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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 29.01.1911
- Erscheinungsdatum
- 1911-01-29
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191101299
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19110129
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19110129
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1911
-
Monat
1911-01
- Tag 1911-01-29
-
Monat
1911-01
-
Jahr
1911
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grübeln, ob man tn da» System der deutschen Eintel, staaten einen neuen etnfilgen will, oder ob es „eine ' Ehre oder Schande seen soll, Reichslande zu heißen". SachverstSn-igeugumchten in Srimlnalpnqellen. Wir erhalten folgende Zuschrift, der« Inhalt wir uu» jedoch nicht in jeder Beziehung >» eigen machen können: »Nun istderEensationsprozeß gegen die Prosessorenfrau beendet! Die Ehe männer atmen auf, daß endlich einmal eines jener Scheusale die gerechte Strafe emvfangen hat, und auch die Frauen sind mit dem Richterspruche zufrieden: ..Wie kann man denn auch nur so . . . Ein großer Teil der Presse schliefst sich ihnen an und beglück wünscht geradezu die Geschworenen, dass sie sich nicht Lurch die Sachverständigengutachten zu einem Frei spruche haben bewegen lallen. Ich will mich in diesem Artikel nicht für oder gegen die Geschworenengerichte ausjprechen, ich will mich nur dagegen verwahren, dass wir es als gute» Zeichen betrachten sollen, wenn die Geschworenen die Gutachten nicht gehörig würdigen. Gesetzlich ist ja der Geschworene nicht verpflichtet, die Gutachten für richtig zu halten und danach zu urteilen. Wie er es aber seinem Gewissen gegenüber verantworten kann, mutz er mit sich selbst abmachen. Der Prozeß brachte ja eigentlich weder Neue» noch Interessantes. E, sind immer wieder dieselben hyste rischen Frauengestalten, die da vor das Forum ge logen werden, und immer wiederholt sich die Tat sache, datz der Laienrichter den Psychiater nicht zu be greifen vermag. Da steht die hochgradig nervöse Frau im Schwurgerichtssaale-, die achtmonatige Haft hat ihren zerrütteten Nerven den Rest gegeben, und nun treffen sie die Beschuldigungen des Staatsanwalts wie Peitschenhiebe. Die Misshandlungen, die sie in ihrer ersten Ehe zu erdulden hatte, werden durchgesprochen: längst vergessene Brutalitäten werden ihr wieder in Erinnerung gerufen. Dann wird ihre zweite Ehe eingehend behandelt. Auch hier war sie nicht auf Rosen gebeitet. Der viel jüngere Mann, der ihren krankhaften Zustand nicht zu erkennen vermag, wird ihrer Launen bald überdrüssig, und von neuem ist sie Roheiten ausgesetzt. Man hat sie mit der Frau von Schönebeck und anderen Frauen der letzten Prozesse verglichen, und im allgemeinen mit Genugtuung begrüßt, daß nun endlich einmal eine jener Missetäterinnen die gerechte Strafe empfangen hat. Und in der Tat lasten sich viele Aehnlichkeiten nachweisen! Aber, wenn sich nun immer wieder dieselben Merkmale bei den verschiedenen Personen finden, drängt sich da nicht unwillkürlich die Frage auf, ob nicht doch vielleicht eine krankhafte Storung ihres Gemütslebens vor liegt? Wie konnten jene Frauen sich bei der Ver handlung so gleichartig betragen? Ihre Antworten sind oft so, datz man die eine für die andere mit Leich tigkeit einschalten konnte. Ihre den Durchschnitt der Frauen überragende Bildung, die aber schließlich doch nur Halbbildung ist: die Menge der wissenschaftlichen Werke, die sie durchstudiert oder doch wenigstens ge lesen haben, und die sie doch nicht ..verdaut" haben, wie einer der Sachverständigen so treffend sagte: dann di« Selbstmordversuche, die sie nicht fingierten, lon Lern die