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Bezugs.Preis Illi L«Ip»ia und Lororle durch «ns«r« Träa«r und Eordtleur« 2mal täglich in» hau» gebracht- SV PI. monatl., L7V Mt. »tertelläbrl Ber »nlern IZsttalen u. Nn» nahmestellen adaeholt 7S PI. monatl, 22SMI. olerteljährl. Durch die Polt; Innerhalb Deullchlanv» und der deutlchen Kolonien vlertrliährl. S.b» Bit., mouatl. 1.20 Mk. auolchl. PostbeileUarid Ferner in Beigien. Dänemark, den Donauliauten, Italien. Luiemdura. Kiederland«. Nor» wegen, Leslerreich - Ungarn, Rukland, Schweden, Schweij u Spanien. In allen übrigen Staaten nur direkt durch di« TeIchäst»steU« de» Blatte» erhältlich. Da» Uetpziger Tageblatt erlchrint 2mal täglich. Sonn» u. Feiertag» nur morgen». Bdonnem«nt»<Annahmr 2»hann>»gali« 8, d«i unteren Trägern. Filialen. Spediteuren und BnnahmelleUen, joane Pogämtern und Briestragern. <ktai«lo«rtaut»pret» 10 Ps. Abend-Ausgabe. Ucip)igcr Tllgcblatt t 14«S2 lNachtanIchlu» A *-»Uckckck»^ i N K92 <"°chk°ulchl°li) Tcl.-Änschl 14«S3 Tel.-Änschl I4IÄ3 1 14 894 1 14 694 Amtsblatt -es Rates «n- -es Nolizeiamtes -er Ltavt Leipzig. AnzeigenPrkiS für Inlerat« au» Ueipitg und Umg«b«»> di« llpaltt,«P«»ttteil« 2liPI..d,««»klam». ,«il« s Pkr »on au»wärt» zu Pt. P«klam«n 1^10 Mk. Ini«rat« von Behörden »m amt» lichen Teil di« Petttjetl» !i» PI S«Ichäft»ant«igen mit Plagoorlchrilt«» im Brett« «rhäht Rabatt nach Takts. B«ilaoea«dilhr Letamt» auslag« S Mk. p Tautend »rkl Postgebühr. Tetldrilage höo«r. F«ftert«ilt, Bulträa« könn«n ni<bt »urück» gezogen ««rden. Für da» tkrlchetnen an bestimmten Tagen und Plänen wird keing Larantt« iid«rnomm«n. >n,«Ig«n.Bnnadm«' Sonauntogall« M bet tämiUchen Ftual«» u. oll«» Mnnonc«V Llpeditionen d«» I» and B,»lande». Druck un» Neri«» »»» Flicker L Kürst«» 2nhad«r Paul Kürst«». >k«daNt«n und S«IckIIt»ft«ll»r Iohannirgalt« L Haupt-Filiale Dr«»d«a: Eectlraftr ch 1 (l«l«phon <8211 Nr. 39. Monisg, gen 22. Januar lSl2. 106. Jahrgang. Dle vorliegende Ansgade irmfasik 8 Leuen. Oss Wichtigste. * Die Abdankung der M a n d s ch u -- dynastie steht unmittelbar bevor. (S. des. Artikel.) * Gerüchtweise verlautet, daß ein M andschu- prinz der Urheber des Attentats ge gen Auanschikai gewesen ist. (S. bes. Art.) * Von verschiedenen Seiten wird die An- ola-Frage wieder aufgerollt. (S. bes. rtikel.) * Die Lage in Lawrence ist infolge des Streiks ernst. (S. Pol. Naa-r.) Türkischer Kehraus. Die Kammer ist aufgelöst! Fortgeschickt von denen, die sie berruen hatten! War es wieder Komödie? Denn darüber sind wohl längst die geschichtlichen Akten geschlossen, daß das Debül des türkischen Par lamentarismus im Jahre 1877 Komödie gewe en ist. Um dem Drängen der Konstantinopeler Kon ferenz sich zu entziehen, eine bulgarische Reform aktion unter Kontrolle der Mächte mit Fug versagen zu können, hatte Sultan Abdul Hamid 1> im Dezember 1876 die „Charte Midhat" unterzeichnet mit ihren der französischen Verfassung nachgeäfften Unmöglich keiten von beschränktem Auslösungsrechte des Monarchen usw. Der türkische Standpunkt hatte ja so guten Schein: das ohnehin schon seit einem Jahrzehnt verhätschelte Bulgarien aufs neue zu bevorzugen, war eine Unge ¬ rechtigkeit gegen die anderen Provinzen. Leider konnte der Einwand der Mächte nicht schlagend widerlegt werden, daß bessere Reformen auf dem Papier weniger taugen als schlechtere, bei denen andere Leute dafür sorgen, daß sie nicht auf dem Papiere stehen bleiben. Und da die schöne Ver fassung gleich wieder „suspendiert" wurde, als es „keinen Zweck mehr hatte", weil Rußland doch zum Kriege geschritten war, so