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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 09.08.1912
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1912-08-09
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19120809021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1912080902
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1912080902
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1912
-
Monat
1912-08
- Tag 1912-08-09
-
Monat
1912-08
-
Jahr
1912
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Sette 2. Nr. 404. los. Jahrgang. ,Mir waren 16 Mann im Förderkorb unter der Leitung des technischen Direktors Genes. In allen Gängen liegt dichter weißer Qualm, die Gänge selbst sehen furchtbar aus. Die schweren Stempel waren wie Streichhölzer geknickt. Die Kohlenwagen sperren, au» den Gleisen geworfen, den Weg, die Schienen sind aus dem Boden gerissen. Die Lustzuführungsleitungcn sind vollständig breit« gedruckt. An einzelnen Stellen droht die Strecke einzustiirzcn. Weiter unten ist durch die Gewalt der Explosion bereits ein großer Teil der Strecke zu Bruch gegangen, wodurch vielen der Rückweg abgeschnitten wurde. Die Verunglückten werden mit dem Förderkord an den Schachteingang gebracht, und mit einem neuen Transport Schwerverwundeter stiegen wir wieder an die Oberfläche." Ucber die Ursache ürr Katastrophe erklärte einer der Letriedsführcr dem Berichterstatter der „Preß-Zentrale": Es ist möglich, daß «ine Gasquelle, wie dies schon häufiger oorgekommen ist, plötzlich freigeworden ist, und daß das Gas durch einen Sprengschuß entzündet wurde. Wir Haden bisher auf „Lothringen" noch keine Schlag wetterexplosion gehabt. Rur kleiner« Brände, die jedoch schnell wieder gelöscht werden konnten. Erft kürzlich fand ein kleinerer Brand im Revier des Steigers Middelmann statt, wo beute die Kata strophe zum Ausbruch kam. Di« Zahl der Belegschaft der betroffenen Reviere beträgt zusammen 240 Mann. Die Art der Schlagwetter-Katastrophe wird, da sie sich auf zwei Reviere ausdehnte, in fach männischen Kreisen als außerordent lich schwer bezeichnet. Bei Sachverständigen hat die Explosion der Wetter sehr überrascht, da die Srcherheitsmaßregeln der aus das modernste eingerichteten Zechen allen Anforderungen bisher vollauf genügt haben und gerade di« Zeche .Lothringen" von derartigen Unglücksfällen bisher verschont geblieben ist. Ueber die Ursache läßt sich bisher nichts Genaues feststellen. Es wird ange nommen, daß di« Explosion bei dem vorzeitigen Abtun eines Sprengschusses auf Sohle vier sich er eignet hat, wodurch ein sogenannter „Bläser" ent zündet wurde. Durch die Explosion wurden die Schächte 1 und 2 sofort in Brand gesetzt. Von der Katastrophe wurden im ganzen drei Reviere betroffen, am schwersten das des getöteten Steigers Middelmann. Die mit Erfolg fortschreitenden Rettungsarbeiten werden durch das im Innern des Schachtes wütende Feuer sehr er schwert. Die Rettungskolonnen stehen unter der Leitung des technischen Direktors Gerres, der an der Jahrhundertfeier bei Krupp in Essen teilnahm und telephonisch an die Unfallstelle abberufen wurde. 128 Tote. Bochum, 9. August. Die Liste der bei der gest rige» Grubenkatastrophe ums Leben Gekommenen hat in den Abendstunden eine surchtbareErhöhung erfahren. Bis um 8 Uhr waren bereits 167 Leichen zutage gebracht worden. Um 16!^ Uhr abends wurde die niederschmetternde Zahl der Toten mit 128 ange Leipziger Tageblatt ftbendau»sad» geben. Bi» jetzt sind 11b Leichen zutage gefördert. 