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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 30.08.1911
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1911-08-30
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19110830011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1911083001
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1911083001
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1911
-
Monat
1911-08
- Tag 1911-08-30
-
Monat
1911-08
-
Jahr
1911
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Nr. 240. los. ^üNtllring. Oie verwilchung üer Spur kstzrenüer krlesslchilfe. Da» moderne große Schiss hat man des öfteren als ein schwimmendes Hotel, ja, sogar al» eine schwimmende Stadt oder Insel bezeichnet; man tonnte es, wenn man die gewaltige Kraft seiner Maschinenanlage in Betracht zieht, auch mit einer schwimmenden Fabrik, und zwar einer solchen aller größten Umfanges vergleichen. Daß in einem so großen Betriebe auch große Mengen von Asche, Schlacken und anderen Rückständen entstehen, ebenso, daß die Verpflegung der zahlreichen Menschen an Bord beträchtliche Abfälle und Ueberreste sowohl der Nahrungsmittel und Speisen wie besonders des Verpackungsmaterials ergibt, ist ohne weiteres klar. Wo bleiben nun alle diese Abfälle? In See werben sie, soweit sie nicht z. B. als Brennmaterial im Cchiffsdienste verwendet werden können, kurzerhand nach außcnbord ins Wasser befördert. Damit ist für das Schiff in See die Frage aus das einfachste erledigt. Aller dings können die Abfälle, wenn sie, wie leere Flaschen, Kisten, Fässer, Strohhülsen, Konserven büchsen usw. einige Zeit an der Oberfläche bleiben, in militärischer Beziehung einen Nachteil bedeuten. Wie aus den Berichten der amerikanischen Hilfs schiffe, die die Atlantische Flotte auf ihrer letzten Europareise begleiteten, hervorgeht, haben diese Schiffe tagelang den Bewegungen des vcransfahrenden Geschwaders folgen können lediglich auf Grund der über Bord ge worfenen und treibenden Abfälle usw. Das kann im Kriegsfälle, wo es durchaus erforderlich ist, die Be wegungen eines Schiffes oder eines Verbandes von Schiften zu verschleiern, von entscheidender Be deutung werden. Am Geger'atz zu dem Verfahren auf See ist die Beseitigung der Abfälle im Hafen, wo das dl e d e r b c r L w c r f e n verboten ist und wo Le- i-rilüere Leichterjahrzevge für die Aufnahme und den Abtransport gemie'el werden müssen, mit Unorouem- lichkeiten und Kosten verbunden. Es ist daher an geregt worden, sie durch besondere Verbrennungs apparate zu vernichten, und in der amerikanischen Marine sind zurzeit schon derartige Apparate in Er probung. Eine besondere Behandlung erfahren die Rück stände Les Dampskesselbetriebes, Asche und Schlacken, die bei den ständig steigenden Kohlen- verbräuchen einen beträchtlichen Umfang an genommen haben. Früher wurden sie durch Menschenkraft aus den Heizräumen an Oberdeck ge schafft und über Bord geschüttet; auf einem modernen Schiffe würde ein derartiges Verfahren zu störend in den Dienstbetrieb eingrrifen. Heute hat man da für besondere Apparate, die Ascheauswerfer (Aschejektoren), die Asche und die zerkleinerten Schlacken selbsttätig entfernen, indem durch starke Pumpen oder durch strömenden Dampf in Bewegung gesetzte Wasscrmassen die Verbrennungsrückstände mit OewMer Tsnedlstt. sich fortnehmen. Ascheauswerfer dieser Art münden über Wasser und bedingen daher eine Durchbrechung des Seitenpanzers. Um eine solche zu vermeiden, hat man auch andere Konstruktionen eingeführt, bei denen die Asche mit Hilfe starken hydraulischen Druckes durch den Schisfsbodcn entfernt wird. Ein Nachteil dieser Art von Ascheauswerfern ist, daß sie im Hafen nicht in Tätigkeit treten dürfen; auch