Suche löschen...
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 21.06.1914
- Erscheinungsdatum
- 1914-06-21
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191406210
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19140621
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19140621
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-06
- Tag 1914-06-21
-
Monat
1914-06
-
Jahr
1914
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
§ * 4> Unterhaltungsbeilage r- - Die Liebe bricht herein wie Wetterblitzen, die Freundschaft kommt wie dämmernd Mondenlicht; die Liebe will erwerben und besitzen. die Freundschaft opfert, doch sie fordert nicht. E e i b e l. Italienische Nlomentbilüer. Äon Gerhard Moerner. Wir treten in den Dom von Sierra. Die großen Türen der ungetürmten hohen Fassade sind geschlossen. Eine kleine Seitentür läßt uns ein. Wir sind betroffen von der Größe dieses herrlichen Heiligtums. Um uns blüht ein Lüald von Säulen ans. Man wagt kaum das Äuge zu dieser überschwänglichen Höhe zu erheben. Der alte Kustode trippelt leise auf uns zu, weiß haarig, mit wundervollen Falten. Der zischende Sieneser Dialekt wirkt äußerst seltsam aus sei nem Munde. Wie er uns nun anredet, hat seine Stimme etwas Gedämpftes, wie das Licht, das durch dle bunten Scheiben fließt. Wir gehen mit ihm. Er zeigt uns das Ehorgestllhl mit den Intarsien, die alte Kanzel, den alten Brun nen, den Darstellungen der ersten Menschen um ziehen. Seine Hand streicl)elt den Marmor, der geschliffen aussieht wie Alabaster. Dann hebt er die Holzplatten hoch, die den Fußboden be decken, und zeigt uns die Pracht des schimmern den Mosaiks. Und wie mein Freund etwas lauter hinrutritt, daß sein Schritt durch die Kirche schallt, hebt der alte Toskaner mahnend den Finger an die Lippen und flüstert, auf den Boden weisend: „Michelangelo!" * * * In Bologna kominen wir spät abends ins Hotel. Der Wirt, ein hoher Italiener mit tief schwarzem Schnurrbart, empfangt uns liebens würdig und läßt uns von einem alten Zimmer mädchen das Quartier zeigen. Wir treten in ein schönes Rokokozimmer mit verschnörkeltem Stuck und bunten Ornamenten. Zwei breite alle Betten legen sich wohlig in das Gemach. An der Tür steht die Alte mit dem flackernden Licht und dreht dann die elektrische Birne an. Ob es gefällt, fragt sie auf italienisch, und als wir nicken, wackelt sie ein paarmal bedächtig mit dem Kopf. Dann schließt sie die Tür und kommt in die Mitte des Zimmers. „Die Herren sind noch sehr jung," sagt sie. „Haben Sie kein Heimweh? Dieses Haus ist schon fast deutsch. Sie werden gut hier schlafen. Träu men Sie von den zwei deutschen Damen, die gestern hier gewohnt haben!" Sie wartet einen Augenblick, wir etwas sagen sollen, dann redet sie weiter: „Sic fragen gar nicht, ob sie schön waren. Ob sie schön waren, die deutschen Damen, schön wie die Engel!" Sie nickt uns noch einmal zu und geht. Wir lehnen aus dem Fenster und horchen auf den Lärm ans der piecoln Osten». Wir ntzen abends um zehn Uhr auf dem Domplatz in Florenz vor einem Cafs und löffeln unsere Cassata. Es ist fast ruhig in den Straßen geworden. Rur das Rauschen der Menge, die »ich treiben läßt, um die Kühle zu genießen, läuft gleichmäßig zwischen den Häusern. Ein