12 Bergleute befinden sich noch aus der dritten Sohle von jeder Rettung abgeschnitte», »eil die Zwischenstreck« inBruchgegangenist. Meh. rere kleinere Brand, wurden nach verhältnismäßig kurzer Zeit gelöscht. Die Zerstörnng in der Grube ist nur gering. Di« amtlichen Meldungen wissen btaher nur von 103 Toten zu berichten. Man vermutet, daß der Kaiser im Lause de» heutigen Tages der Zeche .Lothringen" einen Besuch abstatten wird. An der Unglücksstätte. Bochum, 9. August. Auf dem Zcchenplatz das alte, oft gesehene Bild: Bor den geschlossenen Toren, an denen Sicherheitsinannjchaftcn für Ordnung sorgen, in dumpfem Schweigen eine unübersehbare Menge von Männern, Frauen und Kindern, manche weinenden Auges. Bor dem Schachteingang die Ge fährte zu Verwundetentransporten. Sechs, acht, zehn in einer Front. Die Rachrichten über den Gang des Rettuiigswertes, an dem sich außer der Lothringer Mannschaft die Rettungskolonnen der Rachbarzechen beteiligen, dringen nur spärlich an die Oberwelt. In der vierten Nachmittagsstunde öffnet der düstere Schacht seinen Mund. Totenparadc. Auf Bahren mit eisernen Griffen, die von vier Mann der Sani tätskolonne getragen werden, ziehen die Opfer der Katastrophe vorüber. Hier und da läßt das grobe Wetterluch, mit dem di« Leichen bedeckt sind, einen Blick auf die Toten frei. Eine verbrannte Brust, ein Kopf, von Blut und Schwaden schwarz gesengt, eine verstümmelte Hand, die Haut von der Hitze geborsten, werden auf Augenblicke sichtbar. Alle Leichen sind entsetzlich zugerichtet. Gegen ö Uhr verbreitet sich auf dem Zechenplatz die Nachricht, daß die Rettungs mannschaft in der Nähe des Scizacytes auf einen HügelvonzwanzigLeichen gestoßen sei. Eine Stund« später wird dekanntgegoben, daß man „lei der" mit fünfzig bis sechzig Toten zu rechnen haben werde, und nun weiß man, daß die Zahl der großen Katastrophen des Ruhrgebietes um ein« der größten vermehrt worden ist. Man zählt die Bahren, die vor. überziehen, sechs, sieben, acht, zehn, zwanzig, fünfund zwanzig, die Reihe will kein Ende nehmen. Einmal stehen die Träger auf der Schwelle des Maschinenhauses still. Ein Mann der Rettungs kolonne setzt das Höhrrohr leicht auf den Verunglück ten und hört mit zurückgehaltenem Atem. Nur ein'ge Augenblicke, dann winkt er den Kameraden, die Hände fassen an die eisernen Griffe, und der Zug machte kehrt zur Lampenbud«, dem Raum für die Verwundeten. Dort wird man mit den zahlreich vor handenen Sauerstoffapparaten versuchen, das schwache Leben, das im schon erstarrten Körper noch vorhan den ist, wieder anzufachen. Bei manchem der Regungs losen mühte man sich eine ganze Stunde und noch mehr, um schließlich von dem Wer!« abzustehen. In anderen Fällen hat die Sanitätsmannschaft die Ge nugtuung, vom Finger des Todes Gezeichnete zum Leben zurückrufen zu können. Uber alle Mühe und Sorge der selbstlosen Retter und Helfer sind doch nur winzig und gering gegenüber dem Zerstörungswerk, das im Schoße der Erde in wenigen Minuten voll endet wurde. Als die Dunkelheit der Nacht herein brach, lagen über hundert tote Bergleute auf der Wahlstatt. Teilnahme ües Kallers. Essen, 9. August. Die Kunde von der furchtbaren Schlagwetterexplosion auf Zeche „Lothringen" wurde erst in den späten Nachmittagsstunden in Essen be kannt. Es geht, dem „B. T." zufolge, das Gerücht, daß man absichtlich di« Nachricht von der Katastrophe nicht hat weitergoben lassen, um eine Störung der Festlichkeiten auf den Kruppschen Werken zu vermei den. Zur selben Stunde, als der Kaiser in Essen vom Oberbürgermeister und den Behörden der Stadt vor dem Gebäude des Bergbaulichen Vereins empfangen und begrüßt wurde, und während Tausende von Hoch rufen ihren Widerhall fanden, hat derTod, nur eine halbe Stunde von der Stätte der