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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 19.03.1911
- Erscheinungsdatum
- 1911-03-19
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191103191
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19110319
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19110319
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
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Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1911
-
Monat
1911-03
- Tag 1911-03-19
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Monat
1911-03
-
Jahr
1911
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Nr. 78. los. Halirysny. nicht weniger als 15 Metallarbeiter-Versamm lungen statt, die sich mit dem angckündigten Be schluß des Bezirks Chemnitz de» Verbandes deutscher Meiallindustrieller. detr. Aussperrung von 50 Proz. der Belegschaft vom nächsten Montag an. wenn die Gießereiardeiler bis dahin ihre Arbeit nicht wieder aufnchinen. beichäftigten. Nachdem von den Der- bandsfunktionären über den gegenwärtigen Stand der Amelegenheit berichtet worden war, wurde in allen Versammlungen die nachstehende 'Resolution gefaßt: Die heutige Metallarbeitcrncriainmlung er blickt in der Androhung der Aussperrung durch den Bezirksverbond der Chemnitzer Metallindu striellen lediglich ein Mittel zur Einschüchterung, um die Former und Gicßereiarbc.ter zum Rück tritt von ihren berechtigten Forderungen zu ver anlassen. In Anbetracht der Richtigkeit der For derungen für die gesamten Gicßerciarbeitcr be trachten die Versammelten die Aufrechterhaltung der Forderungen für die Former und Gießerei- arbeiter als ihre selbstverständliche Pflicht und die Ucbernahme einer etwaigen Au-sperrung durch die Chemnitzer Arbeiter für unerläßlich." Durch diesen Beschluß wird, da ein Zurückweichcn der Arbeitgeber nicht u erwarten ist, der große Kampf in der Metallindustrie des Chemnitzer Be zirks herau i beschworen. Dieser Bezirk umsaszt die Firmen der Cissnbranche in un erer Stadt und deren nächster Umgebung. Bimbach z.B. gehört ibm schon nicht mehr an. Bekanntlich sollen nächsten Montagabend 50 Proz. der Arbeiter der rn Frage kommenden Firmen ausgesperrt werden, wenn die jetzt aus ständigen Former und Gicgereiarbeiter nm Montag früh die Arbeit nicht in vollem Umfange wieder ausgenommen haben sollten. Diese Hoffnung wird jedoch, wie oben erwähnt, durch den gestrigen Beschlich der Metallarbeiter zunichte gemacht. Die Firmen des Chemnitzer Vezirksverbandes beschäftigen ins gesamt etwa 20 000 Arbeittr. Da hiervon bereits 00 o ausständig sind, würden von der Aussperrung noch rund 10 000 Arbeiter betroffen werden. Vergrößern muß sich die Zahl der Ausgesperrten notwendigerweise dann, wenn in den Fabriken Mangel an fertigem buch eintritt. * Für den 15. sächsischen Rcichstagswahlkreis Burgstädt - Limbach wurde in einer Veriraucns- mäuneroersammluug des uationallil eralen Vereins zu Chemnitz als national liberaler Kandidat >>»: den Rcichstagswahlkreis Burgstädt - Limbach Pastor Richter-Königswalde ausgestellt . Aus dem 20. Lanvtagswahllreije wird uns geichrieben: Die Fortschrittliche Voltspartei ver anstaltete am 17. März in Liebertwoltwrtz eine Versammlung, in welcher der Laudtagslandidat Dr. Schubert iprach. Redner kennzeichnete die Stellung des entschiedenen Liberalismus zu den ein zelnen Fragen der Landesgeietzgebung, insbesondere auch zur Voilsschulre orm. Auch die l. Kammer sei zu einer Volkskammer umzugestalten, so dasz in ihr alle Greife der "Bevölkerung vertreten würden Der zweite Redner. Herr