paar Zeitungsverkäufer sitzen verschlafen in die Ecken gedrängt, halbwüchsige Bengel wollen ihre Postkarten verkaufen. Mit einem Male bricht von dem Palazzo Vecchio her ein furchtbarer Lärm jos. Es ist, als ob Tausende zu einer Revolution aufrufen, als gäbe es eine Feuers brunst, die ganze Luft ist von einem Schrei durchbebt, der jetzt immer näher kommt. Die Rufer verteilen sich durch die ganze Stadt. Jetzt kommt ein halbes Dutzend zu uns auf den Platz gestürzt, dicke Zeitungsballen unterm Arm. „II nuovo xiornrris äi Tempo — il nuovo mornsle <li Ismpo —" Die erste Nummer einer neuen Zei tung wird verkauft. Alles stürzt, alles rennt, um sich mit diesem kostbaren Ding zu versehen. Und schließlich haben auch wir eins in der Hand, ohne -u wissen, wieso wir dazu kommen. Gegenüber vom Palazzo della Giustüia in Rom sehen wir das Tecuro Adriano. Beim Diner »ragen wir den Kellner, wann dort die Vorstellung beginnt. Er kennt das Theater nicht, auch der Portier nicht, der Wirt selber weiß nichts davon. Wir versuchen also am Abend allein unser Glück und sind um neun Uhr an der Kasse, uns ein Billett für den zwei ten Rang zu lösen, der direkt unter der Galerie liegt. Man spielt das Drama „Gauner aus der ersten Gesellschaft". Wir treten ein und sehen in das gut besuchte Haus. Man raucht Zigaretten, pfeift und singt, einer schneidet seine )Salamiwurst an, dort wirft einer die Schale seiner Orange herunter. Im Parterre, im Par kett sitzen die Gentlemen des Volkes, in den gedeckten Logen sieht man vereinzelt Damen der Gesellschaft, die mit dem goldnen Lorgnon das „Volk" mustern. Wir rauchen auch. Nachdem ich mir die sechste Zigarette angezündet habe, meint mein Nachbar zu mir, daß ich viel rauche. Er lacht, als ich ihm sage, daß man das in Deutschland Viel tut: „ckieci litri birra, ckisei sigarsttl, eooolo ü tsäesco." (Ze^n Liter Bier, zehn Ziga retten, das ist der Deutsche.) Das Publikum wird ungeduldig, man beginnt zu trampeln, im Takt, immer lauter, bis der Vorhang aufgeht. Jedes Wort wird temperamentvoll ausgenom men. Pathos ist die Hauptsache für die Schau svieler. Es ist ein wildes Verbrecherstück, was sich da unten abspielt, Erbschleiüferei, Mord durch Erdrosseln. Aber die Galerie will immer noch nicht warnt werden. Im dritten Akt entspringen die Verbrecher an- dem Gefängnis. Man ent deckt ihre Flucht, und mit sechs Schüssen strecken sie die Verfolger nieder. Da dröhnt das Haus vom Trampeln und „Bis"rufen des Publikums. Man merkt, daß die Schußwaffen in Italien nicht frei sind. „L bollo, von e vsro" sagt mein Nachbar und sieht mich mit glühenden Augen an. Wir sind durch die Zimmer und Säle des Palazzo Vecchio gegangen und stehen nun vor der Treppe, die auf den Turm führt. Ein Wärter winkt uns, hinaufzukommen, und dann steigen wir ihm nach die Treppe in die Höhe bis zur ersten Galerie. Unter uns liegt der Platz mit seinen winzigen Statuen und Ntenschen. Der Äustode führt uns die Galerie entlang, vorbei an dem Fahnensaal, in dem die Trophäen floren- tinischer Macht ausgestapclt sind. Dann läßt er uns in den Hof hinunterblicken mit dem Stein, auf dem Savonarola verbrannt wurde. Er weist hinüber nach dem Palast der Uffizien, von denen aus ein Gang über den Arno, über den Ponte