sie allen Ernstes ausfiihren wollten. - Vom Vorsitzenden befragt, welchen Eindruck sie Uber das Behältnis der Angellapten »u ihr« Kindern^fiUtt«,'« sagten die einen Zeugen, es wären gute Mütter ae- nx-en, die ihr« Kinh^Mtftch geltzcht und treu sitz sie gesorgt hatten, unodie andern Jengen meldeten von grausamer Behandlung der Kinder. Beide Zeugenaussagen find vollkommen richtig! Das liegt in der Krankheit der hysterischen Frauen, datz sie ohne Uebergang von einer Stimmung in die andere ge- raten, datz ihr Wille ein Spielball ihrer Launen wird. E, kam nur darauf an, wellen Nerven noch etwas standhafter waren, oder wohl besser, welcher Prozeß sich länger hinzog. Hätte der l^te Prozetz tnfolae eine» -rotzen Zeuaenapparates mehr Zett, vielleicht Wochen beansprucht, er wäre wohl nie zu Ende ge führt worden. Frau Herberich hatte sich vielleicht vor genommen, sich ruhig gegen die Anklage zu verteidi gen. Aber bei der Besprechung all des vergangenen Elends, bei den schweren Anschuldigungen, die man gegen sie erhebt, werden ihre kranken Nerven aufs äußerste erregt, und sie überschüttet den Gerichtshof mit Borwürfen, zankt sich mit ihren Verteidigern herum, gerade wie sie es in ihrer Ehe getan haben mag. Dann wieder vergißt sie die schwere Anklage, unter der fie steht, klammert sich an Kleinigkeiten, an die ein normaler Mensch tn diesem Falle gar nicht ge dacht hätte, wünscht „Frau Angeklagte" angeredet zu werden, oder ist empört, wenn man ihre Theorien nicht anerkennen will. Und die Laienrichter! Sie sehen in ihr nur das Weib, das ihrem Manne das Leben zur Hölle ge macht hat, das ja seinen wahren Charakter nicht ein- mal in diesem feierlichen Echwurgerichtssaale ver leugnen kann: sie erblicken in ihr nur den Typ der Xantippe! Das andere Wesen aber, das sich hinter jener Furie verbirgt, die ungeheure erbliche Be lastung der Angeklagten, di« die Triebfeder für ihr Handeln gewesen ist, soll ihnen erst von den Sach verständigen gezeigt werden. Die Sachverständigen weichen in ihren Gutachten wenig ab: einige erklären die Angeklagte für geisteskrank oder zur Zeit der Tat für geistes gestört, einige meinen, es handle sich um einen jener Erenzfälle, wo der 8 5'1 noch nicht zutrifft, aber der Täter doch fast unter einem unabwendbaren Zwange gehandelt hat. Keiner hält sie für eine normale Frau, die vorsätzlich ihren Mann getötet hat. Unerklärlich scheint es mir, wie ungeachtet der fast gleichmäßig lautenden Gutachten die Geschwore nen ein „Schuldig" aussprechcn konnten, und das Ge richt eine so hohe Gefängnisstrafe verhängte. Wie konnten die Geschworenen sich so leicht über die Sach verständigengutachten Hinwegsetzen! Bedeutet dies nicht der Wissenschaft einen-Schlag ins Gesicht? Haben sie denn so wenig Achtung vor den Ansichten der Männer, die ihr Leben lang an der Erforschung von Irrsinn und Verbrechen arbeiten! Wie kann ferner ein Teil der Presse geradezu auf fordern, den Gutachten der Sachverständigen höchstes Mißtrauen entgegenzubringen! Manche Blätter sprechen sich offen für den Mob aus, der die unglück liche Frau bei ihrer Ankunft vor dem Gerichtsgcbäude jedesmal mit Unflätigkeiten überkäufte. Jene rrhen Patrone sollten das richtige Gefühl für die strafrecht liche Verantwortung der Angeklagten haben? Man wagte es geradezu, die unermüdlichen Forschungen der Psychiater für wertlos zu erklären! Auch ich stimme durchaus nicht jener Meinung zu, die in jedem Verbrecher nur einen Geisteskranken sieht: aber die Willenschaft hat doch gezeigt, daß ein Teil der begangenen Verbrechen auf erbliche Be lastung und Geisteskrankheit zurückzu führen ist. Und gereicht es denn der Menschheit zn so großer Schande, wenn