ist der Verdacht nur allzu scheinbar geworden, daß sie eigentlich von vornherein für einen Kuriositäten-Schrein bestimmt war. Die ähnlichen Umstände aber des Jahres 1908. in dem das vergilbte Papier aus der Registrarur wieder hervorgeholt wurde, während abermals die Mächte Sonderreformen, für Mazedonien diesmal, for derten. möchte einen ähnlichen Argwohn gegen die damaligen Macher aufkommen lassen. Und doch würde man ihnen wahrscheinlich un recht tun. Für Abdul Hamids rasche Einwilligung mag der Wunsch, sich die Neformmächte vom Halse zu schaffen, mitbestimmend gewesen sein. Aber die Ausbrüche tödlichen Haßes zwischen ihm und der Komiteepartei, deren Zeuge das nächste Frühjahr wurde, beweisen zu deutlich, daß die Erhebung der Offiziere gegen ihn kein abgekartetes Spiel war. Neben dem Hauptzwecke, dem Sturze der Sultans- Autokratie, hatte die gleichzeitige Beschwichtigung der mazedonischen Frage nur die Bedeutung eines allerdings beiden Streitenden gleich erwünschten sekundären Ergebnisses. Der Mißerfolg des türkischen Verfassungslebens kommt dem „Komitee für Einbeit und Fortschritt" gewiß unerwünscht. Soweit aber von seiner Mit schuld an dem Mißlingen gesprochen werden kann, bezieht sie sich zunächst auf die allerdings seinem Nationalgesühl Ehre machende Bevorzugung der Ncichs- einbeit vor dem Fortschritte. Das heißt, das Komitee wollte eine Verschmelzung der zahlreichen getrennten Nationalitäten in einem gemein-ottomanischen Staats gedanken dem Ausbaue der politischen Freiheiten vorausgehen laßen. Es übertrug den für national geschloßene Staaten selbstverständlich sein sollenden Grundiast, daß das Vaterland über die Partei zu stellen ist, auch über demokratische Parteiansprüche, ohne weiteres auf em vmklich errissenes Land ohne entwickelte Va erlandsidce. Da aber selbst in dem als Kulturland der Tin lei unendlich überlegenen Oesterreich bisher nicht die Formel gefunden ist, das Problem eures österreichischen Vaterlandsgefühles auf dem parlamentarischen Wege zu löse», wie sollte das in der Türkei möglich sein? Es icheint, daß die große Mehrheit des Komitees jetzt ihren grundlegenden Irrtum erkannt hat und entschloßen ist, die Uebertreibungen des demokratischen Geoantens, welche der alten Verfaßungsurtunde anhaftetcn, nunmehr zurückzubilden. Man kann es ja eine Ironie des Schicksals nennen, daß dieselben Männer, die einen Sultan entfernt und den anderen zum Schattenherrscher herabgedrückt haben, sich letzt genötigt sehen, unter den Fittich einer wieder ver stärkten Sultansautorität zu flüchten, indem sie ihm sein unbeschränktes Recht zurückgeben, die Kammer aufzulösen. Ja, manche Anzeichen sprechen dafür, daß sie bei einein Mißerfolge der bevorsteiienoen Wahlen vor schärferen Eingriffen in das einst so inbrünstig zurückersehnte Verfassungsrccht nicht zurück schrecken werden. Ob freilich, selbst den ernstesten Mitteln zur Selbstbeschränkung vorausgesetzt, eine „Komiteedittatur", von der so vielfach gesprochen wird, ausreichen wird, eine ruhig fortfließende Entwicklung des Landes in die Wege zu leiten, steht sehr dahin. Auch der Hader um Personen- fragen trügt seinen schweren Teil der Mitschuld daran, daß aus diesem zweiten Versuche der Parlamentarisierung in der Türkei nichts Ordentliches geworden ist. Sind sie von dem Alp der Opposition, welche sich jetzt unter dem Sammelnamen einer „lioeralen Partei"' zu sammengeschart hat, befreit, so wachst die Versuchung, im Schoße der Komitees den Zaum der Selbstzucht zu lockern. Das warnende Homerwort ovx «/«söc- Trolaxotg«»--steht auch über der