Vecchio hinführt, nach dem Palazzo Pitti, für den Fall der Gefahr. Dann greift er in die Quadern des Fußbodens und nimmt eine breite Platte heraus. „Hier schütteten sie Steine herunter und Bleistücke," sagt er breit lachend, „wenn das Volk unten järmte. Da starben die Menschen wie Fliegen unter einer Faust." Wir sehen erschauernd hinunter auf den Hof, fühlen uns erfaßt von der großen Ge walt vergangener Jahrhunderte und wagen es kaum, nach dem Turm zu sehen, dessen gewaltige obere Galerie sich beherrschend über der Stadt erhebt. ** Die Pcterskirche ist überschwemmt von einem Haufen schaulustiger Fremder. Man dringt pie tätlos in die Kapellen ein, in denen die Sarko phage großer Männer und Frauen ruhen, schreitet kalt über den Porphyrstein, auf den: ehemals deutsche Kaiser gekrönt wurden, sieht lediglich mit Neugier zu der Kuppel auf, die das jetzt« Werk des großen Michelangelos war. Die Gläu bigen gehen mit geschlossenen Augen durch dieses Wirrsal und küssen inbrünstig den Fuß der Petrusstatue. Hagere Engländer sieben an das Marmorgeländer der Consession gelehnt, um die goldene Leuchter ewig brennen, und lesen mit abgewandtem Gesicht den Baedeker. Mit einem Male stockt all das wirre, schaulustige Treiben. Aus der Chorkapelle her tönt Gesang herüber. Die italienischen Führer wollen ihre Zeit nicht vergeuden, aber man hört nicht auf sie; alles drängt herüber nach der Kapelle und lauscht der wundervollen Musik Palaestrinas, in die das dunkle Psalmodieren der Priester hinein tönt. Es gibt kaum einen, der den Kopf nicht ergeben beugt. Und oben durch die Fenster der Kuppeltrommel scheint die hellgelbe Sonne in den Raum. Ein kleiner Zeitungsjunge will sich nicht von uns vertreiben lassen. Er läuft uns nach, versucht, uns das Papier in die Hände zu stecken, verspricht uns dieses und jenes'Interessante in der Stadt zu zeigen. Wir schütteln nur den Kopf und achten gar nicht weiter auf den Klei nen, bis es dem schließlich zu langweilig wird und er, die weißen großen Zähne zeigend, uns zuruft: „vkmcarota!" Zwischen zwei Carabinieri wird ein junger Bursche durch die Straße ge führt. Er hat in der Erregung des Spiels nnt dem Messer zugestoßen. Hinter ihm drängt sich das Volk, will sehen, was mit ihm ge schieht. Jetzt wird er an ein paar Freunden vorbeigezogen. Die sehen ihn, stutzen und rufen ihm zu, was mit ihm ist. Er hebt den Kopf nicht und geht dumpf vor sich weiter. Einer ruft ihn noch einmal mit warmem Ton: „Oiulio!" Da blickt er auf, sieht kurz zur Seite und sagt mit seltsam tiefem, schmerzvollem Ton: „8sn- cmrots!" Mus -en Selbstbekenntnissen öes hieronpams Larüanus. Eines der merkwürdigsten Bücher der Welt literatur erscheint soeben — unseres Wissens zum ersten Male — in einer deutschen Ueber- setzung. Es ist das die Eigene Lebensbeschrei bung des Girolamo Cardano, die Hermann He- sele übertragen hat (das Buch ist' von Eugen Dicderichs in Jena verlegt). Der Name des Cardanus hat seinen Ruhm und Glanz noch bis heute nicht verloren; die Geschichte der Mathematik und der Physik bewahrt ihn in der sogenannten cardanischen Formel und in dem cardanischen Ringe auf, und auch die Ge schichte der Medizin weiß die Leistungen des Italieners wohl zu schätzen. Wie man sie aber auch bewerten