Tischendörfcr, wendete sich scharf gegen die konservative Kandidatur Feller und gegen die Sozialdemokraten und forderte zum Schlüsse auf, kräftig für die Kandidatur Schubert einzutreten. In der Debatte empfahl Herr Frant den national liberalen Kandidaten Unger. Die Sächsische Kirufliche Konferenz tritt am 26. April in Chemnitz zur Frühjahrstaqung zu sammen. Den wissenichaftlichen Vortrag hält Herr Professor Titius. Er wird das Thema „Die moderne «eriraleihik" behandeln. Danach erfolgen Be sprechungen in Sachen ter Frage der Volkschzulreform - ni Sachsen. In dieser auch für das kirchliche Leben einschneidenden Angelegenheit haben bereits im ver gangenen Herbst gründliche Beratungen auf der Kon ferenz stattgefunden, die zur Bildung einer ent sprechenden Kommission zur Weiterbearbeitunq der Frage sühnen. Voraussichtlich wird es nunmehr auf der nächsten Versammlung zur endgültigen Stellung nahme dieser Konferenz sder sog. jungen Chemnitzer telprlger Tageblstt. Konferenz) in der wichtigen Kulturangelegenheil kommen. * Der Reichskanzler und die reichsländische Auto nomie. Die „Straßburger Post" weisz zu berichten, dass der Reichskanzler selber einem elsässischen Ab geordneten gegenüber, der den Wunsch nach Auto nomie verteidigt«, geäußert habe, daß er diesen Wunsch vollkommen begreiflich finde, und habe hinzu gefügt' „Wäre ich ElsaßLothringer. ich würde ihn möglicherweise auch aussprechen." l?s * Di« Rechnungstommission de» Reichtstag» hat die Rechnungen über den Haushalt der Schutzgebiete für die Rechnungsjahre 1901 bis 190.1 geprüft und für die Rechnungen Entlastung erteilt. Die Kommission bat folgende Resolutionen angenommen: 1. den Reichskanzler zu ersuchen, Fürsorge zu treffen, daß die den Beamten obliegende Haftung für Abweichun gen vom Etat in allen Fällen strengstens durchgc- sührt wird: 2. den Reichskanzler zu ersuchen, dafür Sorge zu tragen, daß den mit der selbständigen Leitung von Bauten betrauten Beamten erneut zur Pflicht gemacht wird, den ihnen zur Ausführung übertragenen Bauplan- und Kostenanschlag strengstens i n n e z u h a l t e n, und abgesehen von dringenden Notfällen Abweichungen vom Plane und Ueberschreitnngen des Anschlags nicht ohne vor- herigc Begründung ihrer vorgesetzten Behörde vor- zunehmen. * Verhaftung von Spionen in Hamburg. Die Hamburger Kriminalpolizei verhaftete Sonnabend nachmittag einen Engländer und vier Ham burger wegen Spionage. Der Engländer stammt angeblich aus Southampton, er weilte häufig in Hamburg und Bremen. Es wurde bei ihm schwer belastendes Material gesunden, das den Verdacht der Spionage rechtfertigt. Die Spione lieferten genaues Material über die deutschen Kriegs- schiffbautcn in Hamburg und Bremen nach England in landesverrärerischer Absicht. Eine um fangreiche Untersuchung ist eingeleitet. * Preußisches Auvführungsgesetz zum Reicksvieb seuchengesetz. Der Entwurf eines Ausführungsgesetzes zum Reichsoiehseuchengesetz seitens der preußischen Regierung ist soweit gefördert worden, Saß mit seiner baldigen Einbringung in den Landtag gerechnet wer den kann. Der Erlaß solcher Gesetze durch die ein zelnen Bundesstaaten ergibt sich aus den Bestimmun- den der 88 2 und 67 des Reichsviehseuckengesctzcs, und die hier in Betracht kommenden Vorschriften sollen die Zuständigkeit der Behörden, das Verfahren, die Entschädigungen der Viehvcrluste und die Kosten regeln. Einzelne Bundesstaaten, wie Bauern und Baden, haben derartige Gesetze bereits erlassen. Die Aussührungsbestimmungen zum Reichsviehseuchen gesetz seitens des Bundesrats sind nach nicht fertig gestellt. Es kann dies