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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 24.06.1914
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1914-06-24
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19140624018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1914062401
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1914062401
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-06
- Tag 1914-06-24
-
Monat
1914-06
-
Jahr
1914
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Deutsche Johannisfeier. Auf dem Tage der Sommersonnenwende, den die christliche Kirche dem ahnungs- und eifervollen Vor gänger des Heilandes gewidmet hat, hat von je im Glauben unseres Volkes eine besondere Weihe ge ruht; und wie sich an diesem Tage gleichsam die Helle und die dunkle Hälfte des Jahres begegnen, wie er den Menschen dazu anregt, nach rückwärts und nach vorwärts sein Leden nachdenklich zu überschauen, so zeigen sich auf der Höhe des Jahres noch einmal in merkwürdigem Gemisch Furcht, Hoffnung und Freude im Glauben und Tun des Menschen. Paul Satori, der nach langer Arbeit sein gehaltvolles, einen Teil der bei Wilhelm Heims in Leipzig erscheinenden „Handbücher zur Volkskunde" bildendes Werl über „Sitte und Brauch" kürzlich vollendet hat, hat gerade diesen Doppelcharakter der deutschen Johannisfeier auf Grund eines weitschichtigen wissenschaftlichen Materials besonders schön und klar herausgearbeitet. Unverkennbar ist es, daß der Johannistag dem Volksglauben als ein Unglückstag gilt, an dem Hexen und böse Geister in voller Tätigkeit sind und Lurch Abwehrmittel verscheucht werden müssen. Leute, die sich am Johannistage begegnen, ermahnen sich wohl zur Vorsicht; auch soll man alle schwere und knechtische Arbeit ruhen lassen, darf nichts aus dem Hause weggehen und nichts draußen lassen, „sonst fliegt der böse Krebs darüber hin und man kriegt selbst einen Krebsschaden" — die Sonne steht ja Johanni im Zeichen des Krebses. Und in Schleswig- Holstein ahmt das junge Volk noch die Unart der üblen Geister symbolisch nach, indem es Sachen ver stellt und aufs Dach setzt, Milcheimer auf einen hohen Baum schleppt usw. Auch vom Baden heißt es, daß es am Johannistage gefährlich sei — aber hier weist sich so recht der Doppelcharakter dieses seltsam schönen Tages; denn anderseits ist, wie männiglich bekannt, ein Johannisbad von besonderer Wirkung, wie denn auch der nächtlich vom Himmel fallende Tau zu dieser gesegneten Jahreszeit Gedeihen schafft. In der Mitternachtsstunde der Johannisnacht wird alles Wasser, so sagt die fromme Ueberlieferung, zu Wein, Schätze steigen empor und können von dem, der es versteht, gehoben werden, und kein Tag im Jahre ist für Krankenheilungen so besonders günstig und geeignet, wie der St. Johanns. In den Feuern am Vorabende des Festes ver einigt sich aller Segen des Johannistages. Nicht nur, wie es freilich am beliebtesten ist, auf Höhen, sondern auch auf öffentlichen Plätzen, an Kreuzwegen, an den Dorfausgängen und sogar auf der See ent flammt man sie. Die Kuren in Nidden lassen brennende Teertonnen aufs Haff schwimmen und die Liven richtige Kähne. Und dann sieht man zu, daß Mensch und Tier, so viel wie möglich vom Segen des Johannisseuers Teil erhalten. Die Aienschen um tanzen die flammende Glut und überspringen sie, wenn sie dem Erlöschen nahe ist; und so hoch der Sprung, so hoch gedeiht der Flachs. Auch das Vieh treibt man um die Glut; kränkliche Kinder werden hindurchgezogen und den Augen ist es heilsam, in die Flammen zu sehen. Sie bringt den Feldern Segen; nicht minder auch der Rauch, auf dessen starke