wirklich ein Teil der Ver brechen auf das Konto der Geisteskranken gesetzt wird? Einem oder dem andern b-eschworenen ist vielleicht auf dem Heimwege vom Schwurgerichtssaale der Ge- dpnke gttstmmevt rannst du es verantworten, diese Frau für schuldig befunden zu haben, wenn wirk lich /jene SachveMndfgen recht gehabt hätten, die sie M ^eiftesgMor^eMartenk" lieber die Zukunft der Verurteilten sind sich die Richter und Aerzte wohl klar. Wie kann eine solche Frau, deren ungeheure Nervenzerrüttung sich schon so deutlich bei der Verhandlung zeigte, die viereinhalbjährige Gefängnisstrafe oder auch »ur einen Teil derselben überstehen? Einige Monate, vielleicht auch nur einige Wochen werden genügen, um sie dem Irrenhause zuzuführen, wohin fie schon heute gehört. Die Höhe der Strafzumessung war für diese Frau wohl belanglos; ob das höchste Strafmaß, ob 10 oder Jahre gewählt wurden, mit dem wohl wollenden Zusatze der mildernden Umstände, ihr Schicksal ist doch besiegelt. ,,k>unuviuu jus, warima injuria" gilt auch noch heute! Deutsches Reich. Leipzig, 29. Januar. * Zum Aufenthalt des sächsischen Königs in Berlin. Der König von Sachsen empfing am Frei tag im Königlichen Schloß den Direktor des Aus wärtigen Amts, Wirklichen Geheimen Rat Körner, und überreichte ihm sein Bildnis mit seinem Namenszuge in Brillanten. * Zur Angelegenheit de» Prinzen Mar wird der Tägl. Rundsch." aus Rom gemeldet: „Zuerst ver suchten die Polen in galizischen und italienischen Blättern und alsdann im Vatikan zwei ihrer Gegner, den Augustiner Palmieri und den ruthenischen Metropolisten Szeptieki in Lemberg, für die Ideen Les Prinzen Mar verantwortlich zu machen. Prinz Max war nämlich vor zwei Jahren als Gast beim Metropoliten in Lemberg gewesen, um einen Monat lang in ruthenischen Bibliotheken zu studieren. Dieser lächerliche polnische Vorstoß wurde von der Kurie richtig als ein Manöver erkannt, um die An wartschaft des ruthenischen Metropoliten auf den Kar dinalshut zu ruinieren zugunsten der nicht einwand freien Kandidatur des stockpolnischen Lemberger Bischofs Bilczewsky. Dagegen müssen die Frei burger Dominikaner für die Sünde des Prin zen büßen. Kürzlich ließ der Papst den Domini- kaneraeneral Pater Lormier, einen ehrwürdigen, vornehmen Greis, zu sich kommen und befahl ihm mit erregten Worten, den bereits einmal gemaß regelten Rektor der Freiburger Uni. versität Pater Zapletat telegraphisch abzu berufen, worauf der feinfühlende Greis ob dieses päpstlichen Zornes in Ohnmacht fiel. Pius, der da durch wieder milder gestimmt wurde, gestattete dann, um einen Skandal zu vermeiden, ein vorläufiges Verbleiben des Rektors, verlangte aber kategorisch, daß innerhalb des Jahres der Rektor und drei weitere Ordensprofessoren von der An stalt entfernt werden." * * Der Arbeitsplan de« Reichstages. Der Senioren konvent des Reichstages einigte sich dahin, auf die Tagesordnung des nächsten Montag außer Peti« tionen den Gesetzentwurf über die beim obersten Landesaericht einzulcgenden Revisionen in bürger lichen Rechtsstreitigkeiten zu setzen, auf Dienstag und Mittwoch die dritte Lesung der Wertzuwachs steuer. Die darauffolgenden Tage sind sitzungsfrei. Am 6. Februar beginnt Beratung des Gerichts- Verfassungsgesetzes und der Strafprozeß ordnung. Der Beginn der zweiten Etatslesung ist auf den 13. Februar festgesetzt worden. * Wertzuwachssteuer und nationalliberale Partei. Aus nationalliberalen parlamentarischen Kreisen er halten wir folgende Zuschrift: In einzelnen Kreisen ist dre Meinung verbreitet, daß sich in der nationalliberaten Fraktion des Reichstages eine immer stärker werdende Strömung gegen di« Annahme des Wertzuwachssteucrgesetzes geltend