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und wissen 54 — 5. ULrr 1931 i>Lcli8i8«.Iie Volksrienunkr „kitte Hire kalrrtrarte...!" Dis „klivzsaäv kvriinsr Lskakvksstreiks" — Di« ^Vartesiils ^verrisr» suszsirämmt Nsrrenscknee Es pocht zur Nacht der jung« Lenz Wohl an mein Fensterlet«, Doch als ich froh ihm aufgetan, Da warf er lachend, spottend mir Eine Handvoll Schnee herein. Es ist kurz vor Mitternacht. Ein feiner Sprühregen schasst ' «Ine ungemütliche Atmosphäre. Auf dem naßglänzenden Asphalt verschwimmen zitternde Reflexe der Lichtreklame. Jeder ist bestrebt, so schnell wie möglich, in sein« eigenen, oder andere gastliche vier Wände zu gelangen ... In der Lity sind die Theater gerade zu Ende, und der Strom des Publikums ergießt sich in Bahnhöfe, tn Straßenbahnen und Autobusse. Ruhig liegt der Fernbahnhof da Der Expreß »ach Holland hat eben die HaNe verlassen, die Zurück bleibenden haben die Sperre passiert . . . Da tauchen plötzlich sechs Männer in der großen Vorhalle auf. Sie scheinen mit der Umgebung sehr vertraut zu sein, denn sie gehen rasch auf eine Tür zu, die in dicken Lettern die Aufschrift trägt: „Polizeiwachtstube — Bahnhof Friedrich straße". Als sie eingetreten sind, wird die Tür sorgfältig ge schloßen. Letzte kurze Besprechung und Mitteilungen, — dann beginnt die „F l l e g e n d e B e r l i n e r V a h n hof s st r e i s e" ihren Dienst. Ein Beamter geht voraus und benachrichtigt den Portier, der mit einem riesigen Bunde Schlüssel erscheint und zwei Türen des Wartesaals 3. Klasse von außen verschließt. Durch die letzte Tür gelangen die Kriminalbeamten hinein. Aus Tischen, Stühlen und Bänken sitzen, liegen, kauern Frauen und Männer, den Kopf auf die Tischplatte, auf die Schulter des Nachbarn oder in die Hande gestützt. Fast alle schlafen fest — ahnungslos. Ein kräftiges Schütteln am Arm, und einer nach dem anderen erwacht und sieht aus schlaftrunkenem Ge sicht mit erschreckten Augen die Uniform eines „Grünen". Mancher versucht auszukneisen — denn die anderen Beamten sind in Zivil, man erkennt sie nicht auf den ersten Blick. Endlich sind alle wach und werden aufgefordert, Fahr karten oder Ausweise bereitzuhalten. Ein emsiges Kramen und Euchen beginnt... die Beamten wissen im voraus, daß es zum größten Teil ohne Erfolg verläuft. Fingiert! Nur wer sich genügend ausweisen kann oder eine Fahrkarte bel sich hat, dars im Wartesaal verbleiben; die anderen müssen den Weg zur Polizei st ube antreten. Biele versuchen noch rasch mit Bitten und Beteuerungen, daß sie es bestimmt nie wieder tun wollen, frei zu kommen. Aber es Hilst ihnen nichts — denn die Polizei erfüllt sa nur ihre Pflicht und säubert die Warte säle im Interest« der Reisenden. Diesmal sind es 18 Mann, die mit zur Wache müssen. Dort angekommen, werden sie zuerst nach Massen untersucht: dann beginnt das Verhör. Viele scheinen alte Bekannte zu sein und werden mit lustigen Begrüßungswortcn empfangen. Die Personalien werden notiert und dann mittels Telegraph dem Präsidium durchgegeben. Schließlich nimmt sich der leitende Kriminalkommissar jedes einzelnen an. Der erste ist ein alter Mann: ein feines, blasses Gesicht läßt daraus schließen, daß sein Besitzer einst bessere Tage ge sehen hat. Er ist nicht zum erstenmal da; seine Geschichte ist der Polizei bekannt. Er war früher Kraufmann in Stettin, fand keine Stellung mehr und kam nach dem Kriege nach Berlin. Hier hat er nur vier Jahre gearbeitet, sonst war er immer arbeitslos und ging statt zu stempeln nachts auf die Bahnhöfe. An Hand der Karten wird festgestellt, daß der Mann nicht weniger als fünszehninal in diesem Jahre verwarnt wurde. Sein Maß ist wieder voll. Er kommt nicht frei, sondern er- ' hält den Stadtbrief: das heißt, daß er innerhalb einer ge- s misten Frist Berlin verlassen muß. Wird er nach dieser Zeit j noch hier angetrofsen, wandert er hinter schwedische Gardinen. „Tja", meint