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-Ws' Herausgegeben von vr. Otto Oammer Achtundzwanzigfter Jahrgang. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postämter. Wöchentlich ein Bogen Die sociale Frage. Von Adolph von Carnap, König!. Kommerzienrath. II. Jede Zeit hat ihre eigenthümlichen Richtungen. Die nnsrige ver breitet das System der großen Associationen säst über alle Zweige menschlicher Thätigkeit. Dieses System ist die Bedingung der wirthschaftlichen Blüthe geworden. Wo der Schlagbaum nicht die Unterhaltungskosten der Landstraßen aufbrachte, da lohnen die Eisenbahnen; wo der Kahn schiffer nicht mehr bestehen konnte, bringen Prachtvolle Dampfschiffe reichlichen Gewinn; wo Lokalverbände mit höheren Beisteuern für Vieh- und Feuerschäden nicht ausreichen, zahlen Versicherungsgesell schaften ihren Aktionären namhafte Dividenden. Auch die sociale Frage, die auf der Tagesordnung der Ge schichte der Gegenwart steht, ist diesem Systeme verfallen. Seitdem die Anschauungen und Pläne der Socialisten und Kommunisten vor einem Jahrzehent in Frankreich zuerst in die Erscheinung getreten find und zu förmlichen Experimenten innerhalb der bürgerlichen Ge sellschaft geführt haben, ist man der einmal angeregten Bewegung mit größerer Aufmerksamkeit gefolgt; man ist ibren tieferen Gründen und ihrer inneren Berechtigung nachgegangen; man hat die Wahrheit von der Unklarheit und Selbstsucht gesondert, und ist schließlich zur Besei tigung vorhandener Uebelstände, bei der Organisation der Arbeit durch Association angelangt, als das einzige Rettungsmittel für die unbemittelten Arbeiter und Handwerker. Diese Organisation besteht in nichts Geringerem, als darin, daß die Arbeiter ihre eigenen Arbeitgeber werden, daß sie selbst die Lei tung der Geschäfte übernehmen, selbst das nöthige Anlagekapital zu sammenschießen oder in ihrer Gesammtheit anleihcn, also gemein schaftlich das ganze Risiko des Unternehmers tragen, aber auch den ganzen Gewinn desselben unter sich thesix,,. Die vielen drückenden und oft erdrückenden Folgen unseres heutigen, ans die Jsolirung der Einzelnen und eine unbeschränkte Konkurrenz gestelltcnVerkchrs sollen durch Einrichtungen und Bestrebungen gemildert werden, die in dem entgegengesetzten Prinzipe der Vereinigung, der Gegenseitigkeit, der Einordnung und Unterordnung des Einzelnen unter ein Allgemeines, ihre Wurzel haben. Die Erscheinungen, von denen, aus dem Gebiete der Selbst hilfe, hier die Rede ist, fallen unter den Begriff für den wir keinen anderen oder besseren Ausdruck kennen, als den der Genossenschaften zu gewerblichen, wirthschaftlichen und produktiven Zwecken. Es sind die bekannten „Rohstoff- und Magazin-Vereine", „Konsum- und Lebensmittel-Vereine", „Vorschuß- oder Kredit-Vereine und die produktiven Genossenschaften". Diese Genossenschaft bezeichnet die Verbindung einer größeren Anzahl der kleineren volkswirthschast- lichcn und socialen Kräfte, wodurch eine Großkrast geschaffen wird, deren gemeinsame Verwendung und möglichst hohe Verwcrthung in Produktions- und Distributionsgeschästen zu eigener oder fremder Konsumtion, jedem Einzelnen nach seinem Maß und Antheil dieVor- theile zugänglich macht, welche jeder Großbetrieb vor dem Kleinbe trieb voraus hat. Es kann nicht befremden, wenn wir die größte Fülle lehrreicher und günstiger Erfahrungen auf diesem Gebiete in England finden, welches — in Folge seiner vor allen andern Ländern günstigen na türlichen Ausstattung — überhaupt an volkswirthschaftlichen Erfah rungen aller Art, der besten wie der schlimmsten, so viel reicher und älter ist, als irgend ein anderes der großen Kulturländer. Dann aber auch ist England das Land der hohen Löhne, welche den Arbeiter in den Stand setzen, sich an diesen Genossenschaften zu be theiligen und ihnen seine Beiträge spenden zu können. Unsere deutsche Arbeitcrwelt würde es für unbegreiflich halten, wenn sie hörte, daß dieselben Arbeiter, welche in Großbritanien zu gewissen Zeiten die großen Arbeitseinstellungen anstiften, sich gegen Deutsch land in so überaus günstigen Lohnverhältnissen befinden, daß die ge jammte Arbeiterschaft Englands von 1,500,000 Arbeiterfamilien jährlich 180 Millionen Pfund Sterling an Arbeitslöhnen, eine Fa milie also durchschnittlich 120 Pfund Sterling oder 800 Thaler verdient. Ein Tagelöhner hat in England ein Jahreseinkommen von 463 Thalern; ein Maurer von 572 Thalern Die Arbeiter, welche in den Maschinenwerkstätten „montiren" oder zusammenfügen, werden mit 35—40 Shilling oder circa 12 Tbaler wöchentlich bezahlt; Ar beiter bei Walzwerken verdienen in gewöbnlichcn Zeiten 12—15 Shilling oder 4—5 Thaler an einem Tage, wir wiederholen per Tag, und in Staffordshire verdient ein Ehepaar bei den Hüttenwerken 300—400 Pfund Sterling oder 2000—2666 Thaler im Jahre, also so viel wie mancher Minister in einem kleinen deutschen Staate. Doch auch in unserem deutschen Vaterlande hat das Prinzip der Association, in der Schaffung des Kapitals durch Bildung von Vorschußkasscn oder Kreditvercinen, oder, was volkSwirthschastlich auf dasselbe Ziel hinauskommt, durch die Verbindung einer größeren Anzahl der kleinsten wirthschaftlichen und socialen Kräfte, eine wirk-