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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 01.10.1911
- Erscheinungsdatum
- 1911-10-01
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191110017
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19111001
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19111001
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1911
-
Monat
1911-10
- Tag 1911-10-01
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Monat
1911-10
-
Jahr
1911
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Nr. 272. lOS. 3«krn^nn stantinopel in einem leidenschaftlichen Mani- fest zugunsten der Verteidigung des Islams in Ssordafrtka aufgetreten. Dies kommt der Proklamation des „Heiligen Krieges" nahe. Zur türkischen Kabinettskrist». 0. Wie aus Konstantinopel berichtet wird, hat Said Pascha bisher das 6rohwest rat noch nicht angenommen. Die früheren Minister führen zu nächst noch die Geschäfte. Der König Georg von Griechenland, der zum Besuch seines Bruders des Königs von Dänemark in Kopenhagen weilt, will, wie aus der dänischen Hauptstadt gemeldet wird, seinen Besuch wegen des türlisch italienischen Krieges und der in Verbindung damit befürchteten Ver'chlechlerung der türkisch-griechischen Benchungen vorzeitig abbrcchen und bereits am Montag nach Griechenland abreisen. Annexionsabsichten? 0. Aus Konstantinopel wird unter»! 3ll. Septbr. berichtet: Hier erhält sich das Gcrücht, daß heute England offiziell Aegypten, und Griechen land die Insel Kreta in Besitz nehmen werden. pretz stimmen. Die „Nationalzeitung" schreibt: „Aber vor allein sollten wir uns mit unse ren ö st e r r e i ch i s ch e n B u n d e s f r e u n d e n schnell z u s a m m e n f i n d e n, um eine der Türkei möglich st wohlwollende Neu tralität durchzusetzen, die im letzten Sinne auch im Interesse Italiens liegt, das seine militärischen und wirtschaftlichen Kräfte vielleicht überschätzt und im gegenwärtigen Augenblick nicht bedenkt, welche Schwierigkeiten ihm selbst erwachsen, wenn jetzt auf dem Balkan alles drunter und drüber gehen würde. Will man die Volksstimmung in Deutschland er kennen, so genügt cs, die Blätter aller Parteien zu überschauen. Uebcrall lautet die Losung: Für die Türkei!" Die „Bossische Zeitung": „In der Tat hat Italien, das kann man ohne weiteres zugeben, alles Interesse daran, bah der Brand, den es mit Tripolis entfacht hat. nicht nach den europäischen und asiatischen Gestaden hinüber schlage. Die türkische Streitmacht außerhalb Tri- politanrcns ist zudem nicht imstande, den Italienern cntgegenzulreten. Cie kann infolgedessen im vor liegenden Falle als guun-iiö betrachtet werden. Mau darf aunehmen, das; die Türkei sich angesichts des Unabwendbaren nicht noch in die Gefahr begeben werde, ihre paar Kriegsschiffe zu verlieren. Daher ist die Hoff n u n g berechtigt, das; der Krieg auf Tripolis beschränkt bleiben und das; in Europa und Asien kein Schuf; fallen wird. Am wünschenswertesten allerdings wäre cs. wenn das gleiche auch von Tripolis selbst gesagt werden könnte, wenn die staunende Mell das Schau spiel eines Krieges ohne Schwertstreich erleben würde. Die nächsten Stunden werden Aufklärung darüber bringen, ob sich dieser Mansch, der keines wegs eine Unmöglichkeit ist, erfüllt." Im „Tag" geißelt Gottlieb den Charakter des Ultimatums in folgenden Berschen: Mein Herr! f Sie werden nicht leugnen noch verhehlen. Sie besitzen ein Kästchen mit Juwelen. t s-kulniner Tam'tilan. Leider härt' ich von einer län gen Unordnung