der Kommissar, „manchen mag dieser Fall viel leicht roh und gemein Vorkommen, aber was sollen wir machen? — Wir wißen auch, was es heißt, arbeitslos zu sein, aber wir können ihnen doch nicht Helsen." Der zweite Mann ist eine noch traurigere Existenz. Ein ehemals zaristischer Offizier. Seit 10 Jahren in Berlin. Mal Kellner, mal Stelnklopser, mal Arbeitsbursche — und dann das alte Lied: der der Arbeit entwöhnte Körper bricht zusam men. Fast ein Jahr Krankenhaus. Ruhig steht er vor dem Kommissar und bemüht sich, stramme Haltung zu wahren. Nervös spielen seine Finger an einem schmutzigen Schal, den er immer, auch bei größter Hitze trägt. Er antwortet ruhig, seine Aussprache ist mit russischen Silben vermischt. Ihm ist alles egal, — er möchte nur Arbeit, — Arbeit... Er wird Wohlfahrt zuerteilt. Nummer drei: zwei j u n g « B u r sch « n. Der Kommissar sieht sie lächelnd an und fragt: „Na, Kinder, wie lange seid Ihr denn schon auf Walze? Vater wird Augen machen, wenn die Jöhren aus Berlin zurllckgeschickt werden!" — Und die beiden sangen zu weinen an und gestehen. — Sie sind Lehrlinge aus Leipzig und wollten sich mal Berlin ansehen. Dann hatten sie kein (Held mehr und trauten sich nicht nach Hause . . . Der Polizcibeamte hat für diese Fälle einen überraschend guten Blick. Inzwischen hat das Polizeipräsidium geantwortet. Die Angaben der 18 stimmen und alle bis auf drei dürfen das Zimmer verlaßen. Ein schwerer Zunge gefaßt, zwei Kinder kommen zum Jugendamt. Der Russe darf gehen, muß sich aber am nächsten Tage melden. Weiter geht'o — zum Potsdamer Bahnhof. Es ist bald 2 Uhr; eln paar Bummler gegen nach Hause, Reinemache, sraue» und Kellner kommen von der Arbeit. Auf dem Bahn hof das gleiche Bild wie vorher. Alles erschreckt. Emer hebt sogar die Arme. Man könnte dies für ein Zeichen halten, daß er etwas verbrochen hat. Aber der Kommissar weiß es besser: Nervosität. Die Leute sind aus der Suche nach Arbeit und durch Hunger derart nervös, daß sie dies ganz unbewußt tun. Hat der Mann wirklich etwas aus dem Kerbholz, dann hat es das Präsidium bestimmt reaiktriert. Die Ergebnisse der „Fliegenden Bahnhossstreifen" sind unterschiedlich. Manchmal gibt cs in einer Nacht ü bis 7 Ge suchte, manchmal wochenlang nur vier Mann. Es kommt auf das Wetter an. Im Winter und in den kalte» Ato nalen ist mehr als im Sommer zu tun, denn sobald es warm ist, schlafen die Leute bei „Mutter Grün". Sie setzen sich zu ca. 8V Prozent an» Auswärtigen zusammen. Die Großstadt lockt, — immer noch, immer wieder — und wenn der Reiz vorbei ist. dann ist auch das Geld alle, und dann — dann dauert es meistens nicht mehr sehr lange bis zur ersten Bekanntschaft mit der Bahnhofspolizei . . . Alle Berufe sind vertreten: Arbeiter und Jnslationsopfer vor allem, Soldaten und manchmal auch Studierte. Frauen sehr wenig. Diejenigen, die man hier trifft, haben sich meist vorher sür weniges Geld eine Fahrkarte gelöst. Merkwürdig sind die Ausweise, die größtenteils vorgczelgt Es pocht mit leisem Finger ost Die Liebe an ein Herz — Doch wenn zu früh du es geglaubt: Statt Mitten fällt ein kalter Reif — Wie Frlihlingsfrost im März. lietirlcUo werden. Kaum em regulärer Pag, ment polizeiliche An- und Abmeldungen, Herbergsscheiue, Iuvalidenkarten, Militär papiere, Zeugnisse oder gefälschte Bescheinigungen. So zieht die Streife von Bahnhof zu Bahnhof - - Immer die Gesichter der Gesuchten im Kops, immer sprungbereit, wen» einer zuschlagen will. Denn die Beamten klagen über di« vielen Schlägereien, denen sie ausgesetzt sind. Aber vielleicht ist es manchmal ein wenig zu verstehen, daß Mensche» lernen, genau so hart und unerbittlich zuzupacken, wie ihr eigener Leben sie selbst ae>wck» t--c tölch Tseiumncr. Mie ick üss (rrad meines Zeksilenen kruäers suekte un6 sanä Von Kpl. Karl llarmutk as erzähle ich überall lind smnler sehr gern, und überall fand und findet meine