Ent wicklung man daher besonders bedacht ist, und selbst die abgebrannten Scheiter und Stümpfe steckt man in die Felder und Pflanzungen oder bringt sie im Hause an. Der Johannistag, der die ganze Natur in üppiger Fülle und Blumenpracht zeigt, aber auch schon wieder auf die kommende Winterszeit hinweist gibt noch einmal wieder frischen Antrieb, auch die Bräuche, die Kunst unä wissenseligft SNENITS sich auf die Einbringung des vcrtörperten Sommer- jeaens ins Dorf und Haus beziehen, zu wiederholen. Wände, Türen und Zimmer der Wohnungen werden mit Blumen und Kränzen geschmückt; der Maibaum wird noch einmal errichtet und der Wasserzauber fehlt auch am Johannistage nicht. Der Hirt bekränzt sein Vieh, und eine besondere Ehrung wird an manchen Orten den Brunnen zuteil, die man reinigt und schmückt und denen zu Ehren man eine Festlichkeit veranstaltet. Um dre Gelegenheit zum Festen ist ja die frische Lebenslut des deutschen Volkes nie ver legen gewesen, und o hat sich aus den Umzügen mit dem Maibusche oder mit einem Laubmanne ern Fest schmaus entwickelt. Selbst wo schließlich in langem Wandel der Volkssitten nur noch ein bloßer Bettel gang zu Johanni übriggeblieben ist, vflegr doch noch der Blumenichmuck der Beteiligten auf den ursprüng lichen Sinn des Brauches hinzuw-isen. So ist denn alles in allem in den Zügen des Johannisfestes trotz mancher Bedenklichkeiten der Charakter des Freuden- und Feiertages überwiegend. Weit verbreitet war die Sitte, an ihm den Johannisseaen zu trinken: das sollte einen warmen und fruchtbaren Sommer bringen. Bekannte, Verwandte und Nachbarn setzen sich zusammen und Feinde versöhnen sich bei dieser Gelegenheit. In Steiermark führen die Burschen ihre Dirndeln zum Met, der Stärke und Schönheit verleiht, während man in Niederdeutschland das Jo- hanmsbicr mit grünem Maiensckmucke zu begehen pflegte. Man war dabei recht ausyarrend im Feiern; in Norderditmarschen dauerte das Johannisbier zwei Tage, von denen der erste für die Verheirateten, der zweite für die Ledigen war; aber in Bortfeld (Braun schweig) begann die Feier am Mittwoch und dauerte bis Sonnabend der Johanniswoche, und alle Tage wurde dann von morgens 8 bis abends 10 Uhr ge tanzt, außer der Zeit, wo gegessen und gefüttert wurde. Bestimmte Zünfte feierten ihre Feste am Johannistage, namentlich die Schützen, und die Schusterjungen in Heide (Ditmarschen) genossen am Tage des Täufers ganz beionvere Vorrechte: sic durf ten des Abends mit Musik durch den Ort ziehen und — sie durften aus Kalkpfeifen rauchen! Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen, und so machen es denn auch am Johannisseste die Kinder den Großen nach und erfreuen sich an Spielen aller Art, als da sind Hahnschlagen und Topfschlagen, oder auch Wettrennen, wobei der Johanniskranz den Preis bil det. Manche Spiele, in denen ein Scheingefecht dar gestellt wird, deuten wieder auf den immer im Auge behaltenen Kampf zwischen Winter und Sommer hin. Auch auf die Berge zieht man und begrüßt dort die aufgehende Sonne. Am Schluffe der mehrtägigen Jo, hannisfeier aber wird in Wendeburg bei Braun schweig in aller Frühe der „Johanmch" begraben. Die Musik bläst Trauerweisen, und eine Flasche Kognak oder Kornschnaps wird geleert und dann ins Grab gesenkt. Manches, ja vieles von diesen ehrwürdigen Jo hannisbräuchen ist von der modernen Zelt weg geschwemmt worden. Aber die Empfindung, daß der ^-onnwendtag ein besonderer und heiliger Tag ist, ist im deutschen Volke nicht erloschen; ko manche Sitte hat sich, wenn auch oft in wunderlicher Verkleidung, in vielfacher Verdünnung, noch bis zum heutigen Tage erhalten, und jetzt, wo