Ihrer Perlen in dem Kästchen. Sie putzen selten die goldne Fassung, Darin seh' ich «in« grobe Unterlassung. Ich nehme Ihnen die Perlen daher wech. Reden Sie kein Blech, und werden Sie nicht frech. Sollten Sie, mein Herr, sich erdreisten. Den geringsten Widerstand zu leisten. So hau ich Ihnen (weiß Gott) Die Knochen im Leibe kapott; Alle Backzähne werden Ihnen zerschlagen. (Gibst her?!!!) Ich kann keine Unordnung vertragen! Dss Wichtigste. * Ter Aat Scr Stadt Lcip.ig hat wcgen der Leben sm ittcltcuer nun brich offen, beim Ministe rium des Inn rn un-yeu Beschr änkung der Gin- fuhrfcheiuc und Herabferzung der Fracht sätze auf den Giscubahuen vorstellig zu werden. (S. d. beü Artikel.) * In Leipzig beginnt heute die Hauptver sammlung des Sächsischen Lehrervereins. * In einem Seegefecht bei Prevcsa wurde von öca Italienern ein türkisches Torpedoboot zer stört, rin zweites entkam. (2. 1. Seite.) * Bor Tripolis soll rin italienisches Kriegsschiff gcstrauöet sein. (Liebe 1. Seite.) * Das schwedische Ministerium ist infolge des Ausfalls der Wahlen zurückgetreten. * Salar ed Dauleh hat bei Non aren (Persien) in zwei Gefechten abermals eine empfind liche ?! icderlage erlitten. (Siche Ausl.) „Neue Forüerungen." Paris, 29. September. „Neue Forderungen" hat Deutschland in den Marokko-Verhandlungen gestellt, verk- cündene gestern eine offiziöse Note des „Quai d'Or say". Unö ein wahrer Cancan von Vermutungen, Vcrdüchti-zungcn und Verunglimpfungen erhebt sich von neuem gegen den Staatssekretär v. K i- ö e r l c n - W ä ch t e r, diesen „Mann der Schikane". Die einen sagen, das; die Katastrophe der Li de rtä" den deutschen Diplomaten „neuen Akut" gegeben habe. Die andern versichern, das; Tripo- I i s die neuen Anmaßungen aus Berlin erkläre, w:il ein Druck auf Frankreich ausgeübt werden solle, damit es sich in dieser Frage von Italien und England los löse! Wieder andere erzählen, das; der Wert des Kongos herabgesetzt werden solle, und das) man zu diesem Beginnen Zeit zu gewinnen suche. Wer die französischen Blätterslimmen, insbeson dere die der herrschenden radikalen Partei, ourchliest und ihrer Enttäuschung über die neue Verzögerung aus den Grund geht, wird sich nicht mehr verhehlen rönnen, das; der sofortig« Abschluß des Marokko-Ab kommens von der Republik als eine Niederlage des Deutschen Reiches ausgelcgt worden wäre. Die jüngste Rede des Ministerpräsidenten Laillaux ver kündete zwar, das; das Marokko-Abkommen nur ein Geschäft wie jedes Geschäft nur dann als gut zu be trachten sei, wenn beide Teile sich nachher damit zu frieden erklärten. Aber die Presse, und merkwür digerweise vornan die fortschrittliche („Radikal" usw.), konnte kaum „die jeden Augenblick bevorstehend« An nahme der französischen Vorschläge" abwarten, um in den hellsten Iuoel auszubrechen, weil Deutschland in der Furcht vor einer zu Ultimo sonst unvermeidlichen Börsenkatastroph« nachgeben mußte. Der „Radikal" schrieb gestern noch: „Der „Coup" von Agadir hatte als „contre-coup^ zur un mittelbaren Folge die Expedition nach Tripolis und den Zusammenbruch des germanischen Prestiges im Orient. Da Deutschland sich heute genötigt sieht, die letzten französischen Vorschläge anzunehnnn. handelt es siw, muß man sagen, um einen vollständigen Sieg der Politik des Reichskanzlers . . .!" Auf diese ver- frühre Ironie wirkten dann die „neuen Forderungen", die wieder sofort als „nnakzeptierbar" bezeichnet wer den, wie ein kalter Wasserstrahl, und der heutige „Radical" gesteht, daß „die gestrige offizielle Note