können die feinen und scharfkantigen Ascheteilchen unter Umständen eine nachteilige Wirkung auf den Bodenanstrich ausüben. Auf einigen englischen Schissen ist es infolge ungünstiger Anordnung der Austrittsöffnungen sogar vorgekommen, daß die ins Walser gelangte Asche durch die Seeventile der Zir- kulationspumpen wieder eingesaugt wurde und die Kondensatoren verschmutzte. Oie „Möglichkeiten" Kanaüas. Man hat recht, wenn man den zu phantasievollen Schilderungen der großen Zukunft Kanadas ein wenig mißtraut. Die kanadische Negierung — und die großen kanadischen Eiscnbahnunternehniungen — verstehen cs vortrefflich, die Reklametrommel za schlagen. Kanada ist cnr Land von großen „Mög lichkeiten"; aber diese Möglichkeiten sind ebensowenig „unbegrenzt" wie die der großen Republik im Süden. Kanada hat eine große Zukunft vor sich und eben falls eine selzr rasche Entwickelung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Es seien heute nur zwei Momente erörtert: die Einwanderung und die Wci- zenproduktion. An den Jahren 1902 vis 1907 betrug die Einwanderung durchschnittlich unter 150 000. 1907/08 schnellte sie auf über 200 000, fiel im folgenden Fahre aber wieder zurück auf 140 000. Für 1909/10 berechnet man die Einwanderung vor läufig auf über MO 000 und rechnet 1910/11 auf eine solche von 400 000. Wenn man die Gesamiauswan- derung ans Europa aus etwa 1,6 Millionen annimmt (1907), so erhielt Kanada davon nur etwa ein Achtel, die Bereinigten Staaten aber erhielten davon sechs Achtel. An der Folge verschiebt sich das Verhältnis immer mehr zugunsten Kanadas. Dazu komnit natürlich die starte Auswanderung aus den Bereinig ten Staaten — 1907/08 fast 60 000, die viele eine „Rückwanderung" nennen, da nicht wenige der ,,ame rikanischen" Einwanderer frühere kanadische Bürger sind. Der Charakter der Einwanderung ist derselbe wie der in die Vereinigten Staaten; ab gesehen von den britischen Anseln — die immer noch über die Hälfte der Einwanderer liefern, die aber zum nicht geringen Teil in den Städten hängen blei ben und nicht in den fernen Westen, d. h. die Weizen länder, gehen — ist die Einwanderung aus dem slawischen Süden Europas und aus Italien. Nur Schweden und Norwegen liefern ein größeres Kon tingent: 3—4000 jährlich. Deutschland liefert etwa 2500. Kanada tut alles, um sich farbige Einwande rung - aus Aapan und Indien — vom Leibe zu hal ten. Aus Japan fiel dieselbe von 7000 (1907) auf 495 (1908); aus Indien von 2600 (1907) auf 6 (1908)! Hand in Hand mit der Einwanderung geht natür lich die Entwickelung des kanadischen Westens — der Gerlchtslssl. Königliches Schöffengericht. j Leipzig, 28. August. -vm. Ein Arzt unter der Anklage des Betrugs. Der jetzt in Halle a. S. wohnhafte Arzt Dr. mcd. Tiburius hatte sich wegen Betrugs in einer Reihe von Fällen vor dem Schöffengericht zu ver antworten, nachdem gegen ihn von der Vertrauens kommission der Aerzte Anzeige erstattet worden war. Dr. T. war in den Jahren 1904 bis 1910 Arzt der hiesigen Ortskrankenkasse. Er wurde nun beschul digt, in den Jahren 1908 bis 1910 unberechtigt Ge bühren für ärztliche Bemühungen berechnet und da durch die bei der Ortskrankenkasse tätigen Aerzte ge schädigt zu haben. Durch die unberechtigt erhobenen Gebühren soll nämlich das von der Ortskrankenkaffe gewährte ärztliche Pauschale belastet und die Be züge der übrigen Aerzte auf diese Weise vermindert worden sein. Der Angeklagte Dr. T. erklärte, sich keines Betrugs schuldig gemacht zu haben. Die Ge bühren, die er sich berechnet habe, seien berechtigt gewesen. Er könne sich höchstens insoweit versehen haben, als er infolge seiner starken Beschäftigung Namen von Angehörigen der Mitglieder anstatt deren eigenen Namen auf die Rezepte gesetzt