneration machte, rönnen wir uns heute, wo das ganze wirtschaftliche und persönliche Leben so enq mit dem auf weit fortgeschrittener Stufe befind lichen Verkaufswcsen verknüpft ist, nur schwer eine richtige Vorstellung machen. Um sie zu gewinnen, ist es nötig, auf die Berichte von Zeitgenossen und die Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschrif ten jener Zeit zurückzugehen, die viele intcresinntc Beiträge in jener Hinsicht liefern. So finden sich im Jahrgang 1837 des von dem Thurn- und Taxisschen Hosrat v. Herrfeldt herausgegebenen „Archiv fürdas Postwesen" mehrere Mitteilungen über die Leipzig- Dresdner Eisenbahn, die bekanntlich in dem genannten Jahre den Betrieb auf einer Teilstrecke eröffnete. Die Schwierigkeiten, die damals beim Bahnbau zu überwinden waren, gehen aus einer Notiz in einer Januarnummer der Zeitschrift hervor, in der geklagt wird, daß sich gegen den Bau alle Elemente ver schworen .zu haben schienen. Bei Wurzen habe das Hochwasser an den Pfeilern der Brücke Verwüstungen verursacht, die Zeit- und Eewverlust bedeuteten. Weiter wird geklagt, daß es dem ganzen Unternehmen an Feuer, an einer treibenden, ausschließlich im Dienste dieses Bahnbaues stehenden Kraft fehle. Das m hohem Preise gekaufte Eisen habe man zu spät in Birmingham bestellt. Es ist bezeichnend, daß damals der ganze Schicncnbedarf. die Maschinen und selbst die Ingenieure aus England kamen. Die Schienen ladung befinde sich zurzeit auf der Elbe zwischen Altona und Magdeburg, es gehe sogar das Gerücht, daß das Schift während der Dezemberstürme ver unglückt sei. Und dabei gebe es nicht einmal eine Elbeassekuranz. Die Lokomotive befinde sich icdoch schon seit einiger Zeit in Leipzig, und es würden mit ihr Probefahrten angestellt. Man habe auch ver gessen, den hohen Zoll für das eingeführte Eisen zu veranschlagen. Der Zoll für einen Zentner betrage einen Taler und für die Schienen für die zweimeilige Strecke Leipzig—Machern 16 00t) Taler. Für die Lokomotive ssi ein Einfuhrzoll von 1100 Talern be zahlt worden. Trotz aller Hindernisse hoffe man aber, die Bahn bis Ostern bis Wurzen in Gang zu setzen. Zu einer Nummer derselben Zeitschrift vom 31. Akai findet sich unter der Ueberschrift Triumph der Eisenbahnen" eine Schil derung der Probefahrt von Leipzig nach Althen, die anscheinend einer anderen Zeitung, dem „Berliner Konversationsblatt", entnommen ist. Der Bericht des Leipziger Korrespondenten lautet in der Hauptsache folgendermaßen: „Die Probefahrten auf Ler Eisenbahn haben be gonnen und einen so glücklichen Erfolg gehabt, daß von nun an gewiß auch das Mißtrauen verschwinden wird, was sich bis jetzt noch unter einer zahlreichen Menge Menschen gegen diese Unternehmung erhalten hatte. Die Eröffnung der Fahrten fand am ver gangenen Montage statt, begünstigt von einem heiteren Frühlingstage, der die geschäftige Welt, aus der jetzt größtenteils die Einwohnerschaft Lei^ias besteht, ins Freie lockte, um das neue unbegreifliche Schauspiel in unmittelbarster Nähe anzusehen. Alle möglichen Vorsichtsmaßregeln waren ergriffen wor den, um jedem Unfall vorzubeugen. Allerorten, wo die Eisenbahn die Kommunikationswege und öffent liche Chausseen kreuzt, was ziemlich oft ge'chieht, hatte die Kompanie Wachen ausgestellt und Schlagbäume errichtet. So gesichert, konnte dem Andrange der zahllosen Menschenmenge, ohne Gewalt zu brauchen, getrotzt werden. Die erste Fahrt, an der bloß die Mitglieder der Kompanie und die eingeladenen Be hörden, die fremden Konsuln usw. teilnahmen, war auf vormittags 9 Uhr angesagt. Den Bahnhof um lagerten Tausende, die teils nur dem unerhörten Schauspiele der Abfahrt beiwohnen, teils sich für die nächste, dem Publikum zugängliche Probefahrt ein Billett an den Barrieren erkämpfen wollten. Wenige Minuten vor der anberaumten Stunde traf Prinz Johann von Dresden ein, nm teilzunehmen an der außerordentlichen Festlichkeit, die fortan unvergeß lich bleiben wird in der Kulturgeschichte Deutschlands. Die Maschine, mit blühenden Girlanden und der schwarzblauen Flagge der Kompanie geschmückt, spie