mache, und datz damit zu rechnen sei, -atz die Fraktion in dritter Lesung nut« Führnag von Basser mann gegen da» Gesetz stimmen würde. Diese anscheinend von Gegnern der nationalliberalen Partei verbrei tete Nachricht ist vollkommen unzutreffend. Der Abg. Ballermann steht ebenso wie di« Fraktion auf dem Boden der Annahme de» Gesetzes der Wert- zuwachssteuer, und e» kann sich, wenn überhaupt, nur um ganz vereinzelte Stimmen handeln, die ebenso wie in anderen Fraktion« gegen da» Gesetz abge geben werden, dessen Annahme i« übrigen gesichert erscheint. Ebenso unrichtig ist die Behauptung des „Berl. Togebl", daß eine „große Anzahl" von Mitgliedern der nationalliberalen Fraktion für die Steuerfreiheit der Landeafürsten in be zug auf das Wertzuwachssteuergesetz gestimmt hätte. Tatsächlich bandelt es sich nur um wenige Mitglieder der Fraktion, die sich in dieser Frage von der Fraktion getrennt haben. * Di« Fernsprechgebührenordnung, die vom Plenum de» Reichstages an die Budgetkoinmisston zurückver wiesen worden war, wird auf den Wunsch der Regie rung von der Budgetkommission bereit» in der nächsten Woche einer erneuten Beratung un terzogen werden. Der Wunsch der Regierung, diese Vorlage auf jeden Fall noch in dieser Session zu er ledigen, hat bei den Konservativen und beim Zen trum Anklang gefunden und wird von diesen Parteien unterstützt rveiwen. Zu Beginn der nächsten Woche soll ein Kompromiß abgeschlossen werden, nach dem die Grundgebühr erhöht werden und die pauschalierte Gesprächsgebühr eine Ermaßt gung erfahren soll. Der Entwurf soll noch im Februar in zweiter Lesung vom Plenum verabschiedet werden. * Zum Fall Spahn. Die „Augsb. Postztg." ver öffentlicht Stücke aus der vertraulichen Dentschrift, die Professor Spahn am 28. November zu seiner Rechtfertigung dem Vorstand der Zentrums fraktion eingereicht hat. Spahn hat danach doch recht gründliche Reinigung an sich selbst vorge nommen und geflissentlich alle Ketzereien als Jugendsünden hingestellt. Bezeichnend für den konfessionellen Charakter des Zentrums ist besonders folgendes pater peecuvi: „Zusammengetragen sind (in der Schrift des Grafen Oppersdorf) alle oder fast alle Aussprüche, in denen ich vor zehn und mehr Jahren in dem Ueberschwange eines jungen Mannes dem, was unseren protestantischen Mitbürgern teuer ist, allzu gerecht zu werden suchte." Danach in es also ein Punkt des Parteipro gramme!», datz kein Zentrumsmitglied dem. was dem Protestantismus teuer ist, gerech t werden darf. Nur „in jugendlichem Ueberschwang" sind solche Seiten - sprünge gestattet: und sie sind verziehen, wenn man darüber so frühzeitig ordentlicher Universitätspro fessor geworden ist, wie Martin Spahn. Dessen ungeachtet kann man die Entrüstung der „Augsb. Postztg." verstehen, mit der sie sich über den schweize rischen Ableger der „Köln. Volksztg.", die „'Neuen Züricher Nachrichten", entrüstet, die auch die jüngste Zentrumserklärung als ein „Vertrauensvotum" für Prof. Spahn bezeichnen. Es geht doch nichts über die Vieldeutigkeit von Zentrumserklärungen. * Die Maßregelung des Abg. Korsanty. Dem „Oberschles. Anz." zufolge ist der Abg. Korfanty von allen auf demokratischem Boden stehenden P o - lenvereinen aus geschlossen worden. Seine Absicht, nach Amerika auszuwand ern, soll nunmehr feststehen. * Der aufrecht« Wieland. Der wegen . Verweige rung des Lködernisteneides gmnaßkegeite-Subregeus Dr. theol. Franz Wieland empfing am 21. Januar vom bischöflichen Ordinariat Augsburg die Auffordc- Kolmar, ein gelehrt-würdevolles, ein vornehm-kulti viertes, und das Partriziat ging im wesentlichen an die neuen Richterfamilien über, in denen ein außer ordentlich sorgsamer und