ein: gewisse Enttäuschung in Frankreich hervorgerusen hat". Das Blatt verlangt, man möge mit den K> hcimverhandlungen aufhöien, weil das den beschleunigen werde. Ministerpräsident EcvAmux wird wohl aber nicht auf dies« Ratschläge hören; im Ministerium des Auswärtigen vermochten die Re porter nichts über den Inhalt der deutschen „Bemer kungen" zu erfahr'.!,: sie hörten bloß, daß Herr Ca i l- laux persönlich den Text der abermaligen fran- zösi'chcn Gegenvorschläge ausarbsite. Diese letztere Nachricht darf mit Genugtuung begrüßt werden. Denn es ist ein o f f c n e x G ch e i m n i s, daß z w t- schendem Ministerpräsidenten und Herrn de S e I v e s, der von einem einflußreichen Mitglied des Kabinetts (Herrn Delcasso) seine Fingerzeig« er hält und zumeist mehr zur Intransigenz geneigt ist, eine etwas verschieden« Auffassung der marollanischcn Frag: vorlicgt. Von nationalistischer und militaristischer Seite wird natürlich der neue Aufenthalt in den Verhand lungen mit noch ganz anderem ltzeschrei begrüßt, wie von radikaler. „Wird Frankreich sich weiter von Deutschland prellen lassen?" fragt Andrä Müvil im „Echod « Paris" und erhebt schwere Anklagen gegen Caillaux, weil er die ausgedienten Sol daten wogschickte und Frankreich damit „allen Er pressungen aussetzte". Ferner will das „Echo" er fahren haben, daß dir französische Regierung, den deubsclxn Versicherungen vertrauend, die französische Finanz autorisierte, dem Berliner Markt für die September-Liquidation jene Summen vorzuschießen, deren er zur Vermeidung Les drohenden Krachs be durfte. Als Toulon läßt sich dasselbe Blatt tele graphieren: „Das war vorauszufehen! Unser Ge- schwadrr wurde um ein wichtiges Glied amputiert; und dem Tod der „Libcrtc'" gesellen sich die Wun den der „Röpubligue" und die Haverien der „Demo kratie" hinzu: Deutschland profitiert sofort von unserm Unglück und vermehrt seine Prätentionen!" Dagegen muß m-an folgender neuen Hetzerei der „France Milltaire" Aufmertsamkeit schenken: „Man hätte in Tripolis di« Vermittlung des hohen und mächtigen Deutschen Reichs erwartet. So ist der Riese in seiner glänzenden Rüstung, der mit seinem Schwert die 300 Millionen Mohammedaner b«. schützte? Seht doch, ihr Türken, Deutschland kann nichts für euch tun, außer euch auszubeui«n. Was vonntny, l. Oktober 19U. die Stütze «»belangt, so hat es dazu weder den Wil len noch di« Kraft; denn das mächtige Deutsche Reich steht auf schwachen Füßen, ist rin« schlecht gemauerte Mass« und außerstand«. ohne die Erlaubnis Eng lands, Rußlands und Frankreichs nach außen hin etwas zu unternehmen. Deutschland wird euch raten, euch in euer Schicksal zu fügen — und weiter nichts!" LIZenn bei dieser Hetze, di« auch in vielen Tages zeitungen betrieben wird, Herr v. Kiderl«n den Gang der Marokko-Verhandlungen verlangsamen würde, wäre er wirklich entschuldbar! Kuc!r ein Kulruk zur Einkehr. Die „Norddeutsche Allgemeine Zet» t u n g" veröffentlicht zur Feier ihres fünfzig jährigen Jubiläums eine reich ausgestattete Festnilmmer. In dem gedankenreichen Leitartikel jagt das Blatt nach einem Rückblick auf die 50 Jahre, die es miterlebt hat: „Mit ungeteilter Befriedigung vermag der Vater- landsfreuno auf die innere Entwicklung nicht zurück- zublickcn. Ist ohne Zweifel Großes geschaffen worden, so erhob doch anderseits der innere Hader als bald nach Gründung des Reiches sein Haupt von neuem. Dein eigenbrötlerischen Zug im Wesen Les Deutschen entsprang eine Paltcizersplitterung, die tatenfrohe Kräfte der Nation fruchtlos