habe. Es war nämlich bei der Ortskrankenkasse aufgefallen, daß Weizenländer. Die kanadische Regierung ver öffentlicht darüber folgende Zahlen: Im kanadischen Westen gibt es 357 Millionen Acres (1 Hektar gleich etwa 2,5.Acres), auf denen Weizen angebaut werden kann. Im Jahre 1906 waren kaum 5 Millionen Acres mit Weizen bebaut. Für 1911 gelten folgende Angaben: 10 Millionen Acres Weizen 4,6 „ „ Hafer 1,1 ., Gerste. Die angebaute Fläche hat sich in 5 Jahren ver doppelt; aber im Vergleich mit den 357 Millionen Acres, die anbaufähig sind, hat man gerade eben den äußer st en Rand in Angriff genommen. Man rechnet damit, daß Kanada in diesem Jahre exportieren kann: 160 Millionen Bushels Weizen 45 „ „ Hafer 12,2 „ „ Gerste d. h. der Export hat sich in b Jahren vervierfacht (1 Hektoliter gleich 2,4 Bushels). Die gesamte Wei- zenernte wurde 1906 auf etwa 62 Millionen Dollar bewertet, 1911 auf 177 Millionen Dollar. Diese wenigen Zahlen machen es erklärlich, daß Kanada sich den freien Zugang zu anderen Markten sichern muß, und deshalb m dem Vertrag mit den Vereinigten Staaten Weizen auf die Freiliste stellt. England importiert jetzt rund etwa 100 Millionen Zentner Weizen, d. h. etwa 200 Millionen Bushels. In absehbarer Zeit wird England allein den kanadischen Export an Weizen nicht aufnehmen können. Diese sehr einfache Tatsache erklärt vieles in der kanadischen Politik, besonders die Neigung Kanadas, sich handelspolitisch vom Mutterlands un abhängig zu machen. Miuwoch, SV. iiugull «SN. Dr T. auffallend viele Angehörige der Krankenkassen- Mitglieder behandelt hatte. Beispielsweise war in zahlreichen Fällen auf den Rezepten der Name der Mutter des betreffenden Mitgliedes unterstrichen, so daß cs den Anschein hatte, als ob die Arznei für die Mutter des betreffenden Mitgliedes b«stimmt gewesen sei. Zu der Verhandlung waren über 20 Zeugen, zumeist Mitglieder der Ortskrankenkasse, geladen worden. Die Verhandlung dauert fort. Gewerbegericht. 4 Aus dem Metallarbeiterstreik. Dor dem Ge- werbegericht klagte der Former S. gegen die Ma schinenfabrik Sw. auf Zahlung von 30 rück ständigem Lohn, der ihm widerrechtlich vorenthalten werde. Die Firma weigerte sich, dre Summe an den Kläger zu zahlen, sie sei nicht dazu verpflichtet, denn der Kläger habe die Arbeit sozusagen einfach hin geworfen, ohne sie zu beendigen, und sei seiner Wege gegangen. Damit habe er sich aber selbst ins Un recht gesetzt und er müsse nun die Bestimmungen des tz 6 der Fabrikordnung, die er wie alle anderen Ar beiter unterschrieben habe, auch gegen sich selbst gelten lassen. Diese Bestimmungen besagen, daß Gießerei arbeiter, die angefangene Akkordarbeit eigenwillig unvollendet liegen lassen und nicht zu Ende führen, keinerlei Anspruch auf Entschädigung haben. Die Firma ist der Meinung, daß diese Bestimmungen in vorliegendem Falle einschlagen; der Kläger sei or ganisierter Arbeiter, habe sich dem Ausstande der Me tallarbeiter angeschloffen, die Arbeit freiwillig nieder gelegt und könne daher kein Recht auf Auszahlung des geforderten Lohnes machen. Am 5. Augusi sind von der Firma vertragsgemäß mit den anderen Fir men der Branche 60 Prozent der Arbeiter aus gesperrt worden, am 7. August hat eine Versamm lung der organisierten Arbeiter den Beschluß gefaßt, auch die noch in Arbeit stehenden 40 Prozent aus den Betrieben herauszuzichsn, und am folgenden Morgen sind die bis dahin noch arbeitenden Gießer, wie der Vertreter der Frma Sw. in der Verhandlung vor dem Gewerbegericht angab, in die Fabrik gekommen, im Sonntagsunzuge, und haben die Ausfolgung ihrer Werkzeuge gefordert. Zu zweien hat man sie herein gelassen, sie haben ihr Werkzeug bekommen und haben sich dann im Zuge geschlossen entfernt. Die Lei tung der Fabrik