mag, ein höchst merkwürdiges Geschöpf ist Hieronymus Cardanus unter allen Umständen gewesen, und selbst das an Origr- nalen so überaus reiche 16. Jahrhundert weist wenige Gestalten von so scharf geprägtem Schnitte auf. „Ich habe ein kaltes Herz und einen heißen Kopf", so hat er sich selbst charak terisiert, und mit Recht deutet Hefele diese Worte rahin, daß der Schwerpunkt des geistigen Ge- chehens bei Cardanus zwar im Kopfe, im Ver- tandesmäßigen gelegen, daß sich aber dies Ver tandesmäßige in äußerster schöpferischer Span nung, in einem leidenschaftlichen, stets wechseln den Mitgerissensein vom Objekte vollzogen habe. Talent zum Glück hatte er wenig, und er hat Zeiten der schwersten Prüfung durchmachen müs sen. Erst in seinem 43. Jahre ist er durch die Berufung an die Universität zu Pavia in den Hafen einer sicheren Existenz gelangt; „so kam es denn, daß mein Leben eigentlich erst anfing, da ich sein Ende gekommen glaubte." Den Höhepunkt seines Lebens bildete der Ruf und die Reise nach Edinburg, wo es ihm glückte, den schottischen Erzbischof Hamilton vom Asthma zu heilen. In seiner Lebensbeschreibung spiegelt sich der ganze Mann. ES ist ein klassisches Dokument des menschlichen Geistes, das in der Memoiren literatur einen hohen Rang beansprucht. Uner bittlich seziert der Physiker sich selbst, analysiert seine Vorzüge und Schwächen, und nirgends ver sucht er es, sich zu maskieren. Kann man wohl offener über sich selbst reden, als Cardanus es in diesem Selbstbekenntnisse tut: „Ich habe mich daran gewöhnt, meinen Gesichtszügen unmittel bar nacheinander den ganz entgegengesetzten Aus druck zu geben. Ich vermag aus diese Weise ein fremdes Gefühl zu heucheln, doch verstehe ich es nicht, ein Gefühl, das ich wirklich besitze, zu verbergen. . . Volle 15 Jahre lang habe ich mir die größte Mühe gegeben, mir diese Fer tigkeit anzueignen, und es gelang. Zu diesem Zwecke gehe ich bald in Lumpen, bald reich ge schmückt, bin jetzt schweigsam, dann wieder ge sprächig, bald heiter, bald traurig; denn jede Art des Gefühls, jeden 'Ausdruck meines Be nehmens gebe ich sofort in seinem Gegenspiel wieder." Mit dec gleichen Offenheit hat Car danus über seinen Mangel an Lebenstlugheit, über seine Spielwut und andere Schwächen sich geäußert und hat sozusagen den ganzen Me chanismus seines Körpers und seines Geistes vor den Augen des Lesers anseinandergenommen. Niemand wird behaupten können, daß er sich selbst geschmeichelt habe, wenn er von seiner äußeren Erscheinung die folgende Schilderung entwirst: „Meine Gestalt ist mittelgroß. Meine Füße sind klein, vorn an den Zehen breit und haben einen etwas hochgewölbten Rücken. . . . Meine Brust ist etwas eng. Die Arme sind viel zu dünn; das Kinn geteilt, die Unterlippe schwül stig und herabhängend. Meine Augen sind klein und säst lvie blinzelnd zugedrückt. Meine rechte Hand ist zu plump und ihre Finger unform g... Die linke Hand ist schön, hat längliche, schlanke und wohlgefügte Finger. MeineNägel sind glän zend." Man sieht wohl, daß Meister Hierony mus sich manch liebes Rial im Spiegel betrachtet und sich dabei über seine eigenen Reize wahrlich nichts vorgemacht hat. Der Eindruck, daß man es in der Person des Eardanus mit einer Mischung von Genie