selbstbewußter Lebensstil ge pflegt wurde. Elsässi'cher Bürgersinn, in der deut» scheu Zeit einst aufs glücklichste gediehen, fand so in der richterlichen Unabhängigkeit seine erste Blüte, bevor er in der industriellen Energie Mülhauser Familien zwischen 1750 und 1850 die zweite erlebte. Die richterliche Seßhaftigkeit aber hatte zur Folge, datz im Laufe der Generationen Kolmar eine richtige Rentnerstadt wurde, in der sich neben den Juristen auch alte Beamte und Offiziere niederließen. Selbst nach der Option und ihrer starken Abwanderung be saß Kolmar diesen ausgesprochenen Charakter. Da übrigens die deutsche Regierung der Stadt ihre rich terliche Vorherrlchaft belieb und das Oberlandes gericht des Reichslandes ebenfalls hierher legte, so stirbt er nicht ganz aus, und die Villen und Gärten haben sich nur vermehrt. Damals aber, als noch keine Straßenbahn fuhr, als noch nicht die billigen Warenhäuser die Fronten der einfachen Häuser zerrissen hatten und anderseits doch die deutsche Verwaltung für die Sanierung und Sauberkeit so viel getan hatte, damals in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts besaß Kolmar o elleicht seinen größten Reiz. Der Kern der mittel alterlichen Stadt um Martinsmünster und Kaufhaus war unverfälscht, malerisch, gewunden und voll der Häuser, die wie überall »m Elsaß zugleich solid und anspruchslos nebeneinanderstanden, wie es sich für Bürgerhäuser gehört; und hier waren wie anderswo die Dächer, die lleberhänge, die Torbogen ein glück liches Motiv. Daneben hatte die französische Zeit ein ungewöhnlich reizendes Quartier geschaffen, das sich jenseits der alten Befestigungen erstreckte. Aus den Wällen waren Promenaden geworden, die Mauern waren teilweise stehen geblieben und zu Blumen terrassen umgeformt, auf die man aus dem ersten Stockwerk trat. Fast zu üppig und zu dunkel im Schatten dieser Bäume zog sich diese Wallpromenade bis zum Lyzeum hin, dem alten gelben Jesuiten kloster, während sie am Anfang auf den großen Champ de Mars, den typischen Platz französischer Garnisons orte, schauten. Heute ist ein Marsseld daraus geworden, und in der Mitte des weiten Raumes steht di« Kolossal statue des tapferen Rapp, des napoleonischen Pala dins, ein pathetisches und doch so wirkungsvolles Jugendwerk des Kolmarer Bartholdi, der nicht nur ein leidenschaftlicher Franzose blieb, sondern auch ein starkes Bildhauertemperament war; der Löwe von Belfort und die Freiheitsstatue im Hafen von New Port stammen von ihm. In den Anlagen neben dem Marsfeld betrachte man übrigens ein anderes Werk Bartbollns, das Denkmal des Admirals Bruat, der einst die Operetteninseln der Königin Pomare unter französischen Schutz stellte. Die Gestalt des Admirals ist prachtvoll in ihrer gelassenen Ruhe, und die vier liegenden Figuren der Weltteile, der Neger und die nackten Frauen, sind bei aller Ucberlcbensgröße voll beherrschter Bändigung. Aber ihr Schönstes birgt die Stadt Loch aus aller Zeit, Kloster Unterlinden. Eine klare quadra tische Anlage umschließt einen kleinen offenen Hof. Um den Hof läuft ein Kreuzgang mit Spitzbogen fenstern, die bis zum Boden reichen und durch ein schlankes Säulchen halbiert werden. Welch ein tiefer, inniger Eindruck, in diesem kühlen Kreuzgang herum gehen und über dem offenen Viereck den blauen Him mel eines Sommertage» leuchten sehen. Das Leben draußen ist abgesperrt, und doch bleibt eine letzte, feine Verbindung mit ihm durch diese warmen Aus schnitte. Es fehlt die Feindschaft gegen das Leben, das ist das Geheimnis. Es ist kein Kloster, durch das Inquisitoren schritten, sondern ein Frauenkloster voll eine» Hauches süßer Mystik. Mitten im gras bewachsenen Kose steht