aufreibt. Breite Schichten der Bevölkerung haben sich durch sozialistische Irrlehren in Gegensatz zu Staat und Gesellschaft drängen lasten, obwohl in keinem Lande für diese Schichten eine so weitreichende Fürsorge ins Werk gesetzt worden ist, wie gerade in Deutschland." Das Blatt erinnert dann an ein Bis- marcksches Wort, das 1805 im Abgeordnetenhaus ge fallen ist. Bismarck sagte damals: „Der Weg, den ein preußisches Ministerium überhaupt gehen kann, ist so sehr breit nicht. Derjenige, der weiter links steht, wenn er Minister wird, wird nach rechts rücken mästen; derjenige, der weiter rechts steht, wenn er Minister wird, wird nach links rücken müssen, und man hat für die weitere Abschweifung der Doktrin, wie man sie als Redner, als Abgeordneter betiteln kann, auf diesem schmalen Pfad, auf dem die Regie rung eines großen Landes wandeln kann, keinen Raum." In einem Schlußwort führt di« Jubilarin an: „Was hier von Preußen gesagt ist, gilt in vielleicht noch höherem Grade vom Deutschen Reich. Dasselbe politische Problem wird im Wandel der Zeiten und unter verschiedenen Umständen verschiedene Behand lung zulassen, ja erfordern. Aber kein Wanken darf es geben in der Treue zur Monarchie, in der opfer bereiten Liebe zum Vaterland, in der Acktunq vor der Verfassung, in der Unterwerfung unter Gesetz und Neckt und in der Wahrung der Gesellschaftsordnung, die im Verein mit dem Gesetz die bürgerliche Freiheit gewährleisten und auf deren Boden allein echte Kultur erblühen, d. h. di« Entfaltung der wert vollen, ausbauenden Kräfte der Persönlichkeit er folgen kann." Wir glauben hier Bekbmannsche Gedanken wieder zuerkennen. Mögen neben dem Regierungsorgan auch die verantwortlichen Staatsmänner für die Durchführung dieses Programms, das die bürgerliche Freiheit und dis Entfaltung der Persönlichkeit ent hält, kräftig eintreten. LrMLer. Lste Natten. Berliner Tragikomödie in 5 Akten von Gerhart Hauptman n. (Erstaufführung im Alten Theater.) Leipzig, 1. Oktober. „Alles faules Holz, alles unlerminicrt, von Un geziefer, Ratten uno Mäusen zerfressen. Alics schwankt." Mir Liesen Worten gibt der Maurer polier John selbst die Grundclmraklcristik des Milieus, in bas uns Gerhart Hauptmann in seinem neuesten Drama „Die Rata'ii" jährt, das im Januar in Berlin seine Uraufführung und gestern abend im Alten Theater seui« Leipziger Erstaufführung fand. Nicht in seine schlesisäpe Heimat führt uns diesmal der große Dichter, sondern nach Berlin führt er uns, in eine jener menschenunwürdigen Mietskasernen im Norden der Metropole, wo sich soziales Elend und Verbrechertum die Hände reichen, wo Menschen woh nen, die, von bösen Leidenschaften getrieben, bereits dem Verbrechen und Laster in die Hände gefallen. Und dicht dan«l»en andere Menschen auf demselben Korridor, dieselbe Luft atmend, die sich ehrlich ge halten. verkrachte Existenzen — Weltsradtmilie-u in den Tiefen des Lebens. Das Hinterhaus, in dem Hauptmanns Drama spielt, ist von Natten und Mäusen bewohnt, zernagt, zerfressen, die Menstkxn, di« Träger der Handlung, von Leidenschaften zerwühlt, vom Elend benagt — alles schwankt. Im Dachgeschoß einer ehemaligen Karallcrickassrne setzt das furchtbare Drama ein, das Hauptmann vor uns entrollt. Ein früherer Thcatsrdirektor, eine halb verkrachte, halb zer fressene Existenz ist Lieser Mann selbst, der hier auf dem Boden seinen Fundus, seine Requisiten unter gebracht, der hier dramatischen Unterricht erteilt an gleichfalls nicht mehr auf der Höhe des Lebens wan delnde jung« Leute, der sich hier