erst geschehen, nachdem die Aeußerungen der dieserhalb befragten Organisationen (Landwirtschaft, Handel und Industrie) eingegangen sind, was etwa im April erwartet werden kann. Rach endgültiger Feststellung des Entwurfs der Aus- sllhrungsbestimmungen durch den Bundesrat kann das Inkrafttreten des Viehseuchengesetzes durch kaiserliche Verordnung bestimmt wer den. Nachdem dies geschehen ist, können noch gemäß 8 97 des Viehseuchengesetzes die einzelnen Bundes staaten weitere Aussührungsbestimmungen für ihren Bereich erlaßen. Es ist anzunehmen, daß die preußi sche Regierung von dieser gesetzlichen Befugnis Ge brauch machen und sollt)« Bestimmungen ausnrbeiten wird. * Eine Lektion an Dr. Heim. Die „Germania" veröffentlicht eine längere Zuschrift „von zuständiger Seite" (Fahr. o. Hertling?) Uber das Verhältnis des Zentrums zu Dr. Heim. Es werden darin di« Un- i stimmigkeiten bestätigt, die zwischen Heim und seiner Fraktion herrschen: der Grund sei. daß H. so wenig I in Berlin anwesend sei und sich den Fraktions- l>eschlüssen nicht unterordn«. Der Verfasser hofft, daß He. n in Zukunft fein reiches Wißen in zweck- entfprtumnder Unterordnung unter die Beschlüße der Mchchen nutzbar mache und nicht durch sein Ver halten den Gegnern Les Zentrums Anlaß zur Freude geb« — E siebt aber nicht so aus, als ob Heim große Anlage zu solch löbliä-er Unterwerfung habe. * Ei» Verfahren gegen Landrat Dr. Schröder zu Berleburg hat der Minister des Innern v. Dall witz abgelehnt! Wie der „Freis. Ztg." ge schrieben wird, soll Schröder dagegen versetzt wer den. „Er hat selbst fein Dersetzungsg«such eingereicht, natürlich weil es ihm nahegelegt ist, damit es nicht aussieht, als hätte die Ocssentlichkeir seinen Weggang veranlaßt. Das Gesuch soll schon genehmigt sein. Im übrigen hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungs verfahren eingeleitct." * Zwei interessante Reichotagekandidaturen. Es scheint, wie die ..Mil.-pol. Korresp." hört, beabsichtigt fein, in Saarbrücken dem nationalliberal-'n Führer Bassermann als Zentrumsver treter den Wirk!. Geheimen Kriegsrat a. D. Dr. jur. A. Romen entgegenzustellen, der lange dem Kriegsministcrium angehört hat, und dem. dank seiner lebhaften Kriegerv"reinstäligtcit. viele Sympa thien in dem wahltaktisch ganz eigenartig zusammen gesetzten Wahlkreise zusallen sollten. Die andere, nicht minder interessant« Kandidatur ist die des 1. Vize präsidenten des Abgeordnetenhauses, des G-ch. Justiz rats Dr. Porsch, der Aspirationen auf den Kreis Fraustadt-Lissa haben soll, und zwar, wi» man wissen will, mit den« besonderen Hintergedanken, für etwaige Fälle sich dem Zentrum als Reserve kandidat für einen Posten im Neichstagspräsidium empfohlen zu halten. * Das Urteil im Moabiter Krawailprozeß. Jetzt nach mehr als zwei Monaten ist das Urteil im ersten Moabiter Krawailprozeß, der vor der Strafkammer , unter Vorsitz des Landger.chtsdireltors Lieber statt- j fand und diese 6 Wochen beschäftigte, den Verurteilten i schriftlich zugeste.lt worden. Das Urteil umfaßt 208 Foliweiten und gibt eine ausführliche Darstel lung des Sachverhalts und der Gründe, die zur Ver urteilung der Anacklaoten geführt haben. Auch hier liest man wieder, das Gericht habe die Ueberzcugung aewonnen, daß nicht nur vereinzelte Mißgriffe von Beamten vorgekommen seien, sondern eine g rößere Anzahl von Fällen, insbesondere von grund losen Beleidigungen und vielfach von Schlägen. Uuslsnü. OelterrcjH-Ungarn. * Im ungarische» Abgeordnetenhaus erinnerte Polonyi an die Jubelfeier der Unab- hängigieit Italiens, an der fast alle Kultur völker