Eingangspiorte von Klubhäusern, nicht bloß von Parlamentsjälen geschrieben! Für ein so unfertiges Staatswesen, wie es das ottomanische Reich noch ist, bleibt die Wieoer- erschaffung einer starken und erleuchteten Monarchie eine Lebensfrage. Ob freilich das Haus Osman nicht zu verbraucht ist, um wahrhaft große Regenten zu erzeugen, wie sie der Orient vielleicht nur in Darius und Harun al Raschid hervorgebracht hat, ist »ehr die Frage. Doch das sind jetzt noch fernere Sorgen. Die nähere ist, ob der gegenwärtige Zustand des Landes die unvermeidlichen Eeiahren, die mit solchen ge waltsamen Maßregeln, wie es Kammer-Auflösungen sind, verknüpft sind, zu ertragen vermag. Die Albanesen haben einen neuen Aufstand angekün digt, nicht aus ihnen sehr abseits liegender Be geisterung für das parlamentarische System, sondern weil sie von der Komitee-Allmacht noch ärgere An tastungen ihrer Selbstverwaltung und ihres Jahr tausende alten Raub und Blutrache legitimierenden Landrechtes .fürchten, als in den verfloßenen drei Jahren unternommen sind. Und ob die vielen fragwürdigen guten Freunde der Türkei und ihre unsäglichen Feinde nicht die gute Gelegenheit neuer Unruhen zu Einmischungen ausnutzen, ob sie ihr noch eine weitere Gnadenfrist zu politischen Experimenten einräumen werden: wer möchte dafür einstehen? Doß Italien noch lange nicht der gefähr- I lichste Gegner ist, liegt wohl auf der Hanv. So > müssen denn die aufrichtigen Gönner des halbtausend jährigen Reiches mit banger Erwartung der wei teren Abwicklung des türkischen Verfassungs kampfes harren, aus dem gar leicht eine schwerere Bedrohung des Weltfriedens hervorwachsen kann, als sie das abgelaufene Jahr durchgemacht hat. Der erste Stichmahltsg bat die sogenannte „Abwehrmehrheit", die das Zentrum ui d sein polnisch-welfisch-dänisch-rcichs- ländischer Anhang mit der --ozialdemorratie bilden kann, in greifbare Nähe gerückt. Denn die genannten Parteien besitzen schon 185 Mandate, so daß ihnen nur noch 14 Mandate zur absoluten Mehrheit fehlen. Der „Abwehrmehrheit" am nächsten steht jetzt der „schwarz-btaueBlock"mit168Mandai en: ob er in den ausstehenden Stichwahlen noch 31 Mandate davontrügt, ist eine offene Frage. Die Parteien der „Llntsmehrheit . aus die das „Berliner Tageblatt" hofft, verfügen zurzeit nur über 114 Mandate, so daß sie in den ausstehenden 112 Stichwahlen volle 85 Mandate erobern müßten, um wirklich eine Mehrheit im Reichstage zu bilden. Es darf aber nach dem Ergebnis des ersten Stich wahltages als sehr zweifelhaft gelten, daß die Linke einen so großen Erfolg erntet. Denn die Wähler haben am 20. Januar, wie sich jetzt übersehen läßt, erfreulicherweise ungleich weniger die Front nach rechts genommen, als nach der Losung des geschäfts führenden Ausschußes der Freisinnigen Volkspariei zu erwarten war. Es ist deshalb eine Irreführung, wenn das „Berl. Tagebl." den Eindruck zu erwecken sucht, daß die lortjchrittlichen Wähler nur ausnahmsweise für schwarz-blaue Kandidaten einaetreten seien. In nicht weniger als 7 Wahlkreisen haben die Fortschrittler für die Konservativen gestimmt, nämlich in Usedom, Sagan, Landeshut, Neumarlt, Oschatz- Grimma, Neuruppin, Königsberg i. N. Für die Reichspartei aber haben fortschrittliche Wähler in Rothenburg, Mansfeld, Wetpriegnitz, und Zauäi-Belzig ihre Stimmen abgegeben. Zwar sind in diesen 11 Wahlkreisen die Fortschrittler keineswegs Mann für Mann zugunsten der konserva tiven und der reichsparteilichen Kandidaten an die Urne getreten, aber doch zahlreich genng, um ihnen den Sieg zu sicherst. Die Losung der