und Sonderling zu tun hat, wird überall in diesen Selbstbekenntnissen bestätigt. Man höre nur die folgende wunderliche Praxis, die er zu betreiben pflegte: „Ich hatte die Gepflogenheit — worüber manche Leute sich wunderten, — daß ich, sobald ich keine Schmer zen hatte, mir solche selbst beizubringen. Ich bin nämlich der Ansicht, die Lust bestehe wesent lich in dem Stillen eines gehabten Schmerzes, und wenn cii: Schmerz freiwillig verursacht ist, so kann er ja leicht gestillt werden. Und nun weiß ich aus Erfahrung, daß ich nie ganz ohne Schmerzen sein kann; denn ist dies einmal der Fäll, so befällt mich eine so wiederwärtige Stim mung, daß ich nicht wüßte, was schwerer zu ertragen ist. Ein viel geringeres Uebel ist mir dann der Schmerz oder dessen Ursache, die weder mit einer entstellenden Verletzung noch mit ir gendwelcher Lebensgefahr verbunden zu sein braucht. So habe rch mir zu diesem Zwecke Schmerzen ausgedacht, die mir Tränen erpressen können: ein Beißen in die Lippen, ein Verrenken der Finger, ein Quetschen der Haut oder einer zarten Muskel des linken Armes." Man kann sich bei diesem Geständnisse doch der bedenk lichen Vorstellung nicht ganz erwehren, daß etwa der Arzt Cardanus auch bei seinen Patienten „Borbeugungsmaßrepeln" dieser grotesken Art angewandt habe. Dre Heilkunde stand eben da mals noch ganz vorwiegend im Zeichen des Dilettantismus, und was Cardanus in dieser Beziehung sagt, das ist mehr originell als über zeugend. Hören wir z. B-, wie er sich über die Diät ausspricht: „Fünf Dinge sind es, die man ohne Matz (man wäre denn ein Greis) genießen darf: Brot, Fisch, Käse, Wein (!) und Wasser. Zwei Dinge dienen als Arznei: Rtastix nnd Koriander, jedoch nur in großen Mengen Zucker; zwei als Gewürze: Safran und Salz, wovon das letztere zrrgleich ein Element ist. Vier Tinge sind nur mit Maß zu nehmen, denn es sind Nah rungsmittel: Fleisch, Eidotter, Rosinen und Oel. Und dieses letztere ist ein verborgenes Element, das in seinen Eigenschaften den Sternen zu ver gleichen ist, nämlich wenn es brennt." Hierony mus Eardanus war, das steht außer Zweifel, eine wahrhaft geniale und schöpferische Persön lichkeit, aber in Fragen der Diät und der Re geln der Ernährung ist ihm doch, mit Verlaub, jeder bescheidene Landarzt heute bei weitem über legen. - X. k'. vergessen. Von Fr. W. von Oest6ren. Frau Ilse Kranz saß noch am Toilettetisch vor ihrem Frisierjpiegel, als die Zofe den Besuch Grete Weidners meldete. Rasch schob sie ein kostbares kleines Schmuckstück, in dessen Betrachtung verloren sie eine Weile gesäumt hatte, in eine Lade und erhob sich. Dann ließ sie sich von ihrer Zofe in den Schlaf rock helfen. „Ich lasse bitten. Und lassen Sie uns ungestört, Anna, bis ich klingle!" Die jung«, in Witwentracht gekleidete Frau, die gleich darauf eintrat, blieb einen Augenblick im Zimmer stehen, mit tiefer Erregung kämpfend. Dann breitete sie die Arme aus und fiel der anderen mit einem lauten, wilden Aufschluchzen um den Hals. Und die beiden Frauen hielten einander umschlun gen und eintep ihre Tränen. Langsam und liebevoll lüste Ilse di« Umarmung und führte die noch immer fassungslos weinende Freundin zu einem kleinen Sofa. An ihrer Seite lieh sie sich nieder und behielt eine