teilnehmen. Ungarn habe einen beson deren Anlaß, dieser Feier nicht fern zu bleiben, da ja an der Ertämpfung der italienischen Unabhängigkeit auch ungarische Helden mitgewirkt hätten. Er ersuchte, dem Präsidium Vorschläge zu unterbreiten, in welcher Weife Ungarn an der Jubel feier teilnehmen solle. Der Präsident antwortete, er werde in der nächsten Sitzung diesbezügliche Vorschläge unterbreiten. (Lebhafter Beifall.) Hollo in'erpellierte wegen der Abrüstungs frage im Zusammenhangs mit der Rede Greys, die die gan^e öffentliche Meinung Ungarns freudig ausge nommen habe. Diese wünsche auch sehr, daß die Schritte, die in dieser Richtung getan »eien, baldigst von Erfolg gekrönt sein möchlen. Redner fragte den Ministerpräsidenten, ob cr geneigt sei, unter Milwiriung des Ministers des Aenßern geeig nete Schritte zu unternehmen, damit im Einver nehmen mit den Bundesgenossen eine weitere Stei gerung der Heeres- und Flottenausgnben hintan-c- halten werde. Sonntag. 19. RlSrz 1911. Rumänien. * Die »eae rumänische Kammer. Nach den nunmehr vorliegenden Wahlergebnissen zählt die Kammer 171 Konservative bzw. Mit glieder der Regierungspartei und 21 Oppositio nell e , der C e n a t 85 Mitglieder der Regierungs partei und 27 Oppositionelle. Die offiziöse „Epoce" glaubt zu wißen, daß der gestrige Ministerrat die Modalitäten beraten habe, wie die diplomatischen Beziehungen zu Griechenland wieder ausgenom men werden könnten, womit der einmütige Wunsch der Bevölkerung beider Länder sowie der Wunsch der europäischen Mächte in Erfüllung ginge. Türkei. * Zum Abschluß des Bagdadbah» - vertrage». Der Wortlaut des Vertrages über den Weiterbau der Lagdadbahn bis Bag dad gilt, wie schon gemeldet, als definitiv vereinbart, da der letzte Ministerrat den Vertragsentwurf endgültig genehmigt hat. Wie aus einer türkischen Quelle bekannt wurde, über nimmt die Vagdadbahn-Gesellschaft die Strecke El- Helif—Bagdad innerhalb fünf Jahre zu bauen. Die Gesellschaft verzichtet auf die frühere Klausel, daß der Ertrag der vierprozentigcn Zollerhöhung als Sicherheit für die Kilometcrgarantie dienen solle. Tie Garantie für die Streck« El-Helif—Bagdad wird aus den Uebcrschüssen der Einnahmen, die für die Garantie der bisherigen Strecke verpfändet waren, geleistet. Der Vertrag bedarf nickt erst der Geneh migung der Kammer, da er dem Schatze keine neuen Lasten auferlegt. — Entgegen dieser, von dem K. K. österreichischen Korrespondenzburcau verbreiteten Nachricht, die das Abkommen als vereinbart „gelten" läßt, erfährt das Wolfssche Telegraphische Bureau, daß die Vereinbarung noch nicht perfekt ist. Jeden falls dürfte sie aber nach den bisherigen Meldungen vor dem Abschlüße stehen. * Die schwebenden Fragen mit England. Nach „Jldam" soll der Minister des Aeußern. Risaat Pascha, der den Thronfolger aus seiner Reise nach London zu den Krönungsfeierlichleiten begleitet, mit Grey über die zwischen der Türkei und Eng land offenen Fragen, ins'oeiondere über die Bahn strecke von Bagdad nach dem Persischen Golf sowie über die K o w e i t fr a g e verhandeln. Risaat Pascha begleitet den Thronfolger auch auf seiner Nomreise, wobei er mit dem italienischen Minister des Aeußern die zwi chen der Türkei und Italien bestehenden Fragen besprechen wird. — Der Zustand des Sultans, der an Influenza erkrankt war, hat sich den Blättern zufolge seit gestern abend gebessert. * Weitere antirussische Demonstrationen chinesischer Studenten. Aus Tokio meldet die Petersburger Tclcgraphenaaentur: Die Erregung unter den hie sigen chinesischen Studenten dauert an. AmFrei- tag drang ein Haufe in das Gebäude der chinesischen Gesandtschaft, um gegen die angeblich provozierende Haltung Rußlands zu protestieren. Der Gesandte empfing die Studenten nicht, die nachts in der Ge sandtschaft blieben. Vereinigte Staaten. * Grubenarbeiterstreik in Ohio. Der Präsident der vereinigten Grubenarbeiter hat die Ar beitseinstellung in einem Distrikt von Ohio angeordnet. 