Festlichkeit entfernt, eine reiche Ernt« gehalten. Die Nachricht von dem Unglück traf auf Villa Hügel in dem Augenblick ein, als man bei der Tafel saß. Der Kaiser und die übrigen Gäste waren durch die Bot schaft tief erschüttert. Auf Veranlassung des Kaisers fuhr der Handclsminister Sydow sofort im Automobil nach Gehrte und ließ sich dort über den Umfang des Unglücks und über die Nettungsarbeitcn Bericht er statten. Nach mehrstündigem Aufenthalt auf Zeche „Lothringen" verließ der Minister bei Eintritt der Dunkelheit die Zeche und begab sich nach Villa Hügel zurück, um dem Kaiser Bericht zu erstatten. Der Kaiser hatte sich inzwischen schon telephonisch mit der Zeche „Lothringen" in Verbindung setzen las sen und ließ sich von Viertel- zu Viertel stunde Einzelheiten berichten. Bochum, 9. August. Im Auftrage des Kaisers besuchten abends der Handclsminister und de: Obcrpräsidcnt von Westfalen, Prinz von Ratibor und Corvey in Begleitung des Berghauptmanns die Unglückszcche. Die Herren begaben sich von dort aus zum Krankenhause „Bcrgmannsheil", um den Ver letzten einen Besuch abzustattcn und ihnen und ihren Angehörigen das Mitgefühl des Kaisers an ihrem Unglück zum Ausdruck zu bringen. Man rechnet damit, daß der Kaiser im Laufe des heu tigen Tages der Zeche „Lothringen" persön lich einen Besuch ab stattet. Der Polizei präsident von Bochum ist nach Essen zurückgekehrt, um dem an der Kruppfeier teilnehmenden Minister des Innern Vortrag über das Unglück zu halten, Deutsches Reich. Ein deutscher Polizeikongreß. Berlin, 9. August. Wie verlautet, hat die preu ßische Regierung bei den anderen Bundesstaaten oie Abhaltung eines oeutschen Polizeikongresses ange regt. Zur Vorbereitung für diesen Kongreß haben seit Lein Frühjahr Verhandlungen zwilchen Ver tretern der Bundesstaaten geschwebt über eine ge plante einheitliche Gestaltung der Kriminalpolizei. Es handelt sich in erster Linie um das Jdentifi- s. au,«» wir. zierungsoerfahren und um das Nach, richtenwesen. Verbesserungen in den Dienstzeiten der Betriebs, beamten der deutschen Eisenbahnen. Berlin, 9. August. Zwischen dem Reichseisenbahn amt und den Lerwaltungen sämtlicher deutschen Staatseisenbahncn schweben zurzeit Verhandlungen über Verbesserungen der Dienst- und Ruhezeiten der Eisenbahn-Betriebsbeamten. Sowohl im Reichstag wie im preußischen Abgeordnetenhause sind eine ganze Reih« von Wünschen zur Verbesserung der dienst- licken Verhältnisse der Angestellten bei oen deutschen Eisrnbahnverwaltungen den zuständigen Stellen unterbreitet worden. Sie beziehen sich in erster Linie auf ein« Verkürzung der Dien st schichten, aus die Gewährung längerer Ruhezeiten und auf eine Höhe».' Bewertung des Nacht dienstes. Zur Beseitigung des Wagenmangels aus den deutschen Eisenbahnen. Berlin, 9. August. Wie verlautet, ist zur Besei tigung des Wageninangels, der im vorigen Jahre durch die außergewöhnlichen Witterungsverhällnisse eingetreten war, zwischen den deutschen Staatsbahnen vereinbart, daß sie im laufenden Jahr eine Vermeh rung oes Wagenparks um 5 Proz. oes Bestandes e.n- treten lassen. Auf dies« Welse wird am 1. Oktober dieses Jahres der Bestand der Güterwagen auf den deutschen Staatsbahnen um 28 400 Wagen größer sein als zur gleichen Zeit des Vorjahres. Portofreiheit für Soldatenpakete. Berlin, 9. August. Wie die Korrespondenz „Heer und Flotte" erfährt, ist die Reichspostverwaltung gegenwärtig damit beschäftigt, zu prüfen, ob es mög lich ist, einem vom Reichstage wiederholt aus gesprochenen Wunsche, auf Einführung der Porto- srerheit für Soldatenpakete zu entsprechen. 