schlichte Erzählung bei meinen Zuhörern eine ausfallend starke Resonanz. Mas ja auch leicht genug zu verstehen ist. Denn wer auch eines oder gar mehrere seiner Lieben in fremder Erde ruhen hat, vom Kriege gemordet vielleicht in den schönsten Frühlingstagen des Lebens, dessen Seele muß ja von selbst mitschwingen, wenn einer erzählt, wie es ihm ums Herz war, als er nach langem vergeblichen Sehnen nun am Ziele angelangt, am Grabe des 4 Jahre jüngeren Bruders stand, der nur 4 Tage an der Front eingesetzt, gleich fallen mußte als 1i) jähriger. — Ich bitte, mir einen etwas brei teren Plauderton zu gestatten, zumal ich weiß, daß viele bis in die kleinsten Kleinigkeiten mitsiihlen und sich auch für alles Nebensächlichere interessieren. Mein Bruder Georg wurde bei Dormans an der Marne am 17. 7. 1918 schwer verwundet durch Granat splitter, lag 2V Stunden hilflos in seiner Blutlache, wurde dann endlich geborgen und nach 4, wie er uns in seinem vorletzten Briefe schrieb, sehr qualvollen Transportlagen ins Feldlazarett 271 cingeliesert, wo er 8 Tage später, am L5. 7. in Gott entschlief, wohlversehen mit den heiligen Sakramenten. Das Lazarett teilte uns damals in dem üblichen, kurzen, amtlichen Stil die Todesursache mit: Gasphlegmone infolge Granatverletzung, und den Ort feines Grabes: Lazarettfriedhos zu St. Gilles bei Fismes, Grab Nr. S48a. Also, — wir kannten genau sein Grab. So schmerzlich es uns war, zu wissen, daß Georg am Mund gasbrand, also ossenbar unter furchtbaren Qualen ver scheiden mußte, so tröstlich empfanden wir es aber doch auch, daß er erst 8 Tage nach seiner Verwundung in einem Feldlazarett verstorben ist, wo er noch einmal die heiligen Sakramente empfangen konnte, wo er als Toter einen Sarg erhielt, wo ein Priester sei» Grab einsegnete und von wo man «ns seine letzte Ruhestätte und die Nummer seines Grabes genau mitteilte. Als ich die Nachricht vom Tode meines Bruders vom Elternhaus aus der Heimat empsing, — ich stand etwa 80 Kilometer weiter nördlich an der Front — mußte ich gleich zurückschreiben, daß mir der Besuch seines Grabes leider unmöglich sei, da die Stadt Fismes bereits vom Feinde erreicht und Georgs Grab nunmehr also aus feindlichem Gebiete läge. Ein Vierteljahr später kam dec Friedensschluß. Der Gedanke, unseren toten Georg nach der Heimat zu holen und auf heimatlicher Erde beizusetzen. was in unserem Falle doch verhältnismäßig leicht ausführ bar gewesen wäre, sand bei »ns allen nicht genügend Sympathie und wurde nicht verwirklicht. Die Gründe, warum wir den Toten nicht heimholten, kann ich schwer definieren. Unser Gefühl nnd Empfinden stand eben da gegen: wir wollten den gefallenen Garde-Grenadier nicht der schlummernden Armee entreißen, wollten ihn bei sei nen Kameraden belassen. Die finanzielle Frage mag auch mitgespielt haben, war aber untergeordneter. Freilich ahnten wir damals nicht, daß Lazarettsriedhof St. Gilles, Grab Nr. 5»48a, doch nicht seine letzte Ruhestätte sein werde. Anfang 1924 ist unser Toter umgebettet worden nach Fried hof Vligny, 10 Kilometer westlich von Reims, und teilte damit das Schicksal der meiste» gefallenen Helden. Denn von 2900 in Frankreich ursprünglich bestehenden Krieger friedhöfen sind mehr als 2öl>0 durch Umbettungcn ver schwunden, „aus Gründen der amtlichen Instandhaltung", wie die Franzosen antworten, wenn man sie nach dem Warum sraat. Diese wenig erfreuliche Auskunft hatte ich auf der Geschäftsstelle des Volksbundes Deutsche Kriegs- gräbersürsorge e. V., Berlin W 1ö, Brandenburgische Straße 27, erhalten, die ich kurz vor meiner Abreise nach Frankreich im Sommer 1928 aufjuchtc, nur gewissermaßen als Gegenkontrolle, um festzustellen, ob das Grab Lazarett friedhof St. Gilles Nr. 7,48» wirklich einen Garde-Grena ¬ dier Georg Harmuth birgt. Wohl hatte ich von Umbel- s tunaen nnd Verlegungen gehört, aber immer glaubte ich, daß cs sich dabei nur um