Stelldicheins mit einer ehemaligen Schülerin und Novizen gibt, in dieser Höhle, deren Hauptbewohner Ungeziefer, Nat ten und Mäuse sind. Von draußen dring! der Lärm der Großstadtstraße und macht das Bühnenbild, in . dem nun in schneller Folge eine große Zahl der ver schiedenartigsten Menschen und Charaktere Zusam mentreffen oder sich au «weichen, nur noch unsym pathischer, nur noch gruseliger. Die Trägerin der dramatischen Handlung ist Frau John, die Frau eines Maurerpoliers, die den Fundus des Theater direktors bewacht und nach ihrer Art in Ordnung hält. Ihr Mann ist ein fleißiger, tüchtiger Arbei- 1er, ein grader. ehrlicher, harter Charakter, der seine Frau in seiner Art lieb hat und gern arbeitet, um es zu etwas zu bringen. Aber er ist viel und lange auswärts tätig, in Hamburg und anderen Städten, und diese lange Abwesenheit wird im Verein mit der Umgebung zum Berderden für seine Frau. Das eng« Zusammenleben auf gleichem Korridor mit Engelmacherinnen, Dirnen und Zuhältern, mit allerhand lichtscheuem Gesindel, wird zum Verhäng- I nis für Frau John in dem Augenblick, als ihr «in I Glück befchieden scheint, nach dem fi« sich lange und I innig gesehnt hat. Den schlimmsten Einfluß auf Frau John hat aber unzweifelhaft ihr jüngerer Bruder Bruno, eine Verbrechernatur, die mit Not wendigkeit die grausige Tragik in den Schoß der sonst vielleicht friedlichen Fannie John trügt. Mit grau same: Schärfe hat Hauptmann dies« widerlich ab stoßende Verbrechernatur gezeichnet, ein junger, von Lastern und Leidensclpaften zerfressener, völlig halt loser Mensch ohne Arbeitsdrang, ohne jeden sitt lichen und moralischen Halt, der Typus des verkom menen Zuhälters schlimmster Sorte, dem «in Mord nichts ist, wenn er dafür einige Groschen bekommt, um sie in Bouillonkellcrn und anderen Brutstätten des gemeinsten Lasters zu verbringen. Das ist der eine tragiscfze Konflikt im Leben der Frau John, daß sie entgegen dem harten Willen ihres Mannes sich nicht von diesem Burschen trennen kann, den sie auf gezogen, den sie mit ihren Spargroschen ernährt. Und der andere tragisch« Konflikt liegt in der un befriedigten Mutterliebe dieser trotz abstoßender Züge nicht unsympathischen armen Frau. Ihr einziges Kind, ihr Adaloert, ist nach wenigen Wochen eines in dieser Umgebung freudlosen Lebens gestorben. Aber es ist der Wunsch der Fran geblieben, ein Kind zu besinn, ein Wesen, für das sie den Rest ihrer Weiblichkeit, ihrer Mutterliebe aufopsern kann. Sic lernt ein polnisches Dienstmädchen Piperkarcka ken nen. die ihrer Entbindung entgegensioht. Der Schatz hat das Mädel verlassen, und mitleidlos geht dieses halb tierische Geschöpf mit dem Gedanken um, das Kind mich der Geburt zu töten oder sich selbst das Leben zu nehm«». Fran Föhn überredet sie, ihr das Kind als eigenes zu überlassen, zu verkaufen. Die Kindesuntcrschiebung wird in Szene gesetzt, während ihr Mann wieder einmal auf Arbeit lange Zeit außerhalb ist. Schon scheint sie zu gelingen, da er- j ivacht in der unnatiirlicl?en Mutter die Mutterliebe. ! Di« Piperkarcka kommt zurück, will ihr Kind sehen und wieder haben, und es entspinnt sich nun der Kampf der beiden Frauen um das kleine Wesen, in dem Frau John scheinbar Sieger bleibt, denn auf ihr Nnstiften ermordet der ruchlose Bruno das Mid- ch:n. Und dann erfüllt sich das tragische Schicksal, indem der grade, ehrliche John unbeabsichtigt zum - Richter seiner Frau wird. Der Mord und der Mör der werden entdeckt, die Kindesunterschrdbung ruch bar, Frau John der Mordesanstiftung