die tapferen Deutschen Oesterreichs und wo unsere Wandervögel wieder das Johannisseuer entfachen und es umtanzen und um singen — jetzt ist wohl keine Not mehr, daß von den Resten, die von der deutschen Johannisfeier übrig sind, noch mehr weggeschwemmt wird. I'. * Schauspielhaus. Anton Francks dies jähriges Gastspiel beginnt, wie bereis an- gekündigt, am Mittwoch, dem 1. Juli, und zwar spielt der beliebte Künstler die Rolle des Professors Ztmpel in dem dreiaktiaen Schwanke „Rechts- anwalt Tantalus von Kastner und Tesmar, oer bereits an verschiedenen anderen Bühnen durchschlagende Heiterkeitserfolge erwirkt hat. * „Des Pastor, Pieke" vo« Erich Schlaikjer. Im Königlichen Schauspielhaus zu Dresden kam am Montag abend Schlaikjers dreiaktige Komödie „Des Pastors Rieke , die hier vor 12 Jahren die Ur aufführung erlebt hat, in neuer Einstudierung mit teilweise neuer Besetzung zur Aufführung. LViecke als Pastor Dahl hatte innerliche Tiefe und sonnige Heiterkeit, und ebenso die Rieke von Gertrud Treßnttz, nur daß sich bei ihr alles in einem ur wüchsigeren, derberen Ton äußerte. Walter Jltz spielte den Studenten Dahl mit der ihm für solche jugendlichen Rollen ganz eigenen Sicherheit und überzeugenden Wahrheit. Ein Meisterwerk der Lha- rokterisierungskunsU war der alte Krischan Adolf Müllers, der durch seinen breiten, näselnden Ton und seine köstlichen Armbewegungen die Epi- sodenfiaur restlos wiedergab. Die Ausführung fand beim Publikum eine sehr freundliche, dankbare Auf nahme. Or. k'. Böller. * Der Kampf um die Freigabe de» Simson in München. Die königliche Regierung hat die Be schwerde des Direktors des Schauspielhauses gegen das Zensurverbot von Frank Wedekinds „Simson" abschlägig beschicken. Damit ist auch in der zweiten Instanz das Verbot der Aufführung des Stückes in Bayern bestätigt. Die von der Polizeidirektion an geführten Gründe des Verbotes wurden von der königlichen Regierung für stichhaltig anerkannt. * Kunstchronik. Die französische Akademie hat den alle fünf Jahre zur Verteilung gelangenden Jean- Reynaud-Preis von 10 000 Fr. dem Professor für mittelalterliche französische Philologie am Col lege de France, Joseph Bedier, für seine „Legen des epiques" zuerkannt. — In dem Wettbewerb um den Strauchpreis 1914 des Architektenvereins in Berlin mit der Aufgabe: „Welchen Einfluß baden angelegte Staubeckenanlagen auf den Aofluß- voraang in den unterhalb gelegenen Flußstrccken aus geübt, namentlich in bezug auf Veränderung des Hochwasserabflusses und Aufhöhung des Niedrig wassers?" ist der Preis in Höhe von 9000 dein Regierungsbaumeister a. D. Dr.-Jng. Leiner in Oranienburg zuerkannt worden. *-ochschulnachrichten. Die Verwaltung der „Peit schen Stiftung für wissenschaftliche For schung", die 1913 von dem deutsch-afrikanischen Minenbesitzer Otto Beit gegründet und mit einer Schenkung von mehreren Millionen ausgestattet war, nahm in der vergangenen Woche die Neuwahlen für 1914 für das Dozentenkollegium der Stiftung vor. Von mehreren hundert Bewerbern aller Länder, auch aus Deutschland, wählte die Verwaltung drei eng lische Kandidaten: den Ingenieur Mr. R. Boul ding vom Londoner City and Guilds Engineering College, den Chemiker Mr. Parker vom Imperial College in London und den Zoologen Mr. Ram - sa y, zoologischer Assistent der Aberdeen Universität. — Ernannt wurde der ordentliche Professor Geheime Hofrat Dr. Richard Reitzenstein zum ordent lichen Professor der klassischen Philologie an der Universität Göttingen unter gleichzeitiger Verleihung des Charakters als Geheimer Regie rungsrat. * Die Hochschule für kommunale und soziale Ver waltung in Köln versendet