2m letzten Jahre hatte der Reichstag seine Wünsche so weit eingeschränkt, daß er Portofreiheit für Post pakete bis zu 5 lcx an Soldaten im Verkehr mit ihren Angehörigen forderte. Ueber diese Frage schweben nun Erwägungen zwischen dem Reichspost amt und dem Kriegsministerium, von denen man hoffen darf, daß sie in einem der Resolution des Reichstages günstigen Sinne enden werden. Gegen wärtig beträgt die Gebühr für Soldatenpakete für 3 Irg 20 Zu diesem ermäßigten Satz werden jähr lich über 5 Millionen Soldatenpakete befördert. ÄUÄSNÜ. Frankreich. Französischer Besuch in Deutschland. Paris. 9. August. Eine Abordnung von 30 Mit gliedern der Französischen Gesellschaft für Kunst in der Schule, bestehend aus Künst lern, Kunsthandwerkern und Schuldirektoren, ist im Begriff, nach Deutschland zu reisen, um die Fach schulen und Kunstgewerbemuseen der be deutendsten deutschen Städte zu besichtigen. Die Reisegesellschaft ist durch die Regierung bei den fran zösischen Konsulaten beglaubigt. England. Ersatzwahl für das Unterhaus. London, 9. August. Bei der Ersatzwahl zum Unterhaus im Wahlkreis Nord West-Manchester für den zurückgetretencn Liberalen Sir George Kemp Winkel fehlte, in den sie ihr Glück tragen konnten. Da war der Mönchs Wellem, der jetzt in dem Zimmer über ihm lag, auf ihn zugctreten und hatte ge meint: „Wie wär's, Pitter, ich Han kein Spaß mehr da heim. Wellstu zu meiner Mutter ziehn un mit Leiner Kattrin ihr Atter beschützen? Ihr braucht kein Miet zu zahlen — nur haltet oat Hus in Ordnung und gewt auf Lie einsame Frau acht —" Ob er wollt und ob oie Kattrin wollte? Freilich, La war manche Not mit den krausen Launen der Mönchin gewesen und manche knirschende Unter werfung unter ihr Harros Wort — aber schließlich: die Launen gingen vorüber und das Wort verhallte, und es würd' auch einmal die Zeit kommen, wo die Launen schwiegen uno oas Wort nicht mehr das Haus Lurchschnllte. Und Lie Zeit kam — kam schneller als er s und die Kattrin gedacht hätten — eines Tages trugen sie die alte Frau an den Wassern des Rheines vorbei auf den stillen Friedhof hinaus, um den oie Choräle des Stromes verbrausen . Wenn nun oer Wellem auch abging? Hm, dann — dann würd' am Ende das Lehen zu einem Eigen besitz? Würde er mit dem Haus Herr über das Land, das sich hinter ihm in die Felderweiten hineinschob, die gen Düsseldorf liefen. „Wenn dä oa dooen —" meinte er zu seinem 'ILeibe, oas ruft in diesem Augenblicke über die Schwelle stolperte und machte das Zeichen des Kreuzes — „Versündig dich nicht, Mann — et geht ja auch so —" „Dat ja — äwer dat ander« wär schöner —" „Bst, wenn dich einer hören dät —" Uno oie Frau kam näher auf ihn zu, setzte sich neben ihn und dann tuschelten sie und schmiedeten Pläne und bauten Häuser und Hoffnungen über Indes lag der Kranke, um den die Rede ging, in den weichen Daunen uno phantasierte. Er gab Kam manvcs und mischte dcuffche Laute in englische und ..Goddam" flinH's, „stopp, sciZ ich — stopp. Will der Esel auf die oandbank aussahren?" Dann wieder kamen «in paar unartikulierte Laute aus den Kissen, die konnten ebensogut japanischen wie malayischen Ursprungs fein. Dabei spielten seine mageren Finger in einem nervösen Hin und Her über di« weißen Oberbetten. Plötzlich zuckte er zusammen und fuhr in die Höhe, und sein pergamentgelbes Gesicht, in das oas tückische Fieber tiefe Runen gezogen hatte, spannte Len Aus druck. War ein Kanonenschuß rn der Weile ver donnert? Deutlich vernahm man ein Bersten und Krachen — der Kranke schob die roten Vorhänge bei seite. die sie vor die kleinen Fenster gehängt hatten, die in viele zierliche Quadrate aufgelöst waren, und spähte in den fallenden Mittag hinaus. Jaja — da drunten — vor