Licke Rauchwolken in die stille Luft und ließ weithin ihr dumpfes Schnauben erschallen, gleich einem wil den Fasse, das ungeduldig gegen seine Bande tobt. Endlich verkündigten Freudertzchüsse den Augenblick der Abfahrt, viele Tauende riefen laut der belebten Maschine ihr Vivat zu, und in wenig Minuten war der lange Wagenzug in weiter Ferne verschwunden. Nach Verlauf einer Stunde kehrte er wieder zurück, die Fahrt hatte beim ersten Riale mit Anwendung nur eines Teiles der Kraft 22, später nur 18 Minuten gedauert. In dieser Zeit waren zwei volle Weg stunden zurückgelcgt worden, die Strecke der Bahn von Leipzig bis Althen, einem bisher sehr unbekann ten Dorfe in der Nähe von Borsdorf. Eine Viertelstunde später nahm zum ersten Male das Publikum teil an der Fahrt. Die Lokomotive „Der Blitz" zog, den Tender nicht mitgerechnet, sechs Wagen, die zusammen über 200 Personen faßten. Ein Mujikkorps nahm Platz auf der Decke eines Lieser Ge- sellschcftswagen, die mit höchster Eleganz erbaut sind und für Bequemlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Auch diese zweite Fahrt ward glücklich und in derselben Zeit zurückgolegt. Immer mehr Passagiere, begierig, mit Vogelschnelligkeit eine Meile zu durch messen, drängten sich zu den späteren Fahrten, an denen ich selbst nach einer harten Geduldprobc an der Barriere, dis läitger als drittehalb Stunden dauerte, teilnehmen konnte. Das anfängliche Staunen der Zuschauer, die, bewältigt von der dämonischen Er scheinung, sich selbst kaum besinnen konnten und schweigend das brausende Ungetüm mit Blitzes- schnelligteit an sich vorüberkeuche-n sahen, wich nun der Begeisterung und freudigen Hoffnungen. Die zahlreichen Scharen, di« vom Bahnhöfe bis weit in die Ebene hinein die Bahn belagerten, riefen un unterbrochen dem Wagen, der Kompagnie, den Fahrenden Hurra, und ehe man noch zu sich selbst ge kommen, lag Althen an der Straße, die neu aus Brettern elegant erbaut« Restauration, von Wim peln und Fahnen umflattert, lacht heiter entgegen, und Tausende von Fremden und Einheimischen be grüßten auch hier die Ankommenden mit freudigem Jubelruf. stalten, schwierig zu werden. Aber ob sie Erfolg haben wird, steht dahin. Mir ist verschiedentlich in Rußland gesagt worden: seit es etwas, wie ein Par lament gäbe, sei es besser geworden im Lande. „Man", (soll heißen: vornehmlich die treulosen Be amten), begönne die Duma zu fürchten, wie das höllische Feuer. Andere, nicht schlechtere Beobachter, bezeugen mir das Gegenteil, und meine eigenen Ein drücke bewegen sich in Ler gleichen Richtung. Einen Fortschritt l-at ja — nicht eigentlich durch die Duma, aber um die Zeit der Berfassungs bildung — Rußland erreicht. Man hat eine Art Ab lüsungs- und Zusammenlegungsgesetzgebung einge- lcitet, hat angefangen, den „Mir", den bäuerlichen Gemeinbesitz, der je länger, je mehr zum Hemmschuh jeder wirtschaftlichen Entwickelung geworden war, langsam abzubauen. Freilich geschieht das wohl weniger aus reiner Begeisterung für den agrikultu- rellcn Fortschritt, als aus dem Wunsche, die enge bäuerliche Gemeinschaft, die sich gegen alle Annahme während der Revolution und dann auch in der ersten und zweiten Duma als ein Herd der Unruhen erwie sen hatte, zu zerstören. Woher es denn auch kommt, daß gutz^ Kenner Rußlands dieser Agrarform mit einiger Skepsis zuschauen. Ausgenommen natürlich die deutschen Professoren, die 1912 die Studienfahrt der „Vereinigung für staatswissenschaftlicl-c Fortbil düng" mitmachten und nun in dem bereits mehrfach zitierten Sammelwerk, in dem allein die Aufsätze von Ballod, Brückner und Goebel von wissenschaft lichem Wert sind, die Umwandlung des russischen Gemeinlvsitzes in persönliches Eigentum als eine Großtat preisen, die die Stein-Hardenbcrgischcn Re formen in den Schatten stelle. Die den Dingen näher stehen, klagen bei der Ausführung der Sepa rationen über Härten, Rücksichtslosigkeiten und un gerechtfertigte Bevorzugungen und sehen einstweilen nur zweierlei als gewiß an: daß bei den grundlosen Wegen und den langen und harten Wintern durch das Auseinanserwohnen