kann sich unter keinen Umständen dcnu verstehen, an streikende Arbeiter, die gegen die Bestimmungen des oben angezogenen Paragraphen der Fabrikordnung gehandelt haben, irgendwelchem Lohn auszuzahlen, würde sie das tun, dann gehe sie von ihrem prirn'-iellen Standpunkte ab und stärke die Kassen der Arbeiterorganisation, was man von ihr nicht gut verlangen könne. Der Kläger mußte zugeben, daß er mit in den Ausstand eingetreten sei, er habe den Beschluß der Versammlung, die 40 Pro zent der stehcngebliebenen Arbeiter auch noch aus den Betrieben zu nehmen, mit gefaßt. Aber er habe da- s mit, daß er am anderen Tage mit seinen Kameraden » in der Fabrik erschienen sei, doch nicht seine unvoll endete Arbeit liegen lassen und sei ausgetreten, er habe weder zum Meister noch zu sonst jemandem ge- « sagt, daß er Feierabend machen wolle. Der Vor- I sitzende erklärte, daß dis Klage auf Zahlung des Zatzsml Peter Lyler, ein vergessener Kämpfer. Von Paul Burg. . (Nachdruck verboten.) Keine Literaturgeschichte, kein Lexikon nennt heute miyr den Namen des Schleswigers Johann Pete- Lys e r, der «in Maler, Musiker und Dichter zugleich war, der seinerzeit ein zünftiger Journalist gewesen ist. I. Hockscher in Hamburg hat einmal all die Werke zusammenaestellt, die Lyser zugefchrieben werden und deren nicht «in einziges mehr auf unsere Zeit ge kommen ist. Leopold Hirschberg erklärte sich zum Bio graphen Lysers, vermochte aber nur eine sehr un vollständige und entstellte Lebensgclchichte des Ver gessenen zu bieten. Dann hat der oekannte Wiener Literarhistoriker Professor Friedrich Hirth es unter nommen, das Leben und Wirken Johann Peter Lysers darzustellen, zuerst in einzelnen Abschnitten und Auf- sätzen. Nunmehr leat er eine gründliche Monographie vor (die in einem stattlichen Bande von 588 Seiten, mit 60 Bildern Lysers, Porträt und Handschriften probe wohlversehcn, zum Preise von geb. 10 -tt soeben bei Georg Mütter in München erschienen ist). Zum ersten Male hat hier ein zünftiger Jour nalist durch einen berufenen Fachgelehrten eine er schöpfende Würdigung seines Kämpfens und Strebens, seines Wirkens und Leidens erfahren, zum ersten Male ist uns hier «in deutscheeJournalisten- leben um di« Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dargestellt, und darum bedeutet es mehr als nur eine „Rettung" Lysers im Sinne Lessings, wenn wir diesem seltenen, bedeutenden Buche samt seinem traurigen Helden, dem vergessenen Johann Peter Lyser, einiges Interesse und Nachdenken bezeigen. Es ist das Erleben eines talentvollen Ensemble- pielers", eines armen, begabten Schluckers, der sich chlecht und schlimm durchs Leben schlug, indem er — ür Zeitungen schrieb und seine Honorare kreuzerweise empfing. Lyser ist bei all seinem Mißgeschick und Talent indes keinesfalls ein Held, nicht einmal ein Charakter, sondern zeitlebens eine brüchige Existenz geblieben, der wir manche schlimme Eigenschaft nach weifen können. Seine Unaufrichtigkeit und Auf schneiderei, sich mit großen Bekanntschaften und Freundschaften zu brüsten, geht so weit, daß er viele Daten und Stationen seines Leben», selbst sein Ge burtsjahr falsch anzugeben pflegte. Sein Biograph Hirth hat große Mühe gehabt, die richtigen Lebens daten dieses für sein« Zeit typischen lournalistischen Belletristen zu ermitteln und festzulegcn, um so mehr al» überhaupt sehr wenig zuverlässige Quellen auch von Zeitgenossen über Lyser fließen. Literarische Irreführungen, wie sie «in Heinrich Hein«, auch Bettina von Arnim, Hermann Schiff u. a. beliebten, waren ja damals Mode. So hat Lyser, um die Rolle eines Famulus E. Th. A. Hoffmanns täuschend und erfolgreich zu spielen, um mit einem Besuche bei Goethe prahlen zu können, mit höchster Willkür