ein kleines Denkmal Martin Schongauers. Die Künstlerschaft Bartholdis verrät sich nickt am wenigsten dadurch, daß er, der Liebhaber kolossalen Bronzegusses, hier den sanften Sandstein gewählt hat und der zarten, feinen Dimensionen dieses Figürchens fähig war. Wenn über das Dach hinweg sich die Sperlinge in den Hof schwingen uv- aus den Vertiefungen, die der Regen in das Posta ment gewaschen hat, einen Wastertropfen nippen, denkt man gerührt an das Grab Walters von -er Vogelweide, auf dem sich auch die kleinen Vögel netzten. Das Kloster ist eine Schatzkammer. Es birgt die berühmte Sammlung altdeutscher Meister, darunter den Jsenheimer Altar mit den prachtvollen Holz stguren des unbekannten Meister» und den Gemälde tafeln Mathia» Grünewald». Auch er ist nicht viel mehr als ein Unbekannter, von dem wir nur den Namen wissen, und der so beunruhigend ist, weil sich in ihm wie in keinem zweiten die tiefsten Kräfte -er Zeit mischen: eine ungeheure Inbrunst Les Gefühls mit einem ungeheuerlichen Naturalismus: Seelen Hastigkeit mit Bewuhtseinsschärfe, Stimmung mir Charakteristik, südliche Leuchtkraft der Farbe mit nordischer Kraft der Idee. War er demütig, war er ein Luthertemperament? Martin Schongauer hoi einen schweren Stand »eben ihm, und so sehr man zu nächst immer wieder bedauern mag, daß seine „Ma donna im Rosenhaa" nicht Hier, sondern in einer ziemlich dunklen Sakristei des Münster» hängt, so gc winnt der fromme Meister doch nur durch den Wechsel der Oertlichkeit. Das Unterlindenkloster ist der geistige Mittelpunkt Kalmars. In ihm tagt auch die gelehrte Gesellschaft der Stadt, die ihre Blüte ganz dem eigenen Bürgerstolze verdankte. Diese Gesell schaften, deren Bedeutung weit über den lokalen Rahmen hinausreichte, sind etwas sehr Elsässisches Wenn wir Mülhausen besichtigen, werden wir noch von ihnen sprechen. SlMiMe Stitttte. Von Vtt» Flake (Straßburg), ll.*) Kolmar. Man hat Kolmar die politische Hauptstadt des Elsaß genannt. Das ist zuviel gesagt, denn die poli tische Hauptstadt ist, und nicht nur dem Namen nach, Straßburg. Ader Kolmar ist eine politische Stadt, es ist voll Regsamkeit oder Unruhe, wie man will, und trotz unserer Einschränkung soll ihm sein be sonderer, ja sein singulärer Charakter nicht geraubt werden. Die Stadt Blumenthals und Wetterles macht von sich reden, und über Las lokale Interesse hinaus erhält die Kolmarer Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Klerikalen, die vom Haß bi» zum Bündnis alle Phasen durchmacht, eine sympto matische Bedeutung für da» ganze Land, dessen Zu kunft in der Hand dieser beiden Partei« liegt. Mit seinen 10 000 Einwohnern besitzt es «inen Vorteil, -en Straßburg schon zu verlieren beginnt: den der Ucbersichtlichkeit, der Ruhe und der reizvollen Glie derung. Man wird nicht wie in der Großstadt in die Strömung gerissen, die e» verwehrt, zu schlendern und zu beobachten, nein, in diesen Mittelstädten darf man noch auf die Jagd nach den Einzelheiten aus gehen, in einen Torgana treten, Lurch die Fenster spähen Bau um Bau aoschätzen; man gibt sich der eigentümlichen Witterung jedes Haufe» hin' Haus an Hau» ergibt die Gasse; Gasse an Gaffe La» Viertel, und so baut sich vor dem lebenden Gefühl das Ganze, -er Organismus auf, den zu übersetzen io viel intime Freude gibt, denn übersehen ist beherrschen und be friedigt wie ein Erfolg, den man persönlich davon trägt. Wie deutlich setzt sich dies Kolmar noch zusammen. 