verdächtigt. Als alles zusamme»bricht um sie herum, das ganze Gebäude ihres Betruges, ihrer Lügen, stürzt sich das gequälte Weib auf die Straße und endot unter Pferdehufen und Wagenrädern. Mit erdarnmngsloser Schärf« hat Hauptmann di« Hauptcbargkteve dieser Tragödie gIeichnet. Frau John ist di, in« kleinst« als das Weib geschildert, das dieser Tragödie zum Opfer fallen muß, ebenso subtil sind die Derbrechernatur des Bruno, die grade, derbe Figur des Maurerpoliers John, di« zerfressene Charakterlosigkeit des talmi gebildeten geckenhaften Theaterdirektors, da« Dienstmädchen and alle anderen vor uns hingestellt. Warum Hauptmann sein Stück Tragikomödie nannte, ist mir nicht klar, denn komödienhaft sind nur ganz wenige fkizzervhast« Episoden, und höchsten« noch die seltsamen Namen einzelner Personen kön nen uns ein Lächeln abzwingen. Sonst sind „Die Natten" eine harte Tragödie mit dem herben Realis mus Hauptmannscher Dramen, die uns innerlich packt und erschüttert. Der grausame Realismus eines Gorki, eines „Nachtasyl", gemischt mit der weniger qualvollen Natürlichkeit eines „Fuhrmann Henschel" durchtränkt „Die Natten" und logt sich wie eine kalte Hand auf unser Herz. Das sind Hauptmanns ..Ratten". Die gestrige Aufführung blieb dem Dichter und uns manches schuldig. Einige Neaiefehler — nach meiner Auf fassung — möchte ich gleich erwähnen. Der Dach boden, diese alte, unheimliche Rumpelkammer, war viel zu theatralisch crufgeputzt. Die vielen Kisten, Körbe und Kasten, in denen der Fundus des Theaier- dircktors untergeoracht sein soll, fehlten. Dafür waren an langen Garderobcständcrn unglaublich viel Kostüme aufgehängt, die dem Raum jedes Un heimliche nahmen, die ihn grotesk erscheinen liessen. Und völlig deplaciert ist doch die große Hängelamne mit dem grünen Schirm. Eine altmodische Steh lampe auf dem Tisch wäre richtiger gewesen. Aus dem berüchtigten Oberboden flutete zudem, wenn sich die Luke öffnete. Helles Licht, statt des grausigen Halbdunkels. Es sind das vielleicht Kleinigkeiten, aber bei Hauptmanns Dramen muß selbst di« Milieusttm- mung bis ins kleinste durchgearbeit«t s«in, unbedingt. Die Darstellung war sonst gut. Herr Zwdeck als Theaterüirektor war etwas zu jugendlich, seine kastanienbraune Perücke störte neben der wohl 18jährigen Tochter; man vermißte die Silberfädcn darin, die man erwarten durste. Im Spiel war er aber sehr gut, traf in den grotesken wi« in den ernsten Szenen den richtigen Ton. Weniger erfreulich uxr die Auffassung, die Herr Inge nohl von dem ab trünnigen Theologiekandidaten Erich Spitta hatte. Er übertrieb denn doch «twas, war stellenweise zu sehr Karikatur, wie Las auch die beiden anderen Schüler des Tl-eaterdirestor-, die von Herrn Winds jun. und Dirks gegeben wurden, taten. Die Hauptrolle, Frau John, lag in den Händen von Frl. Nolewska. Und es war eine in den dramatischen Szenen glänzende schauipielerUcke Leistung, die stellen weise vergeßen ließ, daß Frl. Nolewska eines nicht vermochte: Das Berliner Idiom völlig zu beherrschen. Der Berliner Dialekt machte ihr große Schwierig keiten und beeinträchtigte damit den Gesamteindruck ihrer sonst sehr anerkennenswerten Leistung. Hervorragend waren dagegen die Herren De ca rli als Maurerpolier John, und Wendt als der verbrecherische Bruno. Das waren Musterleistungen, die restlos die Gestalten und Charakter« ausgeschöpft hatten, die Hauptmann vor geschrieben. Ein« so subtile Durcharbeitung der Rolle des John, dieses geraden, auch stn Unglück aufrechten Mannes aus dem Volk, ist wahre