den schmalen Wiesen fläche» und den schmaleren Kiesstrersen — da rollte oer Strom seine Wasser vorüber, der seine Jugend be- schirmt und den Tarendrang seiner JünAingsiahre geweckt hatte. Der Strom, 'oer immerdar eine Unrast in oie Sehnsucht seines Blutes getragen hatte, ob er mit der Xavi>rnri-»w p^nk-rals itaiinn» über Genua uno Neapel über Port Sato und Suez nach Bombay gefahren war oder mit oer kaeikio Hlrrft 8t^Lin- 8bip f>rnpnLM7 zwischen Franzisko und Jokohanra den Stillen Ozean durchfurcht hatte. In Pckoong und Surabaja war er heimisch geworden wie in Honolulu und Auckland — die Wunoer fremder Welten waren ihm offenbar geworden, wie Lie Wut fremder Völker stämme und die Slutleidenschaft südlicher Schönen — aber immer wieder, und meist dann, wenn er glaubte, irgenoeinen Gipfel des Genusses erklommen zu haben, ftel seine Spannkraft in sich zusammen, und ein« müde Dämmerung trug ihn in oas ferne Land, Lurch das die Träume seiner Kindheit gingen, wie die lebensklugen Lehren seiner Mutter und die pol ternde Gutmütigkeit seines Vaters. Und dann wuroen sie wieder lebendig vor ihm: die schmalen verschlissenen Fijcherkaten am Rhein in denen ein solch genügsamer und gesunder Menschen schlag dem schweren Werte des langen Tages nach ging uno dem schwereren der sturmgepeitschten Nacht, wie er ihn anderswo niemals angetroffen hatte: wur den sie wieder lebenoia vor ihm: die hohen Türme, die in Neuß über der Landschaft standen, vernahm er die Elockentlänge, di« das alte Münster am Samstag abend und Sonntag vormittag über die Wiesen und Weiden bis an oie Erlen und das Röbricht am Strom rand trugen; wurden sie wieder lebendig vor ihm: die schlanken Umrisse von St. Lamberti uno der alten Schloßreste, die einst die sesteumklungenc Herrlichkeit der bergischen Herzöge gesehen hatten. Ach ja! Neuß uito Düsseldorf — Kirmes und Fasteloveno — schützenfeste und Kasernenglück — all das klang Erinnerungen in seine Sehnsucht — die Kirmes mit ihren Orgeln und Karussells, der Fastel- ooend mit seinem heimlichen Suchen und Finden im Schutz der vergeuden Maske — Lie Schützenfeste mit ihrem Büchsenzauber und den Krönungszeremonien — das Kaserncnglück — das er empfunden hatte, trotz des strengen Dienstes und des harten Drilles auf dem Exerzierplatz neben der Königsallee — das er emp funden hatte, wenn er am freien Sonntag in der schmucken Extrauniform über Bilk gen Hamm hinaus gepilgert war; Las er empfunden hatte, allein schon beim Klang« seiner Regimcntsnummer: „39" — das war der Sturm auf Spickern, die umschloß ein« Klangfolge von Blur und Eisen Heimat — Heimat — Fünfzehn Jahre fast hatte «r sie gelassen uno nach ihr gehungert, hatte sie ge mieden und täglich fast gesucht — Heimat, Heimat! Das war Jugend und Glaube — Glaube und Hoffen und Hoffen und Liebe. Er ließ die roten Vorhänge wieder fallen und sank in die weichen Daunen zurück — das war Liebe und Lug — Lug, gemeiner, Lug! Hier war er aufgewachsen und nebenan das Lies — sie waren Hano in Hand zum erstenmal in die reckenniedrige Dorfschule gegangen und hatten später die erste Kommunion gemeinsam genommen. Und wenn das Mädchen eines Schutzes bedurfte, stand er neben ihm und trug gern die Beulen heim, dl« er im schnellen Kampfe, da die Wucht der Fäuste entschied, reichlich meist entgegengenommen hatte, senn durch weg spielte «r seine Parti« gegen drei, vier Partner. Drunten, wo da» Schils gern heimlichen Unterschlupf gewährte, hatten sie sich zum ersten Male geküßt, als das unerforschliche Geheimnis des Blutes sie gegen einander drängte. Don da ab stand es wi« das Wort der heiligen Schrift, in jedem Buchstaben unverrückbar und