ihren Bericht über die Studienjahre 1912 und 1913. Dor erste Teil, verfaßt von dem Studiendirektor der Kölner Hochschulen Pro fessor Dr. Lhr. Eckert, gibt einen Ucberblick über die Vorgeschichte und Gründung der Hochschule, ihren Ausbau und ihre Ziele sowie über die Zusammen setzung des Lehrkörpers und die Studierenden. Der 2. Teil des Berichts, erstattet von dem früheren Ab- teilungsdircktor Professor Dr. Adolf Weber, umfaßt die Organisation des Unterrichts, ins besondere die Grundgedanken für die Organisation der Ausbildung der Kommunalbeamten und So zialbeamten. Ein besonderer Abschnitt ist dem Fort bildungsseminar für Reckt und Verwaltung und der Semester-Schlußwoche gewidmet. Der Bericht kann vom Sekretariat der Hochschule zum Preise von 50 Pf. bezogen werden. * Mißdeutete Heiinatschutzbcjtrebungen. Die Stadt Esch wege im Werratal plant, ihr erstes Gottes haus. die eindrucksvolle Marktkirchc, wegen Baufälligkeit des Dachwerkes und des Turmes im Sinne Les Urstiles der Grunobeslandteile „gotisch" zu restaurieren Wohin mißdeutete Heimat- ichutzbestrebungen führen können, tonnte man aus den von der Stadt ausgestellten Umbauentwürfen er sehen. Sie zeigen di« fragwürdigen Formen einer stilkopierenden Gotik, deren Ausführung das eigen artige Bauwerk, den Schmuck der Stadt und ein Denk mal von anerkanntem Wert, gänzlich seines Charak ters berauben würde. Noch ist es Zeit, daß die maß gebenden Instanzen durch Verweigerung der Bau erlaubnis die Stadt vor solch unersetzbarem Verlust schützen! * Ein neues Werk von Ricarda Huch. Ricarda H u ch hat soeben ein Werk vollendet, in dem sie die Ent wicklung der Kunst auf die Entwicklung des menschlichen Geistes überhaupt zurück führt und dadurch der Aesthetik ern« natürliche Be gründung gibt. Ricarda Huchs Buch, das den Titel: „Natur und Geist als die Wurzeln des Lebens und der Kunst" führt und bei Ernst Reinhardt in Mün chen erscheinen wird, wendet sich nicht allein an den Literarhistoriker und Aesthetiker, sondern an das kunstverständige Publikum im allgemeinen. * Eine frühere Verteilung der Nobelpreise? Aus Stockholm wird gemeldet: Die Verwaltung der Nobelstiftung hat an die Regierung eine Eingabe gerichtet, den Tag der Verteilung der Nobelpreise für das kommende Jahr auf den 1. Iuni zu verlegen. Bisher fand die Verteilung der Nobelpreise bekanntlich alljährlich am 10. Dezem ber, Sem Todestage Nobels, statt. In den letzten Jahren haben sich wiederholt Stimmen dafür er hoben, die Verteilung der Preise in «ine günstigere Jahreszeit zu verlegen, da die im Dezember herr schende ungünstig« Witterung nicht selten di« Ver anlassung war, daß die Nobelpreisträger, die in der Regel schon im vorgerückten Alter stehen, die weite Reise nach Stockholm scheuten und der mit der Ver teilung verbundenen Feierlichkeit sernblieben. Wie die Regierung sich zu dem Anträge stellen wird, ist noch zweifelhaft, da der Todestag des Stifters, also der 10. Dezember, von Nobel selbst testamentarisch als „Nobcltag" festgesetzt worden ist. * Eröffnung der Universität Frankfurt. Ober bürgermeister a. D. Adickes bringt, wie uns aus Frankfurt gemeldet wird, einen Kaiserlichen Erlaß, yegengezeichnet vom Kultusminister, zur Kenntnis, in dem bestimmt wird, daß der Unter- richt auf der Universität Frankfurt mit dem Winterhalbjahr 1914/15 beginnen kann und daß die Universität in den Genuß der ihr zu gewandten Rechte tritt. * Drahtlose Starkstromübertragung. Aus Pilsen melden Prager Blätter, daß ein Ingenieur in Pilsen, dessen Name nicht genannt wird, einen Apaprat er funden hat. mit dessen Hilfe elektrischeStröme von beliebiger Stärke auf weite Entfernungen drahtlos übertragen werden können. Vie Liebe Ser örei Kirchlein. 