'Noch immer bilden wie vor Jahrhunderten die Gärt ner den Kern der tätigen Veoölkeruim. Langsam fließt die Lauch durch die Ebene der Stadt zu, di« eine Stunde vom Gebirge entfernt im flachen Land liegt. Wiesen,-so groß wie kleine Prärien, und dickte Walder, die sie begleitet haben, machen in ehr erbietiger Entfernung von der Stadt plötzlich halt, und Gemüsegärten nehmen ihren Platz ein. Sie nun reichen bis dicht an die Ufer, und es sieht au» als sei -er Fluß mit feinen vielen Kähnen nur angelegt, um einen Zugang zu den zahllosen Beeten mit der schwarzen Erde zu erlangen. Die Kähne sind lang und schwer, und der Gärtner muß mit großen Stangen in den schlammigen Grund stotzen und sein ganzes Gewicht anstemmen, um sie fortzubewegen. Sic kommen aus der Stadt mit Jauchetonnen beladen, sie kehren zur Stadt zurück mit einer hohen Ladung von Krautköpfen, von Salat, von Spargel«. von Kör ben voll Kirschen, Johannisbeeren, Mirabellen, wie *) T. Nr. 27« (1010) de, Leip,. Lagedl. es die Wochen und Monate bringen. Das Bild am Fluß ist immer wechselvoll. Dort hat sich ein Kahn bis in das Schilf am Rande vorgeschoben, und die Jauche wird in den Tragbottich auf dem Rücken eines Burschen geschüttet; hier füllt des Gärtners Kind aus den Wassergräben, die sich vom Flusse abzweigen, seine Gießtanne und sucht zugleich ein paar Stich linge, die unaufhörlich hin und her schießen, mit- zufangen; anderswo wieder hat eine Frau ihre wollenen Rocke über die stämmigen Waden ge «chürzt und glättet mit Brettchen, die unter die Füße geschnallt sind, den Boden, welcher eben die Saat empfangen hat. So ist das ganze Land, das sich ostwärts bis zu den Wäldern der Jllebene erstreckt, oarzelliert, be wässert, befruchte!. Ein anderes Bild entrollt sich an -er westlichen Peripherie der Stadt. Hier säumen nicht Wälder die Landschaft in der Ferne ein, sondern die hohe Mauer der Vogesen, die am Eingang des Münstertales einen kurzen Querstock hervorschicken und die Ebene von der Flanke umklammern, im übrigen aber sich nordwärts verziehen bis zur fernen, gekrönten Hohkönigsbura. Und von ihren Vorhügeln lenden sie bis in die ersten Straßen Kolmars hinein das Gewächs der Hügel, die Oktoberfrucht, den Wein. Es ist ungewöhnlich, Laß auf so weite Entfernung vom Gebirge, völlig in der Ebene, Rebenfelder ge zogen werden. Und da die Ebene den Nachtffrösten ungehinderteren Zutritt gewährt als die geschützten Lagen des eigentlichen Rebengeländes, jo müssen auch besondere Vorsichtsmaßregeln getroffen werden. Der Teer spielt eine große Rolle. Ueberall in den LIZegen, die im Herbst der „Bannwart" sperrt, stößt man auf die erstarrten schwarzen Lackfpuren, und bald hier, bald da steht an einer Kreuzung ein bauchiger Kessel. Wenn in den kritischen Nächten de» Früh jahrs die Wachen Las Thermometer sich der Null nähern sehen, wird alarmiert und schleunigst jeder Kessel angcheizt, damit der Teerrauch mit seinen dicken Schwaden, die nicht in die feuchte schwere Luft ausfteigen können, die Stöcke einküllt und vor der Kälte schützt. Längst ist die Stadt ja zu groß ge worden, als daß sie noch wie vielleicht einst allgemein an Liesen nächtlichen Auszügen teilnehmen oder sie nur bemerken könnte, auch warnen heute di« Thermo meter bereits mechanisch; aber früher, als wir noch zur Schule gingen, da war da» ein aufregende» un mitreißende, Nachtbild, wenn Alarm geblasen wurde mit den französischen Claironsianalen, die auch bei einem Brande durch alle Gassen schmettert«, und wenn sich dann die ganze, von rauchenden Fackeln beleuchtete Szenerie einer ausrückenden Mannschaft in dem Nordwestvicrtel entwicklet«. Als Kolmar französisch aeworden war, er hielt es den Obersten Gerichtshof de» Landes, aus dem nach der Revolution einer der zwölf Kastations- höfe Frankreich» wurde So entstand neben der Gärtnerstadt und der Ackerbürgerstadt ein drittes
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