himmlischer Klarheit voll in ihren Herzen einge schrieben: Du und ich und ich und du, wir wollen un» lieben immerzu und treu uns bleiben, ob «ine Welt uns trennt, solang' deine Heimat die meine nennt — in jedem Buchstaben unverrückbar und kimmlischer Klarheft voll, bis das Licht starb und Dunkel ward — bis Elternwort sie an einen andern bans und Kin- despflicht sich gehorsam fügte — an,einen andern, der reifer war als er und angesehener bei oen Män nern des Dorfes, in oeren Rat er saß, und taler schwerer. — Das war just zu der Zett, als er den troddelbewchrten Stock schwang und mit der Parole „Reserve hat Ruh " heimwärts steuerte. Nun wollte er zu Schiff den Rhein hinunter: ein paar Jahre zwischen Ruhrort und Rotterdam auf den Hanielschen Kohlenbunkern sichren, um oann als Steuermann und später als Käpten selbständig die breite wellen schwere Schiffsstraß« zu durchmessen — die Lies an Boro und einen flachsblonden Bengel, der am Abend, wenn oer voll« Kahn langsam dis sicher« Fahrt rhernab nahm, in die ttagendjüßen Töne seiner lreder- reichen Harmonika hinernkrahen und hrneinjauchzen würoe, indes der volle Chor der glucksenden und rollenden Wasser, Lie um die starken Planken spül ten, die rhythmensichere Begleitung sang Da war er aus und davongezogen kein Freundes wort und kein Mutterftehen hielt iyn, und er hatte ein Weh und seine Wut in die Welt getragen, da i« am fernsten war. Meere hatte er gesehen, wie ie sonst nur in oen Märchen brausten, und Länder, die vom Mond gefallen waren, er wenigstens hatte bislang nie ihren Namen gewußt, viel weniger ihre Lage. Aber ob er sich auch all Lie Jahre über wider die Heimat gesträubt und oie Sehnsucht nach ihr nieder gerungen hatte, mit einemmal stand sie vor ihm in ihrer ganzen überwältigenden Nacktheit, dem locken werbenden Zauber aus Kinoheitstagen und Jüng lingsjahren, dem Schottenzwang und dem Mutterruf, dem heimlichen Leid und der falschen Lieb«, und er heuerte ab und fuhr zum erstenmal, seit er wußte, als Passagier durch Wogendrang und Wellenbraus über die versunkene Pracht seiner Atlantis seiner Heimat entgegen, in der er die Wunder eines neuen Eoen suchen wollte — Wieder durchschnitt ein dumpfer Ton die Atmo sphäre über dem Rhein, der Kranke horchte auf, uno wieder klang es wie Bersten und Krachen. Jetzt, das war ein tiefer Atemzug gewesen, der Frühling hatte den Winter geschlagen, das Eis, oas den Strom in Banden gehalten hatte, war geborsten, und lastbefreit jagten oie neuer Lebenskraft vollen Wasser dem fer nen Meere zu — Das Fieb«r stieg, er fühlte es bei jedom Herz schlag schier, der Schweiß trat ihm in dicken Tropfen vor die Stirn: er wollte schreien, aber der Ton blieb ihm in der Kehle stecken. Luft, Luft und Licht, Licht. Mir einer letzten Kraftanstrengung riß er die roten Vorhänge herunter, daß das Holz, das sie hielt, auf den Boden polterte. Und in demselben Augenblick stand die Kammer im Purpur der scheidenden Abend- lonne. Da ging die Klinke, leise, zage. Er blickte auf, und in die Glut de» fallenden Lichtes trat ein blon- oer Scheitel. Er richtete sich in den zerwühlten Kissen auf und streckte wie abwehrend beide Hände nach der feinen Gestalt aus, die noch immer im Spalt der Türöffnung hielt — und „Lies, Lies" ächzte seine wehe Brust der nunmehr Eintretenden entgegen — „Lres. Lies" — Uno die Frau, die bei seinen Worten zu schwanken begonnen hatte, wurde stark, und ibr Gang ward sicher, al» sie sein welkes Gesicht gesehen und d«n Nemden Glanz seiner Augen gespürt hatte. „Ja — ich, Wellem — ich, — ich hörte, dat du heimgekommen und dat du krank bes — da wollt' — da moßt' ich zu dir — Er faßt« ihre