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Die Ausführung sittlicher, volkswirthschaftlicher Zwecke. Von Adolph von Earnap, Königl. Commerzicnrath. 1. Unter den Mühen nnd dem Gewirrc der Zeit und des Lebens schreitet der ewige Wechsel der Dinge, die einzige Unveränderlichkeit ruhig nnd sicher fort; der alteStrom rauscht unaufhaltsam vorwärts, seine Fluthen bringen neue Abschnitte; in diesem Wechsel der Ver hältnisse waltet eine höhere Ordnung, eine unsichtbare Hand. Wenn wir vorzugsweise am Jahresmorgcn zwischen Vergangen heit und Zukunft eine Scheidung machen, so scheint der Strom der Zeiten besonders jetzt in neue Ufer zu gehen; eine Zukunft rauscht uns entgegen, die, so ahnen wir, verhängnißvolle Wendepunkte in ihrem Schooße trägt. Blicken wir auf die letzten vier Jahrhunderte zurück, so finden wir seltsamer Weise, baß sich gerade in der zweiten Hälfte der selben, bedeutsame Entscheidungen in der Weltgeschichte anbahnlen. So im fünfzehnten, durch die Erfindung der Buchdruckerknnst, die Eroberung Konstantinopels und die Entdeckung wichtiger Seewege; so im sechzehnte», durch den einflußreichen Augsburger ReligionS- sricdcn; so im siebcuzchnten durch die Folgen des die Fürsten nnd Völcker Deutschlands freier machenden westphälischcn Friedens und so im achtzehnten durch die französische Revolution und die Periode flacher Aufklärung, von deren Heerlingcn uns jetzt noch die Zähne stumpf sind. Und zu welchen Kämpfen und Umwälzungen hat nicht bereits die andere Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Signale gegeben? Die Welt verläßt ihre alten Geleise, ein unheimliches Feuer kocht in den Geistern. An die politische Strömung, welche Ende der ersten Hälfte des Jahrhunderts, gleich einer wilden Flnth das deutsche Vaterland durchzog, reihten sich unmittelbar die gewerblichen, handelspolitischen nnd socialen Fragen unserer Zeit; das Bedürfnis der Neugestaltung mancher Verhältnisse war lange schon lebhaft empfunden und für diese Erschütterungen ein mächtiger Hebel. In der thatsächlichen Er scheinung jener Mißverhältnisse nnd Uebelstände erkannte man die dringende Nothwcndigkeit sich mit ihr zu beschäftigen, ja sah die politische und sociale Reform wie die beiden engvcrslochtenen Zeit fragen an, welche mit verwandten Ansprüchen ihre Lösung suchten. Doch bald lagen die Geister im Kampfe wider einander, bis in die tiefsten Schichten der Gesellschaft; nie war die Verschieden heit der Ansichten so überwältigend groß, nie die öffentliche Meinung über das eigentliche Bedürsniß und die richtige Abhilfe so gespalten. Die Sorgen für das Gemeinwohl, die früher nur eine Folge unge wöhnlicher Zeit nnd Umstände gewesen, waren ja das andauernde Crbthcil eines Zustandes geworden, in dem die Strömungen des socialen Lebens den ruhigen normalen Gang verloren. So lange die zu allen Zeiten bestandene Ungleichheit der Berbältnisse entweder nur als eine Folge eigener Verschuldung sich erwies, oder bei gleicher Anstrengung nnd Mühe in der Regel dem minder Glück lichen meist immer noch diejenigen Güter zutbeilte, welche die Familie bei mäßigen und bescheidenen Ansprüchen nothwendig bedarf, blieb der in dieser Ungleichheit liegende Stachel stumpf und schwach; wenn aber auch der Fleiß und die Arbeitsamkeit das Nothwendigc nicht zu erringen vermögen, ein ganzes Leben voll schwerer Mühen vor der Noth das Alter vor der Armuth nicht schützen, und dem Elend keine Aussicht mehr bieten, da kann es nicht auffallen, wenn das Gefühl unerträglichen Unbehagens und leidenschaftlicher Beidig- kcit den Berufs- und Besitzlosen, unter und neben uns grollenden, mit sich und dem Leben zerfallenden Menschen erfaßt. Die vorstehend geschilderte sociale Frage, diese bedenkliche Krankheit unserer Tage, trat in der gedachten sturmbewegten Zeit nm so schärfer auf, als Theurung und Arbeitslosigkeit eine außerge wöhnliche Noth erzeugt und kaum die Grenzen des Landes verlassen hatten. In allen Klassen der schaffenden Bevölkerung wurden Bc- rathungcn gepflogen, um den sich widerstrebenden Interessen Gel tung zu verschaffen. Vereinbarungen wurden eben so rasch wieder vergessen als geschlossen und Theorien gehuldigt, die in ihrer Ein seitigkeit wie ihrer utopischen Anlage die Aussicht aufVerwirklichung niemals eröffnen konnten, dennoch aber durch ihre Schlagwörter zur Aufregung führten und eine Lösung erstrebten, die überhaupt unter dem Eindruck drohender Umwälzung in ersprießlicher Weise um so sicherer nicht gefunden werden kann, je weniger sie es vermag, einer tief in die materiellen Verhältnisse der Gesellschaft eingreifen den Verwirrung, jene Auflösung zu