Hand Gretes in der ihren. „Ich habe dich heute erwartet", sagte sie leise. Die junge Frau nickte schmerzlich und blickte starr vor sich hin. „Der Jahrestag", sagte sie unter Tränen. „Seit ich wach bin, denke ich an Hugo." „Ich kann auch im Schlafe nicht vergessen und nichts anderes träumen." Nach einem kurzen Schwei gen fuhr Eret« fort: .Heute vor einem Jahr ist er gestorben. Und ich frage mich noch immer, warum das sein mußte. So blühend jung und stark, so lebensfroh, so . . ." Abermals brach sie in wildes Schluchzen aus, dem sich die Worte entrangen: „Nur vier Jahre habe ich ihn gehabt." Das Tuch, das sie vor die Augen hielt, verbarg ihr den Anblick der Freundin. Diese sah sehr finster drein; ein Blick, in dem leidvoller Haß sprühte, traf die Weinende; bitter zuckte es um ein Lippenpaar, das unhörbar leise vor sich hinsprach: „Nur? Du Glückliche!" Das währte einen Herzschlag lang. Im nächsten Augenblick legte sich Ilses Arm liebevoll um den Nacken der Freundin. „Grete, ich war länger als du verheiratet, und der glücklichste Tag meiner Ehe war vor sechs Jahren der der Scheidung. Du warst vier Jahre glücklich. Darfst du dich da beklagen?" „Er hätte nicht sterben müssen — so bald. Wenn ich wenigstens eine lebendige Erinnerung an ihn . . ." Frau Ilse fiel ihr ins Wort. „Du hast doch kein Kind gewollt." Grete Weidner nickte. „So lange ich ihn hatte. Mein ganzes Herz, meine ganze Zeit sollte ihm allein gehöre». Wußte ich denn, daß ich ihn so bald ver lieren würde?" „Und jetzt — jetzt bedauerst du?" fragte Ilse Kranz. Mit angstvollen Augen sah die Witwe die Freun din an und fragte bang: „Glaubst du, daß man je vergessen kann?" Ilse zuckte unter der Frage zusammen. „Warum fragst du?" forschte sie. „Heute nacht ist mir der Gedanke gekommen", be kannte Grete leise. „Und da bin ich erschrocken. Denn ihn zu vergessen, ihn, an den ich Tag und Nacht denke voll Tränen und Schmerz und Sehnsucht . . . Ilse, wenn das geschehen könnte, daß ich ihn vergess«, dann . . . Aber, nicht wahr, das ist doch nicht mög lich?" „Und da hast du dir gedacht, ein Kind könnte dich vor dem Vergessen schützen, eine leibliche Erinne rung", sagte Ilse langsam. „Ja", gestand Grete. „Und da kein Kind da ist, hast du die Möglichkeit des Vergessenkönnens dir eingcstanden." „Nein. Ich habe sie von mir gewiesen", erklärte die Witwe. „Das ist dasselbe", sagt« Ilse. Grete Weidner wandte, vom dumpfen, harten Klang« der Worte betroffen, der Freundin erschrocken die Blick« zu. Und da überraschten diese das feind selige Aufblitzen in den Augen der anderen. Entsetzt sprang sic aus. „Ilse!" „Wenn du ihn vergißt — und du wirst ihn ver gessen —, ich nicht. Auch ohne Kind." Ilse sprach es so langsam, daß Wort um Wort wog und wuchtete. In Gretes Mienen vertiefte sich das entsetzte Staunen und ward auf ihren Lippen zu einem nur halb unterdrückten lauten Aufschrei. Mit großen Augen sah die junge Witwe die Freundin an — so, als erblickte sie sie heute, jetzt, zum ersten Male im Leben. Und tief erbleicht stammelte sic: „Ich weiß nicht — weiß nicht, ob — ob ich dich verstehe." Ilse Kranz schüttelte das Haupt. „Aber ich weiß es. Du verstehst mich nicht." Grete Weidner hatte sich wieder aufs Sofa nieder gelassen und blickte wi« anfangs