10 000 Grubenarbeiter treten in den Ausstand. ' * Antijapanische Demonstration. Aus Denver wird gemeldet: Das Haus eines japanischen Kaufmanns ist am Freitag vom Pöbel ange griffen und zerstört worden. Dies ist die erste antijapanische Demonstration in Colorado. Leo Tolstois öriefe. Von Dr. S. Rabinowitz. (?!nct'k>rilck vcrbcuen.) Es ist ja nicht neu, den Briefwechsel von Künst lern zur Fundgrube von Details aus ihrem Leben und Schaffen zu machen, aber erst unserer Zeit ist es Vorbehalten geblieben, tieferschürfendc psychologisch« Untersuchungen auf der Korrespondenz des Künstlers aufzudauen. So erlebten wir die zahllosen Aus grabungen von Briesen unserer klassischen Dichter und Bildner, und jo gewöhnten wir uns auch daran, das Bild der eben von uns geschiedenen Zeitgenossen in ihren Briefen Wiedererstehen zu sehen. Da weckten Otto Erich Hartlebens Episteln wehmütige Erinnerungen an den toten Halkyonien, da ließ Dehmcls meisterhaft ausgewählte Sammlung di« ewige Iugendfrisckc Lilicncrons aufs neue uns ent- gegcnstürmen. lind jo erwarteten wir auch, als sie den Einsiedler von Iaßnaja Poljana zu Grabe trugen, dre Herausgabe seiner Briese, in gespannter Erwartung des seltsamen Gemäldes, das unserer harrte. Fürwahr, eine hochgespannte Erwartung muß uns erfüllen, wenn das Buch mit seiner lapidaren In schrift „Leo Tolstois Briefe 1818—1910"*) endlich vor uns liegt. Ist es doch ein gewaltiger Augenblick, da wir die Werkstatt dieses Titanen, wo er rang und schuf, betreten, da wir erkennen sollen, wie jene Vierte entstanden, die er, zeilenüberragend, in die Weltliteratur fügte, wie cr voll Liebe zu seinen Mcnschenbriidern ihnen den Weg zu weisen juchte, auf dem sie zum Frieden der Seele wandeln sollten. Werden aber diese Erwartungen erfüllt, beant wortet der Band wirklich alle Fragen, die sein An blick in uns hervorrief'.' Ja und nein. Denn die Auswahl st ungleichwertig. So zweckmäßig und ge schickt sie für das Verständnis der letzten, religions philosophischen Epocke Tolstois getroffen ist, bei den vorhcraehenden Zeitläuften weist sie manche Lücken aus. Die ersten Br'cse entstammen dem Jahre 1848, wo Tolstoi als 20jäbriger Student in Petersburg das tolle Leben vcs jungen russischen Adels führte. Aber merkwürdig früh treten schon jetzt in Stunden des Ekels und Ucberdrusses religiöse Betrachtungen auf. wie sie mehrere Briefe aus jener Zeit zeigen. Dieses Grübeln über den Sinn des Lebens, das zu Schlüßen sübrt wie: ..Ein« ewige Seligkeit ist hier *) (»esainrnelt uni» k-rnu-acgebcn von P. St. T-rgelciiko. ;Z. Nadnschnntow, Verlag, Berlin. ISO. PrciS 6 auf Erden unmöglich und die Leiden sind etwas Not wendiges ... Ich möchte beten und verfiel)« es nicht, ich möchte erkennen und wag« es nicht: In deinen Willen befehle ich mich, o Gott!" —das ist doch etwas mehr wie Katerphilosophie, und es ist um jo inter essanter, diesen Stimmungen schon so früh bei ihm zu begegnen, als sie in den folgenden Jahren der Arbeit auf seinem Gute und an seinen Romanen auch nicht einmal hervortreten. Da liegt eben ein Grundzug seines Charakters, jenes suchende Verlangen nach innerem Frieden, das sich hier zuerst in unklarem, weinerlichen Gestammel zeigt (er sagt selbst einmal: Ich war