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»i. 18. Friedrich tzeorg Wieclr's 1864. Deutsche Herausgegeben von Otto Dammer Die Arüeiterstadt zu Mühlhausen im Elsaß. Von vr H. Kestner. Wo der Jura, nachdem er die Grenze von Frankreich überschrit ten. gen Norden sich ausdehnt, um im Angesichte der Vogesen seinen geographischen Lauf zu beschließen, liegt am Fuße der letzten Ausläu fer dieses Gebirges, die Fabrikstadt Mühlhausen. Die fruchtbare Ebene des Sundgaues trennt sie von den benachbarten Vogesen, de ren gewaltige Massen in seinen Linien von Süden nach Norden sich hinziehen. Im Osten fließt parallelen Laufs mit ihnen der Rhein, dessen ferne Ufer ein Wald, die Hardt genannt, dem Blicke entzieht. Den Handelsverkehr mit der Schweiz, mit dem Innern von Frank reich und Deutschland vermitteln die Eisenbahnen nach Basel, Paris und Straßburg, so wie der von Napoleon gegrabene Rhone-Rhein- Kanal. Außerdem durchfließt die Stadt ein Netz von Gräben und Kanälen, welchem die Flüsse Jll und Doll ihr Wasser zuführen und dadurch die Quelle des industriellen Lebens geworden find, das Mühlhausen zu einer der wichtigsten Städte von Frankreich erhoben hat. Das Aeußere der Stadt trägt das Gepräge ihrer Bedeutung nicht. Mühlhausen, wiewohl eine Stadt von uralter Gründung, ist im Wesentlichen ein Kind des 12. Jahrhunderts. Ursprünglich eine freie Stadt des deutschen Reiches und seit dem westpbälischcn Frieden im politischen Verbände mit der Schweiz, fristete Mühlhausen ein ziemlich unbekanntes Dasein, bis zu seiner am Schlüsse des vorigen Jahrhunderts (1798) erfolgten Vereinigung mit Frankreich. Eine gewisse industrielle Berühmtheit batten die Inckisvnes-Fabriken von Mühlhausen schon vor jener Zeit besessen. Jetzt aber begann das wahre Zeitalter der Banmwollindustric. Spinnereien, Webereien und Druckereien erstanden auf allen Punkten der Stadt und ihres Ge bietes; die Bevölkerung, am Anfänge des Jahrhunderts kaum 8,000—10,000 Seelen stark, hob sich rasch auf das Doppelte und Dreifache, ja dürste die Zahl 50,000 schon jetzt überschreiten, so daß Mühlhausen nicht allein als der Mittelpunkt der großartigen indu striellen Thätigkcit des Ober-Rheins, sondern als das Manchester von ganz Frankreich angesehen werden kann. Das Aeußere der Stadt ist nicht bedeutend. Man kann an ivm drei Bauperioden erkennen: die bürgerliche, die aristokratische und die industrielle, von denen jede ihre besondere Physiognomie bat. Die erstere gehört dem Mittelalter an und umfaßt das alte Mühl- Hausen, wie es Merlau mit seinen Ringmauern sehr getreu wieder gegeben bat. Die Mauern find verschwunden, Monumentales ist, mit Ausnahme des beicheidcnen Rathhauses, nichts erhalten und auch nie vorhanden gewesen. Die Gassen sind eng, die Häuser niedrig, der Stadtplan verwirrt und für die Bedürfnisse des heutigen Verkehrs ungesund. Die zweite datirt aus dem dritten Decennium dieses Jahrhunderts und wirkt noch heute fort. Als die Stadt sich zu erhe ben begann und das Bedürfniß nach Wohnungen immer dringender wurde, fügte man einen neuen Stadttheil an die alte Stadt, in wel chem sich die Häupter der Industrie, meist den ältesten Geschlechtern der Stadt entsprossen, anficdclten. Die dritte und wichtigste endlich umfaßt die industrielle» Anlagen und die durch sie bedingten Woh- nungsbedürsnisse der arbeitenden Bevölkerung. Die Fabriken finden sich über den ganzen Stadtplan zerstreut, find jedoch, der Mehrzahl nach, an die äußeren Grenzen gewiesen und haben dort Arbciterquar- tiere in s Leben gerufen, deren nähere Besprechung den Zweck dieser Mittbeilungen bildet. Es giebt wenig Fabrtkorte, wo für das sittliche und leibliche Wohl der arbeitenden Klasse ein Gleiches geschieht, wie in Mühl hausen. Die Mittel zur Linderung der Noth, über welche die Ge meindeverwaltung verfügt, sind im Ganzen gering, da die Stadt als solche wenig Vermögen besitzt und ihre regelmäßigen Einnahmen kaum genügen, die vielen Ausgaben zu bestreiten, welche das Ge meindewohl erfordert. Der privaten Mildthätigkeit eröffnete sich da her mit der zunehmenden Bevölkerung ein reiches Feld der Wirksam keit und es fehlte nicht an organisatorischen Talenten um die Haupt fragen praktisch zu beantworten und die Wohlthätigkeit in die richtigen Bahnen zu lenken. Die Wohnungsverhältnisse der Arbeiter sind nirgends so gründlich studirt und dies schwierige Problem ist von Niemand so glücklich gelöst worden, als von den Mühlhäuser Pbilan- troven. Ohne gerade schlecht zu sein, ließen doch die Arbeiterwoh- nungen vieles zu wünschen übrig und einzelne Firmen, z- V. das Haus Andrö Köchlin L Comp. suchten den Ucbclständcn dadurch ab- znhelfen, daß sie den Wohnungsbau für ihre Arbeiter selbst in die Hand nahmen. Diese Micthwohnungen sind, was Lage, Konstruktion, Räumlichkeit und Ventilation betrifft, vortrefflich und kontrastiren woblthnend mit gewissen unsauberen und überfüllten Kasernen, ans deren Mietbe die Besitzer einen schlecht verdienten Gewinn zu ziehen pflegen. Der wahre Reformator des Arbeiterhauses aber wurde ein Menschenfreund, dessen Name die späteren Geschlechter nur mit Ehr furcht nennen werden: Jean Dollfus, der Schöpfer von Mühl Hansens berühmter Arbeiterstadt (eitü ouvriöro). Der Fremde welcher, vom Bahnhofe kommend, sich im dädalischen