Namen. Zahlen, Briefe, Gespräche, Oertuchkeiten und Begebenheiten flüchtig gefälscht und „Fiktionen er zeugt". die schwer zu zerstören gewesen sind. Um so mehr reizt uns das bedenkliche Charakter- bild dieses nicht einwandfreien Zeugen einer nach klassischen Zeit, denn auch au» Niederungen und Ab gründen, nicht bloß aus Höhen und Siegen rundet sich das Bild einer Zeit und ihrer Persönlichkeiten. Gegenüber Lysers eigenen Fälschungen und frem den Verdrehungen hat Professor Hirth mit wissen schaftlicher Akribie festgestellt, daß Ludewig Peter August Burmeister al» ehelicher Sohn de» Schl«»- wigschen (später Dresdner) Hofschauspielers Friedrich Burmeister am 4. Oktober 1803 zu Flensburg geboren ist. Bald darauf ließen sich die Eltern scheiden. Die Mutter heiratete den Hamvurgcr Thecttcrdirektor und ' Schauspieler Friedrich von Nertens, einen früheren Offizier, der sich Lyser nannte. Den Stiefsohn stellte er schon frühzeitig in Kinder-, besonders Mädchen rollen, auf die Bühne. Es ist ziemlich sicher anzu nehmen, daß der Knabe 1812 entwichen ist und sich als Schiffsjunge verdungen hat. 1814 tauchte er wie der in Hamburg auf. — Lyser selbst freilich band später den Zeitgenossen auf, er habe 1811 E. Th. A. Hofsmann in Hamburg getroffen und C. M. v. Weber dort kennen gelernt. In Wirklichkeit war er damals — achtjährig; die Begegnung fand erst 1821 statt. — 1815—1816 war der Bub mit den Eltern in Köln engagiert und spielte damals „jugendliche Dümm linge^ Kotzebues, lernte Unzclmann und Paulmann kennen. An Köln sang er als Chorknabe in der Kirche und entdeckte sein Talent im Dienste der heili- gen Cäcilie. Hirth vermutet, daß Vurmeister-Lvser in Köln, der musikalischen Pflegestätte, eine sorgfäl tige musikalische Ausbildnug genossen hat, denn wir sehen ihn schon im vierundzwanzigsten Lebensjahre vor treffliche, sachkundige Musikkritiken voll ehrlicher Liebe für die Musik schrecken. Eifrig widmete er sich auch der Malerei, für die er schon als Knabe großes In teresse bewies, seine keck hingeworfenen, phantastischen Karikaturen erregten Aufsehen und Aergernis. 1817 ging der Knabe, ohne die Eltern jetzt, in ein Engagement nach Paderborn, wie er angiot, als Dekorationsmaler und Kapellmeister, von da an das Altonaer Theater des Direktors und ehemaligen Tischlers Ferdinand Moog, das dieser recht fchmiercn- müsfig leitete. Hier war das Wunderkind Kapell meister für Poffen und Operetten. Wir finden die wanderfrohc Schauspiclerfamilie Lyser bald in Lübeck bei Direktor Hinze, den Stiefvater Lyser 1821 als Direktor in Schwerin. Der junge Lyser blieb in Lübeck und trat hier mit Earl Maria von Weber in Verkehr. Er will diese Bekanntschaft 1821 in Berlin fortgesetzt haben. In dieser Zeit befiel ihn ein schweres Gchörlcidcn, in dessen Verlauf er fast völlig taub wurde und dem öffentlichen Auftreten als Schauspieler wie der Dirigentcntätigkeit für immer entsagen mußte. An Berlin sucht Lyser bei Professor Diesfenbach Heilung. Hier will er auch E. Th. A. Hofsmann — wenige Monate vor dessen Tode! — kennen gelernt haben; er gibt eine eingehende Schil derung eines Hosfmannschen Trinkgelages, die ergötz lich zu lesen, aber offenbar frei erfunden ist. Bei seiner stärker austretcnden Taubheit suchte Lyser bei dem Stiefvater in Schwerin als Theater- maler unterzukommen. Er will dann in Rostock Anatomie studiert und in Flensburg Unterricht — im Zeichnen gegeben haben, was beides l>estritten ist. Fest steht, daß seine Verwandten sich entschlossen, den armen Jungen Buchdrucker werden zu lassen. Dor dem Letternkasten des Buchdruckers Wiswe in Son derburg kam iym der Gedanke, zur Feder zu greifen, hier und da «in paar Lückenbüßer veizusteuern. So wurde Lyser Schriftsteller. Seine ersten Proben er