stets ein Heulpeter), während der Zeit be- sriedigender Arbeit und wachsenden Selbstvertrauens schwindet und dann erst am Ende, verstärkt, ge läutert und auf ein Ziel konzentriert wieder hervor bricht und das ganze Schaffen seines Alters be stimmt. Di« ebengenannte Epoche der Manncsjahre, da Tolstoi auf Iaßnaja Poljana ein arbeitsreiches Leben führte, ist in der Bricfsammlung. wie schon erwähnt, sehr kurz gekommen. Wir hören zwar einiges über seinen tstemütszustaud in der Zeit nach dem Krimkrieg. wir erfahren Details über sein Schulwerk aus Iaßnaja Poljana und von seiner ausgedehnten Liebcsarbcit für die notleidenden Bauern: doch sind die meisten Briefe an Verwandte und Freunde gerichtet und enthalten wenig Be achtenswertes. Dor allem wird man dem Heraus geber nicht verzeihen können, daß er uns säst kein Dokument aus der Zeit der Entstehung der beiden Romane „Krieg und Frieden" (1884—65) und „Anna Karenina" (1875) zugänglich gemacht hat. Sollte wirklich nichts aufzutreibcn gewesen sein? Es ist unmöglich, daß aus dcr Zeit der Arbeit an den beiden Werken, in denen sich die leidenschaftlichste Ueberzeugung von ter Notwendigkeit seiner Anklage mit höchster dichterischer Spannung und Gestaltungs kraft paart, nicht Brief« vorhanden seien, in denen der Dichter sich über sein Schaffen ansspricht. Dies ist in der Tat ein schwerer Fehler der Sammlung. Allerdings entschädigen die wertvollen Briese aus den letzten Jahren ein wenig für den entgangenen Ge nuß: aber das gänzliche Fehlen der genannten Schriftstücke ist doch sehr bedauerlich. Und nicht etwa nur für den Literarhistoriker oder den literarisch interessierten Laien. Mag auch das Seltsame an der Apostelgestalt Tolstois, der gewaltige sittliche Gehalt seiner Zverke und deren völkerumspannender Einfluß heute ein gut Teil de» Interesses in Anspruch nehmen — sein Weltruhm. das. was seinen Namen dahin tragen wird über die Zeiten, ruht auf seinen ge- wattigen Romanen, die mit zu den bedeutendsten ge hören, welche die Weltliteratur anfzuweisen hat. Noch zur zweiten Epoche seines Lebens gehört ein interessanter Brief. Er ist an Tolstois Hreund, den Lyriker A. A. Fet gerichtet und be leuchtet nicht nur sein Verhältnis zu einem bedeuten den seiner Zeitgenossen, sondern auch seine Auffassung von der Poesie. In Petersburg hatte Tolstoi als Student den um 10 Jahre älteren Turgenjew kennen gelernt und in seiner Ingendschwärmerei den schon berühmten „Romantiker der Seele" sehr in jein Herz geschlossen. Wie er später als Mann und Künstler über ihn urteilt, lehrt der folgende Brief: „Meine Meinung über den „Dunst"**) ist folgend«: Die Stärke einer Dichtung liegt vor allem in der Liebe: die Richtung dieser Kratt hängt aber vom Cha rakter ab; ohne die Macht der Liebe gibt es keine Poesie: eine falsch gerichtete Krajl, ein unangenehmer, schwacher Charakter des Dichters wirkt abstoßend. Im Dunst aber gibt es fast kein« Liebe zu irgendeiner Sack)«, und fast keine Poesie . . . und darum ist das Poetische an dieser Erzählung nur widerlich." Die Macht der Liebe — das also ist die Triebfeder bei allen großen und kleinen Arbeiten Tolstois ge wesen: und dieser Macht verdanken auch alle ihre P>t«sie ihren Kunstwerk. Selbst in der letzten Epoche seines Lebens, wo cr zugunsten des ethischen Gehalts seiner Schriften di« Schönheit der Form aufzugeben bereit war, erzielt er als berufener Dichter künstle rische Wirkungen. Di« Brief« aus dieser letzten Lebensspanne füllen zwei Drittel des Sammelbandes und jeder einzelne von ihnen ist interessant, obwohl sie im Grunde alle dasselbe enthalten nämlich . . . sein Glaubensbekenntnis. „Du sollst Gott deinen Herrn von ganzem Herzen lieben. Ich faße das als Gebot der Li«be zu meinem Gotte auf. zu dem, was in mir göttlich ist. Diese Liebe treibt zur Reinheit, zur Wahrung und Entwickelung des gött lichen Wesens in uns. Wenn man aber nach Gottes Gebot zu lelien versucht, ist der Erfolg eine Freude und der Mißerfolg ein Kummer für alle Leute, die jetzt und später leben." Hier liegt der Glaube an seine Mission klar vor uns. Er ist eins mit seinem Gotte, und er fühlt, daß dies eine Gnade ist, deren er allein unter Millionen teilhaftig ist. Diesen Mil lionen gegenüber fühlt er die Pflicht, ihnen zu helfen in ihrem Streben nach Gotteserkenntnis. So entstehen sein« Schriften, die der ganzen Menschheit seine Lehren künden sollen, so geht er selbst hin und zeigt ihnen, wie man leben muß. um zum Frieden der Seele zu gelangen. Hiervon geben nun auch die Briefe Zeugnis, meist an Redakteure oder Vereine im Ausland und an ringende Menschenbrüder. **) So,tat« Novelle von rurgensew lSS7. zweifelnd« Geistliche, Studenten und Bauern ge richtet, und in dem popularisierenden breiten Stil seiner sonstigen Schriften geschrieben. Einige Briefe aber enthält die Sammlung, die uns mehr jagen als alle anderen. Das sind diejenigen, welche cr an seine intimsten Freunde und Gesinnungsgenossen schrieb, denen er seine 2«ele restlos offenbaren könnt«. Hier zeigt sich das ganze innere Wesen seiner Welt anschauung, hier braucht er nicht gemeinverständlich zu schreiben, hier kann er zeigen, daß seine ständige Berufung auf Gott und Christus in seinen Schriften nur symbolisch, nicht wörtlich gemeint ist, hier ent hüllt er, wie auch schon in dem oben zitierten Brief, seine innere Auffassung von Gott und Leben und Glauben: „Warum hat Gott oder die Macht, die mich gesandt, es bewirkt, oder wozu haben sie es nötig, daß durch mich Gutes geschieht? . . . Das zu wißen, ist mir nicht gegeben, und hier tritt der Glaube ein: aber nicht der Glaube an die Dreieinigkeit, nicht an Mohamed, nicht an Christus, sogar nicht an einen Gott, sondern der Goitesglaube, der Glaube an dieses ewige Prinzip, das mich hierher gesandt hat. Ich glaub« an dieses Prinzip, glaub«, daß es gut und vernünftig ist und mir deswegen nicht Schlimmes von ihm passiert. Dieser Glaube ist notwendig, für ihn ist geradezu die Stätte vorbereitet und ohne ihn fühlt man siih unruhig und empfindet Weh. Und dieser Glaube ist um so stärker, je mehr wir den Willen deßen erfüllen, der uns gesandt hat." (An W. Rachmonow 1889.) Auch sonst bietet ja di« Sammlung Interessantes genug, von den Briefen über seine Stellung zum kirchlichen Christentum, von den«n, wo «r mit dem Militarismus abrcchnet bis zu dem Schreiben an seinen Zaren und „Bruder" Nikolaus — das wertvollste bleiben doch jene unver- schleiertcn Dokumente seines Glaubens, deßen Kon sequenzen seine Duldungs- und Liebcslchre auf der einen und die Forderung der Arbeit in und mit der Natur auf der anderen Seite sind. Und um dieser willen wollen wir dem Heraus gebcr Dank zollen, denn sie zeigen uns klarer als gelehrte Abhandlungen das Bild dieses seltensten Mannes. d«n unsere Zeit gebar und zaubern vor unsere Augen jenes herrliche Gemälde des Elias Repin, wie der Greis mit dem Antlitz voll Liebe und mahnendem Ernst, gemäß dem Bibelworte im Schweiße seines Angesichts Pflug und Egge durch die zähe russische Erde zwingt, mit wehendem Barte und in Bauerntracht schwer dahinschreitend über das weite Blachseld: Leo Tolstoi — das Gewißen der Menschheit.
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