selbst die schüchternen An sänge des ländlichen Volksschulwesens vernichtet werden würden, und sie bedauern, daß den in die Städte Abgewanderten, dem Fabrikproletariat, dem bislang immer der ideelle Anteil am Mir, am Ee- mecnoeland, blieb, nun auch dieser letzte Rückhalt für Alter und Invalidität geraubt wird. Und d>e Dersittlichung der Beamtenschaft, das allmählich Verschwi irden der Korruption? Auf's i Geratewohl greife ich aus meinem Tagebuch ein paar Geschichrchen heraus. Ein «istländischer Ritterguts besitzer wünschl, um sich einen Arbeitersvand zu sichern (denn die Lvutenot beginnt nun auch schon nach dem Baltikum herüberzugreifen), eine Pensionskasse zu be gründen. Zu diesem Ende will er 1ö 000 Rubel stiften, aus deren Zinsen Arbeiter, die mindestens 15 Jahre bei ihm rn Dienst waren, wenn sie nicht mehr arbeits fähig sind, Unterstützungen aller Art, u. a. auch Woh nung erl-alten sollen. Die Arbeiter selber sollen keinen Pfennig zu entrichten haben: auch vom Staat wird keinerlei Zubuße oder Leistung erbeten: nur die Genehmigung und Bestätigung soll er geben. Aber gerade die wird vom Minister des Innern wie vom Finanzmlnister geweigert. Warum? Darum! Ver mutlich wohl, weit man in Petersburg nicht wünscht, daß ein deutscher Besitzer dem lettischen oder estnischen Uroolk als Wohltäter erscheine. Die Arbeiterschaft des Baltikums — man sieht, ein russischer Minister könnt' einen Sozialdsntokraten lehren — soll bei der Unzufriedenheit erhalten werden. Immerhin hat der Unverstand hier noch eine politische, also einiger maßen reinliche Ursache. Häufiger sind di« durchaus dunklen Hintergründe. Eine Vcrsicherungsgeselljchafft, die in Amerita Rückvevficherungsgeschäfte betreibt, soll — das poird von de-r amerikanischen Regierrwg verlangt — die Bestätigung beibringen, Laß sic existiert. Der Generaldirektor der Gesellschaft begibt sich, um den Weg abzu kürzen, gleich zum Minister selber. Man sollte annchmen: dergleichen wäre, Es war ein heiteres Volksfest, an dem selbst die so lässige Beschränktheit des stupidesten Philisters zaudernd teilnahm. Das Seltsam« der Erscheinung schreckte den Kleinmut heraus aus seinem engen Häuschen, das Woltloben mit der Kraft seiner um gestalteten Bewegung rüttelte an alten Vorurteilen und entfernt« sie wenigstens für Moment«. Die Menge ahnt«, was sich ergeben müsse aus diesen Unternehmungen, und dies« Ahnung trieb sie zur Freude, zu Scherz und Lust und Begeisterung. Es war ein Jubel ohne Ende von früh bis spät hinein in die Nacht. Die vom menschlichen Geist gebändigte Elc- mentarkraft triumphierte über zede egoistische Regung. Der Dampfwagen legte an diesem Tage die Bahn im ganzen 10 mal zurück und am folgenden Tage 7- oder 8 mal ohn« den geringsten Unfall. Nur einige Passagiere hört« ich über verbrannte Röcke und Kleider klagen, was wohl möglich sein mag, da man, um di« Kraft der Maschine auf der kurzen Bahnstrecke leichter bändigen zu können, jetzt noch nicht mit Kohlen, sondern mit Holz feuert. Daß es nun nicht an kleinlichen, kopfschüttelnden Narren fehlt, die dies« unbedeutenden Kleinigkeiten sehr hoch anschlagen und von Pfennig zu Pfennig berechnen, wie viel wohlfeiler es ist, mit ein paar Lohnkleppern zu fahren, wobei weder ein Hut zu riskieren ist, noch ein paar schwarze Rauchflecken im parfümierten Ge sichte, hängt so eng zusammen mit unserer haus backenen Deutschheit, daß es mich wundern sollte, wäre es nicht geschahen." Soweit der für unsere heutig« Zeit erst recht interessante Bericht des Augenzeugen. In einer Nooembernummer desselben Jahrgangs findet sich dann noch eine interessant« Angabe über den Verkehr auf der eröffneten Strecke. Bis zum 5. November 1837 — an welchem Tag«, wie angegeben wird, die Fahrten nach Althen eingestellt wurden, um die Schienen auf eine weitere Strecke zu legen und die fahrbare Bahn zu verlängern — sind an 121 Fahr tagen und in 1020 Fahrten 68 310 Personen von Leipzig nach Althen, 6t 581 Personen von Althen nach Leipzig, im ganzen 132 901 Personen befördert worden.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)