einzeln vergreni negenoe v>ra« der handele. Der Gang zum Büro des Volksbundes er wies sich mir also als sehr lohnend, ja, vermnllick hätte ich das Grab meines Bruders wohl gar nicht gesunden ohne die Auskunft des Volksbundbiiros. Man wird es mir nach fühlen, wie schmerzlich es mir zunächst war. als man. mir ans diesem Volksbundbüro sofort mit großer Bestimmtheit erklärte, der Friedhof St. Gilles erigiere nicht mehr, alle dort bestatteten Toten seien nmgebettet worden. Fast stolz waren wir immer gewesen, das Grab unseres Toten ge nauestens zu kennen, und jetzt muß ich hören, daß sich zu St. Gilles seine letzte Ruhestätte nicht mehr befindet. Das war mir sehr schmerzlich. Doch erboten sich die Beamten der Geschäftsstelle in liebenswürdiger Weise sosort, weiter nachznsorjcken. ob es möglich fei, mir Georgs jetziges Grab zu nennen. Ich machte meine Angaben und mußte nun einige Minuten warten, bis man in der Kartothek nach gesehen hatte. Seltsame, bange, fast schwere Minuten waren cs. bis das Telefon klingelte und es aus der Muschel heraustönte: „Garde-Grenadier Georg Harmuth von Friedhof St. Gilles bei Fismes verlegt nach Friedhof Vligny bei Reims. Grab Nr. 2890." Da aber »rönne die Freude wieder. Also ist sein Grab doch nicht verschollen! Man kennt es genau, es ist ja registriert. Nun auf! Erst nach Neims nnd dann nach St. Gilles! An beiden Stätten will ich stehen! Da. wo er jetzt ruht, und wo er zuerst beigesctzt worden ist. Auch will ich ungefähr iegnelien: Wo befand sich das Feldlazarett 27l? Venand es aus Baracken oder war es in Häusern »»lergebracht? Wird sich das vielleicht noch irgendwie ermitteln lauen'.' Menn ja, dann wüßte ich also, wo Georg den Todeskampi ge kämpft und sein junges Leben ansgebauchi Kai Das aiies will ich feflstellen, und, so sei es denn schon hier gesagt: ! Ich habe es auch festgesielli. Ich stand aus dem Friedhofs- 1 terrain, wo er zuerst beigejelzl worden ist nnd ick stand an ! seinem zweiten, jetzige» Grabe, nnd es warcii heilige ! Stnnden tiefsten Erlebens, wahrhaft c abene Stunden, > Stnnden, die ich zu den großen meines Erdendaseins >ech- s »en dars. Endlich waren die Sominerjerien da! Endlich kam der > Sonntag, an dem ich nach beendetem Kirchendiensle ab reisen durste! Sorgfältig disponiert hatte ich meine Reise nicht. Wozu auch! In der Tasche hatte ich meinen Paß mit dem französischen und belgischen Visum und ein late» loses Kartenmaterial aus dem Kriege, nnd im übrigen gab es j ir mich zunächst nur 2 Ziele: Reims Vlignn und Firmes-St. Gilles. Ein wenig verärgert war ich über den damals rech» beträchtlichen Preis der beiden Visa und über das Verkehrsbüro, das mir eine Fahrkarle nur bis s Namur, nicht aber gleich bis Reims aushändigte. 'Nun, — ! es kam die glückliche Stunde, da der D Zug langsam aus ' der Vahnhosshalle herausrollte. Es gibt ja Vhilojophen. die behaupte», das sei die schönüe Stunde der ganzen Ferien. — Ich fuhr zuniichft bis Köln, wo ick mit etwas Verspätung gegen 11 Uhr abends ankam nnd sofort ins Hotel ging, um zu übernachten. Obwohl ich vom Sonn abend- und Sonntagsdienn reichlich müde war, schlief ich doch nicht allzu gut. es war wohl etwas Reijeficber oder vielleicht auch zu gespannte Erwartung. Jetzt disponierte ich eigentlich recht unnötigerweise: Mas machst dn, wenn dn etwa gegen ö Uhr in Reims ankommst? Dann nimmst d» dir ein Auto und fährst sofort nach Friedhof Vligny. Was, wenn du um 7, um 9 oder gar noch später in der , Stacht ankommst? — Dann gehst du zu Fuß in der 'Nacht ganz langsam, so daß du beim Morgengrauen am Grabe stehst. Wie wird das dann so alles sein? Wird der Raine , auf dem Kreuz zu lesen sein? Könnte wohl eine Enttäu schung noch möglich jein, so daß deine Reise vergeblich wird? Mit diesen und solchen Oiedanken schlief ich ein und wachte ich wieder auf. Nur weiter! Das war mein« Varole. Nach 9 Uhr verlieb der Zu» endlich den Haupt«