schienen im „Sonderburger Wochenblatte". All mählich fand er Freude an der Schriftstelleret und widmete sich ganz dem neuen Berufe, für den er offen bar große natürliche Anlagen hatte. Lyser erzählt, daß er zunächst seine mangelhafte Bildung zu vertiefen suchte, im Mai 1826 in Flens burg seine Gymnasialstudien wieder aufnahm, aber beim Abiturientenexamen das erstemal durchfiel. Er renommiert in diesen verspäteten Schülerfahren sogar mit einem Duell und drei Monaten Festungshaft in Friedrichsort. Lyser will dann in Kiel studiert I baden. Herausgekommen ist jedenfalls nichts dabei, keinesfalls der ihm angedichtete, mehrfach auch von ihm angemaßte Titel eines Doktors der Philosophie. 1824 trat Lyser, vierundzwanzigjährig, als Schrift steller auf den Plan, ausgerüstet mit einer Fülle musi- kalischen Wissens und Könnens, begabt als Maler, auch befähigt als Ueliersctzer, "-enn er beherrschte das Englische, Französische und Italienische völlig. Um vor ein größeres Publikum zu treten, wandte er sich nach Hamburg, damals bedeutend durch seinen Buch handel und — eine blühende Journalistik. Gleich zeitig kehrte Lysers Stiefvater, der inzwischen in Lüneburg und Halle ohne viel Erfolg Thectterdirekror gewesen war, als solcher nach Altona zurück. Lysers Schriftstcllername bedarf noch zuvor eines Wortes. Den Vatersnamen Burmeister hat er später nur noch vereinzelt in der Verbindung Burmeister- Lyser geführt. Von seinen Vornamen behielt er nur Peter Lei. Johannes wählte er als Pseudonym, und nannte sich aus Vorliebe für E. Th. A. Hoffmann auch oft Theodor. In Jugendjahren hat er sich — oft französisierend Jean Pierre Lyser genannt. Der junge Schriftsteller fand eine ziemlich korrupte Presse in Hamburg vor. Unter den damaligen 32 Journalen wählte er Las Skandalblättchen „Freischütz" genannt für seine Musikkritiken. Aus dieser Wahl leitet Hirth den Haß her, mit dem schriftstellernde Widersacher Lyser während seiner ganzen Laufbahn überreich bedachten und der der Fluch seines Lebens gewesen ist. Unter dem Pseudo nym eines „Kapellmeisters Wahrlieb", „Vetter Hieronymus" oder „Isidorus Paukenwirbel" schrieb Lyser durch vier Jahre Musikkritiken, deren Heinrich Heine einmal kurz Erwähnung tut. Unter seinen korrupten Kollegen war Lyser als unbestechlicher, sachlicher, geistvoller Kritiker eine seltene Erscheinung. Schon 1828 beteiligte er sich mit belletristischen Arbeiten auch fleißig an anderen Hamburger Blättern, der „Hammonia" und den „Originalien", und offenbarte in einer kaum übersehbaren Fülle von lyrischen Gedichten, humoristischen und kritischen Skizzen, Märchen, Rovcllen und Dramen sein viel seitiges, leicht und fröhlich schaffendes Talent, an gesichts dessen man freilich, wie Hirth es ausdrückt, niemals das Gefühl los wird, einen talen tierten Kopisten vor sich zu haben, der sich gern und merklich an Hauff, Heine und Hoffmann anlehnt. Bemerkenswert sind aus jener Zeit die ..Phantasien eines tauben Malers". Lyser behauptet, schon bald in einem intimen Freundschaftsverhältnis mit Heinrich Heine gestanden zu haben, den er als Dichter mehrfach sachlich und mit Recht kritisierte und bekämpfte, so den Heineschen Napoleonkult. Ueber den Streit Hrine-Immermann-Platen macht Lyser wertvolle, durchweg zuverlässige Mitteilung^, die man bei Hirth nachlesen kann. Ein Kapitel für sich könnte der Umgang Lysers mit Paganini bean spruchen. Auch die Begegnungen mit Emil und Ludwig Devrient, mit Campe, das Sendschreiben Lysers an Börne kann hier nur angeführt werden. Börne war Lysers bedeutendstes Werk der Ham burger Zeit gewidmet, der Roman ..Benjamin", ein romantischer Roman in der Technik Jean Pauls. Damals erregte das Werk größte, sittliche Ent rüstung; von den Karikaturen fühlten sich