starr vor sich hin. Di« Brauen waren aneinandergeschoben; das ganze junge, hübsche Antlitz war tiefes, schmerzliches Sinnen. Und wie im Selbstgespräch bewegten sich die Lippen und bildeten mit leiiem Klange Worte. «Ja, ja, er hat dich immer lieb gehabt und hoch bewertet und sich oft beklagt, daß du so selten kommst. Bis er m«rkte, daß ich eifersüchtig war und es mir weh tat. Da hat er fast nie mehr von dir gesprochen und nie mehr sich beklagt und war weniger herzlich, wenn du einmal kamst. Nur ehe er starb, da hat er noch von dir gesprochen. Ja, und warum warst du denn, seit er tot ist, der einzige Mensch, der nie müde wurde, mir zuzuhören, wenn ich mein Leid klagte? Warum du der einzige Mensch, der jederzeit mit mir über ihn sprechen mochte und mit mir über ihn weinte? Warum? Und warum habe ich «in Jahr lang das so hingenommen, gedankenlos? Warum sehe ich und verstehe erst heute, was du ?" Grete brach ab und sprang auf. „Du hast ihn geliebt!" schrie sic der Freundin ins Antlitz. Diese stand mit verschränkten Arm«n und zuckte nicht. Ihr Blick war Mitleid und Trauer. „Nein. Ich liebe ihn noch und werde ihn lieben", entgegnete sie gelassen. „Und «r?" forschte Grete. Ihr Blick war Flamme, ihre Stimme Tränen. Ilse Kranz zuckte die Achseln und schwieg, bis sie die Jüngere wanken sah und aufschluchzcn hörte. Da streckte sie die Arme aus, fing di« Wankende auf und zwang sie behutsam aufs Sofa wie anfangs. Und wieder legte sie den Arm um ihren Nacken. Aber Grete wollte sie von sich stoßen. Da faßte Ilse die Freundin fester, legte beide Arme um sie und zog sie an sich, bis das tränennasse Antlitz der Witwe an ihrer Brust ruhte und alles Sträuben schwand. Da sprach Ilse leise und langsam: „Er hat dich geliebt, Grete, immer nur dich. Aber du hast es ihm immer leicht gemacht. Du weißt es; dann später hast du es erkannt, als er nicht mehr war, und hast dich vor mir oft angeklagt. Du hast ihn gequält mit Liebe und mit Eifersucht. Und wenn ihm dann bitter zumute war und er in seiner Liebe zu dir litt, unter deiner Liebe litt, unter deinem Denn, weißt du, du hast ihn oft und viel nicht verstanden. Wenn er litt, Grete, dann kam er zu mir. Seit ich euer Haus deinetwegen mied — ich sah doch deine Eifer sucht seit ich seltener zu euch kam, kam er häufi ¬ ger zu mir und klagte mir, wie er dich liebe und wie anders du ihn liebtest. Und das — war alles." Grete rang sich los. „Alles?" fragte sie. „Alles", bestätigt« Ilse traurig. „Er hat von dir gesprochen, wenn er mich Härte, er hat dich gesehen, wenn er mich sah. Und ich wäre ihm doch — Grete, bleibe still bet meinem Geständnis; denn es ist heili ger Schmerz — ich wäre ihm mehr geworden, hätte ihm alles gegeben, wenn er gewollt hätte." Ilse verstummte. Grete schwieg erschüttert und wagte nicht gleich, die Freundin anzublicken. Aber jäh schlang sie dann die Arme um Ilse, Hal, und drückt« einen langen, heißen Kuß auf ihr« Lippen. Liebevoll schob Ilse die Freundin von sich. „War man gehabt hat, Grete, kann man vergess«»", sagt« si«. „Was man nie gehabt hat, vergißt man nie." Und Grete WeidnerOsenkte wortlos da» Haupt. Sie fühlt«, daß Ilse recht hatte und daß st« otMeicht vergessen würde.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)