1j Roman von E. Stieler-Marshall. (LopxrixUt 1919 bx LrstUHu L Lo., (1. >a. b. II. ^sipriA.) 1. In der kleinen Universitätsstadt, die so lieb lich am heiteren Flusse und zwischen den grünen Hügeln liegt, wohnen viele hochgelehrte, ernste und würdige Herren beisammen. Einer aber ist unter ihnen, der anders ist, als sie alle. Das ist der Professor der Botanik Willi Kirchlein. Er ist gelehrt wie die anderen und voll eines tiefgründigen Wissens. Aber bei alledem ist er lustig und leichtsinnig geblieben, wie der jüngste Bursche, von einer sonnigen Luftigkeit und einem goldenen Leichtsinn. Das wissen die Studenten, das wissen die Philister, das wissen die Spießer im Städtchen. Seine Kinder wissen es und sind zufrieden damit. Der Stammtisch im „Weißen Schwan" weiß es — und sreut sich, Wirt und Gäste, am allermeisten darüber. Die Gäste sind keine gelehrten Leute — wenigstens nur zum kleinsten Teil. Zwei Aerzte, ein Apotheker, die anderen sind Bürger der Stadt, die Handel oder Gewerbe treiben. Da sitzen sie am runden Tisch im Erker, mittags ein Stündchen, des Abends auch zwei — — und dieser Runde Säule ist Professor Kirchlein. Sie lieben ihn, mit seiner frohen Laune, seinen witzigen Einfällen belebt er sie, erheitert er ihnen den öden Alltag der Klein stadt. Durch ihn kriegt dieser Tag ein Gesicht, ein lachendes, freundliches — und jeder wie der ein anderes — selbst für den vertrocknetsten Spießbürger. Jetzt machte der mutwillige Frühling sich allerlei zu schaffen, besonders in den Prome naden am Sell. Es war himmelblauer April, der mit neckischem Wind alle Wintergrämlichkeit von der Erde wegblies. Die Universität hatte schon längst Ferien gemacht. Sie haben es doch dort prachtvoll gut, was die Ferien betrifft — — ein Drittel des Jahres Ferien. Kaufmann Holdschuh am Stammtisch sagte es neidisch. Professor Kirchlein lachte dazu. Er hatte ein warmes, herzliches Lachen, daü allen Men schen wohltun mußte. „Du ahnungsvoller Engel du!" sagte er. „Die Ferien sind für unseremen die eigentliche Arbeitszeit. Prosit, meine Herren. Ein pflicht getreuer Familienvater muß jetzt nach Hause gehen." Er erhob sich, seinen Nachbarn rechts und links die Hand zum Abschied reichend. Sie entrüsteten sich baß. „Heda, was soll das? Professor, Ihre Uhr geht wohl vor?" „Sitzen geblieben, Willi, Willi, was ist dir in die Krone gefahren?" „Meine Verehrten," sagte Professor Kirch lein — „es geht heute nicht anders. Ich bin, wie gesagt, ein pflichtgetreuer Familienvater, und darum - — —" „Hoho!" wurde er unterbrochen — „seit wann denn das? Sie haben doch keinen Haus drachen, vor dem Sie zittern müssen —" „ES ist noch nicht ein Uhr, setz' dich, Pro fessor. Neuerungen werden hier nicht eingc- führt!" Aber Kirchlein ließ sich vom Kellner Hut und Stock geben. „Nee nee, Kinder. Heute ist'S nun mal so," sagte er — „mein Mädel, mein kleines Frauchen hat heute seinen letzten Schultag und mißt diesem Ereignis eine weltcrschüttcrnde Be deutung bei. Ich habe der Kleinen versprochen, das Fest mit ihr und dem Jungen feierlich zu begehen. Es tut mir leid, schon so zeitig aus diesem Kreise scheiden zu müssen, indessen den noch — — Gehorsamer Diener, meine Herren!" „Das Frauchen, Herr Gott! Wie das her anwächst! Professor, da werden Sic wohl bald Ballvater spielen müssen!" Sie lachten bei diesem Gedanken, denn Kirchlein sah selbst so jugendsrisch und jüng- linghaft aus, daß cs komisch war, ihn in einer solchen Würde sich vorzustellen. Er schwang noch einmal seinen breitrandigen schwarzen Hut, und aufatmend trat er aus der verräucherten