dramatische Kunst, der Rolle gab Deearli so tiefes Innerliches, das wir erschauerten. Und restlos stellte uns Wendt den heim tückischen, tierischen, verkommenen Mörder hin, vor den jeder Zuschauer sich fürchten muß. dem unser grenzenloser Abscheu entgegengebracht werden mußte. Decarli und Wendt waren Höhenpunkt«, die uns manch antderes vergeßen ließen. Vorzüglich waren auch Frl. Rupprechtals polnisches Dienst» machen und Herr Demme al« Hausmeister Quaquaro, als der Mann, der mit einem Fuß im Zuchthaus steht und gleichzeitig Spitzel der Polizei ist. Für Frau Monnard, die unpäßlich war, hatte Frl. Dalldorf die mekr episodenhafte Rolle der Engelmacherin Knobbe itoernommen und gleichfalls trefflich herausgebracht, welches Lob auch der kleinen Kät« Kießling als Selma gebührt. Die übrigen Darsteller waren gleichfalls ihren Rollen voll ge wachsen. Schüchtern war d«r Beifall nach dem ersten Akte, aber di: Tragik der letzten Aste packte und brachte einen vollen, wenn auch nicht ganz unwidersprochenen Erfolg. v. L. Neues Operettentheater. („Das Herbstmanöver.") Der Feldmarschalleutnant von Lohonay ist ein ver zweifelt schneidiger alter Herr, und da er und Re gisseur I. Groß ein und dieselbe Person waren, so konnte es gar nicht fehlen, daß es gestern in Kal mans musikalischem Krieg- und Friedensspicl außer ordentlich lebhaft, aber auch bestdiszipliniert zuging, und das ganz zur Jahreszeit paßende „Herbst- manöver" mit sehr lebhaftem Beifall ausge nommen ward. Die Liebe ist auch hier Treff und Trumpf, und so stand denn das Paar Lörenty und Baronin Nisa im Mittelounkte des Interesses. Anny Boese gab eine sehr sympathische, bochgewachsenc Frauengestallt ab, deren Bewegungen, Manieren und gesamtes Auftreten durchaus aristokratische Züge aus?' wies und deren Seelenleben ein wohlaeführter, oft sehr fein und nachdrücklich behandelter Dialog offen barte. Hinter der Darstellerin trat allerdings die Sängerin unendlich weit zurück, denn sie scheint noch sehr im Nnsängertum begriffen, was anderseits wieder eine nicht geringe Befangenheit nach sich zog. Aehnliches gilt von der Treszka: Hanna Mund war ein allerliebster zierlicher Backfisch, der aber sicherlich noch manche Gesangsstunde nehmen sollte. A. El- stör ffs Lörenty ist von früher her schon aufs vor teilhafteste bekannt — der Leutnant mit dem braven Herzest und dem großen Weltschmerz, der mit der schönen Risa einen Liebesroman abspielt im Stil der Marlitt. Ausgezeichnet w >r wieder Therese Wirts Einjähriger. Di« Künst lerin war bei bester Laune und verlieh dem über mütigen, in die Uniform gesteckten Hans Luftikus manchen s«hr liebenswürdigen Zug. Nud. Gfal- le: s Wallcrstein gab sich in gesteigertem Maße als Poßenreißer und Karikaturist, würdig im Berliner Metropol sich zu zeigen. Der Darsteller unterstrich noch diese fleischgewordene Unmöglichkeit eines K. K. Oesterr. Reservekadettenoffizierstellvertreters, statt den Tertmacher ein Besseres zu lehren, indem er diese Ge- ste'lt für die Operettenbühne, die doch immer ein Tl>eater bleiben und kein Varietü oder Zirkus wer den soll, passend zurechtzimmert. Di« Regie sollte hier mit einem ene^iscl)«» Veto hervortretcn. Eine sehr cixrrasteristisch«, künstlerisch ausgezeichnet ge lungene Gestalt war G. Bert rams alter, treuer Diener Lajos. Kapellmeister Willy Wolf verhalf der melodftchen, des öfteren auch rhnthmiick inter essant gestalteten Musik Kalmans zu guter Wirkung und hielt das Ganze fest und sicher zusammen, ü. 8.
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