verschaffen, die einer organisiren- dcn, aus dem Bestehenden in das Neue allmälig hinüberführeuden, nicht zerreißenden, sondern an nnd fortspinnenden Kraft bedarf. Wenn aber nur in den Zeiten der politischen Ruhe auf dem Gebiete der socialen Verhältnisse mit Erfolg zu schaffen, zu bessern und zu heben ist, so trägt diese Zeit eine doppelt große Verantwort lichkeit, wenn sie für die Hebung und Ausgleichung dieser Verhält nisse unbenutzt vorübcrgeht. Zwar hat der gewaltige Wellcnfchlag jener unfruchtbaren Ideen und Anschauungen, welche die Grund pfeiler der Gesellschaft erschütterten, das brausend verschlingende Getöse längst wieder verloren, die innere Bewegung aber ist ge blieben nnd wird andaucrn, bis ein ausreichendes Heilverfahren an- gctrctcn ist. Wo noch öde, unbebaute Steppen in Menge sich finden, der Ur wald noch große Flächen bedeckt, die Natur meist allein den Boden befruchtet, überhaupt die Entwickelung aller Kultur noch in den An fängen liegt, da kennt man die fraglichen Uebel nicht; dort aber, wo diese Entwickelung schon ihren Höbcvunkt erstrebt, eine stets wachsende, dicht zusammcngedrängte Bevölkerung die Scholle um lagert, wo Arbeit und Blühen das Leben kaum fristen, die gesell schaftlichen Zustände neben derMacht des Reichthums und deslleber- flusses ein massenhaftes Proletariat geschaffen, das ohne allen eigenen Besitz, ohne eigenen Erwerb, ohne eigenen Lebensboden in übeifluthender Verarmung lebt, — da liegen in diesem krankhaften Zustande alle Symptome einer bedrohlichen Wirklichkeit für die ge ordnete Welt, welche eine Verbesserung, mindestens eine Linderung und Abschleifung der Härten dringend fordert. Es stehen die Mittel zu dieser Verbesserung zwar nicht so auf der Oberfläche, daß sie ohne Weiteres von dem ersten flüchtigen Blick sich erkennen ließen; mit bloßen Erörterungen über die Ursachen, die Natur und Symptome des Uebels ist der Sache eben wenig ge holfen; — nur auS der treuen und klaren Auffassung bestimmter Thatcn und Thatsachen, die offenbar als Mißverhältnisse und Ucbel- stände sich erweisen, läßt die praktische Handhabe zur Abhülsc sich erkennen, und wie das Leben selbst bei vorurtheilsfreicr Anschauung in der Regel zur richtigen Erkenntniß der Dinge führt, so geleitet auch die aus dem Leben geschöpfte Erfahrung meist immer bei ernstem Willen auf die richtigen Bahnen der Umkehr und der Hülse. Ist cS aber nicht wohlgethan, vor der drängenden Noth die Angen zu verschließen? Liegt wirklich in dieser socialen Frage die tief brennende Wunde, so ist eS die Pflicht der für Las Gemeinwohl wirkenden öffentlichen Organe, auf alle solche Erfahrungen hinzu weisen, im Interesse der Zeitgenossen wie der Staaten. Unsere Zeit hat eine vollständige Umwandlung der Geldverhält nisse hervorgcrufen. Die Association bietet dem Kapitalisten und dem illicht-Kaufmann die mannigfachsten Gelegenheiten dar, seine Gelter in merkäntilischen Unternehmungen zu verwerthen. Die andauernd wachsenden Anleihen der europäischen Staaten und Städte eröffnen dem Gelde cinclVcrwendnng, die neben der Sicherheit der Anlage eilte schleunige UmwechSlung an den Börsen gestattet. Die stets nch mehrenden Prioritäts-Obligationen verschlingen unermeßliche Summen und sind in derNegelfasttäglich mitgeringer Mühe wiederzuversilbern. Wer möchte unter so bewaudten Umständen Nachfragen: warum das Hypothekcnwesen seineu alten Glanz verlor? namentlich die Häuser und Wohnungen bei dem Schneckengang der Subhastationcn nicht wie früher vom Kapital gesucht werden? die Klage über Mangel an Wohnungen und hohe Mietheu eine so allgemeine geworden? Unverkennbar leiden fast alle unsere Großstädte, bis herab auf die kleineren Gewerb- und Fabrikstädte an einer drückenden Woh- nungSnoth. Mit dem Zuwachs der Bevölkerung hat die Vermehrung der Häuser nicht Schritt zu halten vermocht, und der WohnungS- manzcl wie die Steigerung der Miethpreife alle Klassen der Bevöl kerung, die wohlhabenden wie die mittleren Stände, schwer betroffen. Vor Allem aber lastet dieser Druck auf die untere» Klassen, auf die Arbeiter; sie wohnen nicht allein schlecht und dnrchgäugig für ihre Erwerbsverhältnisse viel zu theuer, es ist auch in manchen Städten dahin gekommen, daß sie keine passenden Wohnungen mehr finden tönen und bei den Ortsbehorden als Obdachslose sich anzu melden gezwungen sind. Welch eine Bedeutung aber, welch einen tiefen Einfluß hat nicht die Wohnung und der eigene Hccrd auf daS Leben des deutschen Arbeiters und seiner Familie? Welch eine enge Wechselbeziehung be steht nicht zwischen der Wobnung nnd ihrer Bcwobncr in sittlicher und wirthschaftlicher Hinsicht.