Gaststube in die linde, wohlige Frühlingsluft hinaus. Die lustige Aprilsonue lag glitzernd und funkelnd über den stillen Straßen der kleinen Stadt, und Kirchlein bog, das tote Grau der im Schatten liegenden Marktstraße meidend, in die lauschige schmale Promenade ein, die am bräun lichen kleinen Fluß entlang einen Gürtel um das Städtchen zieht. Dort freute er sich an den drängenden grünen Knospen der Büsche, an den Veilchen, die aus dem Rasen dufteten, an den spielerischen Wellen des munteren kleinen Was sers, das im Sonnengold floß — am süßen Flöten der Amseln und lustigen Schmettern der Finken. Er summte ein Frühlingsliedchen, und seine großen, dunklen Augen lachten vor Lebenslust. Aber fein Lied brach er bald wieder ab, weil er selbst heraushörte, wie entsetzlich falsch er es sang. Dafür begann er nun mit seiner klin genden, weittragenden Stimme zu deklamieren: Vom Eise befreit sind Strom und Bäche Durch des Frühlings holden belebenden Blick — Im Tale grünet HoffnungSglück — Der alte Winter in seiner Schwäche Zog sich in rauhe Berge zurück Nie war ihm noch in dieser Mittagsstunde ein menschliches Wesen auf der Promenade be gegnet, und so zierte er sich nicht, sondern über voll von Frühlingsfrcudc und hingerissen von den altvertrautcn, immer jugcndschonen Versen deklamierte er immer lauter, immer begeisterter, daß die Vöglein wie erschrocken still schwiegen auf ihren knospenden Zweigen — — — sein großer, schwarzer Filz ward ihm zu schwer, er riß ihn vom Kopf und schwang ihn hoch, als wollte er dem grämlichen alten Winter ein übermütiges Lebewohl zuwinkcn. Von dorther sendet er fliehend nur Ohnmächtige Schauer körnigen Eises In Streifen über die grünende Flur Aber die Sonne duldet kein Weißes! Wie ein Triumvhschrei klang der letzte Satz schmetternd und hell und gerade in diesem Augenblick kam um die nahe Wegbiegung eine hohe, schlanke Frauengestalt, gemächlich in der Mittagssonne lustwandelnd, auf den Professor zu. Der aber konnte diesen letzten Jubelschrci so gar nicht verleugnen oder zurücknehmen und blieb ganz verlegen stehen, indessen die fremde Dame — in schöner gewählter Kleidung näher herankam und schließlich an ihm vorüberschritt, ein so liebes, verstehendes Lächeln auf dem freien, edlen Gesicht, daß es dem ertappten tZ-rühlingsschwürmcr richtig das Herz weitete und er vor der stolzen Erscheinung in fröhlichem Gruße den Hut schwang, ihr Lächeln strahlend erwiderte und sich tief vor ihr neigte. Die Vorübergehende dankte voll ruhiger Freundlich keit. Dann setzte auch Kirchlein seinen Weg fort, dachte: nun erst recht! und jauchzte den Früh lingshymnus weiter: Uebcrall regt sich Bildung und Streben, Alles will sie mit Farben beleben — — Aber an der Wegbiegung verstummte er — blieb zögernd stehen — — wer konnte denn daü gewesen sein? Diese auffallende, prächtige Erscheinung? Die schönen Frauen im Städtchen kannte er doch genau, zu ihnen gehörte sie nicht. Es ivar aber mehr als die allzeit, rege Neugier des Kleinstadtbewohners, was ihn jetzt hinter der Fremden herschauen ließ, die geruhig und langsam mit einem leichten, schönen Gang dahinschritt, das blonde Haupt mit dem flotten, schlichten Reisehut ein wenig auf die Seite ge neigt, als ob sie hingcgebcn dem Singen der Vögel, diesem ganzen innigen, heimlichen Weben des Frühlingsmittags lauschte. (Fortsetzung in der AbcnLausgabe.) LL^elss bei XLereu^ leiäcn, HarusLure, Lucker, ISIS. 14 664 Sick«?»»« kürsUIctre ^VUttunSer ^iuerLll^uetlen — 8ckrmen kostenfrei 1S1Z: 2278876 ft»»cbeo v»r,»llck >«»»» lHvon»potkekv 8amuei kitte?, Tkonmslürebkot 17.
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