Hand, und „Dank, Dank murmelte er, und seine Blicke bohrten sich in ihre Züge, als wollte er aus ihnen herauslesen, was ihr an Lust und Leid beschieden gewesen war. Und er nickte nur, als er die herben Linien um den fest zusammen gezogenen Mund sah und di« vielen krausen Schrift zeichen, die um khre Augen gingen. „Du auch? Du auch!" sagte er und sank wieder in di« Kissen zurück. Aber ihre Hand behielt en: in seiner Linken. „Nur Mut, Wellem", flüsterte sie. „nur Mut, oat Fieber geht vorüber und dann — dann — wird alles wieder in die Reih' kommen." Er blickte auf ihre Witwentracht, und ein heimliches Feuer brannte in seinen Augen — „Du bes —?" Sie nickte und konnte es nicht hindern, daß ihr eine jähe Röte über Hals und Wangen floß. Er schüttelte unmerk- lich schier den Kopf — „Dat's zu spät — dat's zu spät — Und nach einer Weile fuhr er fort: „Dat Fi«b«r — in Hamburg — als ich ankam, mußt ich — gleich int Lazarett — Malaria oder so wat — ich weiß »ich, aus welchem Sumpf Lat es — un nu, nu, pfeift et auch durch die Lungen unL sticht int Herz. Sic woll ten mech partut nich weglosse — mit Ach un Krach Han s« mich hierher befördert — ech hatt jo Geld — viel Geld verdient — und dann nohm ech mech zesomme — aber nu — nun es et viel schlemmer als —." Der Schweiß floß ihm stromweis« über di« Backen. Sie nahm ihr Taschentuch und trocknete seine Not. Er deutete auf das Fenster. „Lies — ech bitt dech — mach ot op — Sie wehrte erschrocken ab. „Um Gottes willen, Wellem — dat wär der Tod!" Er lächelte leicht, und seine Mundwinkel verzogen sich dabei zu einer Fratze. „Der Tod —? oer ist als in der Kammer hier —. Ech bitt dech — ech will noch einmal uns« Heimat luft — unse Hcimatlust atmen. Lies, komm; richt mir die Kissen hoch, so ich dank dir und nu mach dat Fenster op — so ich dank dir noch eins — und nu setz dich neben mich auf dat Bett un — un gib mir dein Hand. Weit — so —." Drunten schossen die eisbefreiten Wasser vorbei: oas war ein Gurgeln und Glucksen; ein Jagen und Fassen — schneller und immer schneller purzelten die Wellen talab — dann und wann steuerten mächtige Schollen im Strome, drehten sich und kreisten, schlugen widereinander und barsten oder überschoben sich. Der Purpur der Sonne blitzte in tausend Funken aus dem Kristall, grub Furchen in oas Wasser und baute Brücken und Stege zwischen hüben und drüben. Und ein Siegesjubel braust« aus sein Rhein zu den Ufern hin, über die der erste grüne Hauch des Lenzes kroch, schon trugen die Weiden drunten die ersten prallen Knospen, und aus den feuchten Wiesengründen floß der erste Ruch junger Veilchen in die österliche» Lande. Jetzt klangen von Neuß her die Abendglocken über den Strom und riefen die Frommen in Stadt und Dorf zur Andacht, da faltete Wellem über der Hand der Jugendgeliebten seine zuckenden Finger wie zum Gebet. Nock einmal suchten seine dunkelnden Augen über dem psalmodierenden Rheinstrom die Weite seiner Landschaft, dann lasteten sie sich an der Ge stalt der Lies empor, bis sie die schweren heißen Tränen fanden, die ihr über di« bleichen Wangen flössen. „Lies", — murmelte er noch einipal — „Lies" — uns Heimat — unse Rhein. . . Da brach die straffe Haltung des jungen Weibes über der Leiche Les Jugendfreundes zusammen — und in sein webes Schluckzen klangen schwächer und immer schwächer die Glocken von St. Quirin — voller und immer voller aber brauste vor den weitgeöffneten Fenstern die ewig-ungebrochene Kraft der aufbeqehr«nd-n Wasser, und stärker und immer stärker floß o«r erst« Ruch der jungen Lenzveilchen in die nunmehr nacht- d.:nkle Stube. ...
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