besonders die Flensburger durch ihren talentvollen Sohn ge troffen. Hirth schreibt diesem Buche Richtungslinien zu, die zu Raabe und Heinrich Seidel hinführen. Die Dramen Lysers aus jener Zeit wurden von seinem Stiefvater auf die Bühne gebracht. Wertvoller sind Lyser» Theatersatiren und Phantasten im Stile Hoffmanns für den Forscher der Zeitgeschichte. Von den vielen Illustrationen und Karikaturcnzeich- nungen des streitlustigen Journalisten sind viele er halten, alw denen Professor Hirth iy seiner grund legenden Monographie eine stattliche Auslese Liefet. Das inhaltreiche, wechselvolle Journalistenlebcn Johann Peter Lysers in Hamburg gewann durch-Lie zahllosen, vielfach wertvollen Polemiken aus seiner Feder noch eine besondere Bedeutung. Die widerliche literarische Figur eines P. M. Oettinger und mancher anderen hatte in Lyser einen hartnäckigen, schlagfertigen Widersacher. Der Weggang Heines aus Hamburg, dazu die heftige Fehde unter den Literaten, die schlechte Be zahlung — von einem Herausgeber wissen wir, daß er fünf Mark wöchentlich erhielt —. gaben Lyser Grund genug. Hamburg den Rücken zu kehren. An der Alster hatte er seine beste, erfolgreichste Zeit ver bracht. Dunkel lag die Zukunft vor ihm. Unter dem 16. Mai 1831 meldete Lyser den Ham burger „Originalien", daß er in Leipzig ein getroffen sei. Das Datum ist wertvoll, denn es zer- stört die Legende, daß Lyser 1832 (!) zu Fuß von Hamburg nach Weimar gepilgert sei und durch Riemers Vermittelung eine halbstündige Audienz bei Goethe erlangt habe. Man hat Lyser angedichtet, er habe bei diesem Besuche gewissermaßen die „Weihe" zu seiner Leipziger Tätigkeit erhalten, aber das ganze (von Hirth wörtlich mitgeteilte) Anter- view Goethes durch Lyser, bei dem Goethe seine Fragen und Antworten an den Tauben auf ein Schiefertäfelchen geschrieben haben soll, ist und bleibt erfunden, von Anfang bis zu Ende, auch wenn es Lyser 1847 auf das Jahr 1830 zurück datierte. Hirth bringt Beweise, die Sen Fiktionen Lysers jede reale Unterlage rauben. Der erdichtete Besuch bei Goethe bedeutet keine gute Einführung der Lebensepoche Lysers in Leipzig. Hier war nur ein schüchterner Ausläufer der Pariser Julirevolntion zu beobachten gewesen, der aber dem Böhmen Carl Herloßsohn genügt hatte, eine liberale Zeitschrift „Der Komet" zu gründen, dem nachher Laube nahestand. Das Leipziger Tage blatt warf dem Organ Untergrabung der Moral vor. Zwistigkeiten zwischen Redakteur und Verleger führten zur Gründung eines Konkurrenzblattcs „Unser Planet". Lyser liierte sich mit dem „Planeten" und liebäugelte mit dem „Kometen", be strebt. überall Geld herauszuschlagen. Er geriet in Leipzig mitten in böse Polemiken, schürte sie noch und hatte alsbald auch an der Pleiße wie zuvor an der Alster einen schweren Stand, wiewohl er sich redlich, besonders als Zeichner mühte, vorwärts zu kommen. Gebildet hat Lyser sich in Leipzig vornehm lich an den Federskizzen des italienischen Malers, Komponisten und Dichters Salvator Rosa, die er in der Leipziger Ratsbibliothek eifrig studierte. Er vertiefte daran seine satirische Art zu malen. Lysers Plan, eine Over „Salvator Rosa" zu schreiben, führt« ihn zum — Libretto, für das er ja viel musikalischen Sinn und lyrisches Talent besaß. Ende 1831 schrieb Lnscr die Oper; Ludwig Pauli, sein Freund, Regisseur an der Dresdner Hofoper, förderte da» Werk mit gutem Zuspruch und der Dresdner Hof kapellmeister Rastrelli schuf die Komposition. Die Oper hielt sich bis 1862 auf dem Spielplan. Der Erfolg für Lyser war wohl kaum materiell. Es fällt aus, daß er in den nächsten Jahren viele Sachen mit Salvator Rosa unterzeichnete. , (Ein zweiter Artikel folgt.) e I Mklir MMN
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