fortschrittlichen Parteileitung und des „Berl. Tagebl." ist also von einem beträchtlichen Teil der fortschrittlichen Wähler schaft nicht befolgt worden. Eine weitere Irreführung ist es. wenn das „B. T." den Eindruck Hervorrufen will, als ob die am 20. von der Fortlchritttichen Volkspartei erlangten 17 Mandate ohne Unterstützung von rechts, gewisser maßen als Lohn für die „klare und kampffrohe fort schrittliche Wahlparole", davongetragen seien. Bei nahe ein volles Drittel ihrer bisherigen 17Man date schuldet dieFortjchrittlicheVolkspartei derUnter- stützung von rechts. Es handelt sich dabei um die Wahlkreise Lauenburg, Pinneberg, Minden, Karlsruhe, Lippe und Meiningen. Auch die natio- nalliberale Partei hat ein volles Drittel ihrer am 20. d. M. erzielten Mandate der Unterstützung von rechts zu danken. Und zwar kommen hier die Wahlkreis Otterndorf. Stade, Herford, Wiesbaden, Leipzig, Schwerin und Helmstedt in Frage. In den 14 übrigen Kreisen hat die nationalliberale Partei nicht durchweg der Unterstützung von links bedurft. Unter den am 20. d. M. verlorenen national liberalen Kreisen aber sind nicht weniger als 7, deren Verlust auf unzureichende Unterstützung durch die Linke zurückgeführt werden muß Es handelt sich dabei um die Kreise Dillenburg, Ott weiler. Wetzlar, Gernersdorf. Löbau, Donaueschingen und Konstanz Der praktische Erfolg, den die Hilfe von links dec nattonalliberalen Partei gebracht hat, ist durch diesen Ausfall großenteils ausgewogen. Gral polaüomsky in Köln. * Köln, 22. Jan. (Tel.) Der am Sonnabend in Bielefeld in den Reichstag gewühue Graf Pcnadowsty hielt gestern in einer vom Zentrum einberufenen Versammlung eine Rede, in der einleitend ausführte, daß ihm fälsch licherweise bei seinem Austritt aus dem Staatsdienst nachgesagt worden sei, er sei abhängig vom Zentrum. Er stehe auf keinem Parteistandpunkt. Bei seinen sozialen Bestrebungen habe er allerdings Unterstützung gesunden nicht nur beim Zentrum, sondern auch bei der freisinnigen Partei, bei den Nationalliberalen und bei einem Teil der Konser vativen. Er wünsche, daß es dem bürgerlichen Liberalismus gelingen möchte, wieder eine solche Stellung zu erhalten, wie er sie in den ersten zehn Jahren nach der Gründung des Reiches hatte. Graf Posadowsty ging sodann auf das Ver ein s g e s e tz ein, das er für gut hält, bestritt die logen. Adelsherrschaft in Preußen, verteidigte den Zolltarif und die F i n a n z r e f o r m. Be züglich der auswärtigen Politik meinte der Redner, daß die Enttäuschung, die im Volke zu be merken sei, wohl berechtigt sein könne, es sei aber in der auswärtigen Politik die größte Ruhe und Kaltblütigkeit notwendig. Wir werden in Zukunft etwas weniger optimistisch sein müssen. Wenn sich Annäherungsbestrebungen bemerkbar machten,sokönnen wir sie nicht zurückweise i. Bezüglich unseres Ver hältnisses zu Frankreich glaubt er, daß unter dem neuen Ministerpräsidenten, den er persönlich kennt, das Verhältnis wesentlich sich bessern werde. Wir ständen an der Wand und dürften nicht eine Linie zurückweichen, wenn wir nicht unser Ansehen in der Welt verlieren wollten. Bei den Stichwahlen handelt es sich um die Verteidigung des bürgerlichen Staates gegen den Zutunftsstaat der Sozialdemokratie. Er fei nach Köln gekommen, um den Kandidaten Trimborn zu unterstützen, einen Mann, den er als warmherzigen Sozialpolitiker in seinem 14jährigen Reichsdienst kennen gelernt hätte. Die „Nngals-Frage". Durch eine Interpellation des Senators Gou- bart wutde nach einem Telegramm der „Preß-Cen- trale" aus Lissabon die sogenannte „Angola-Frage" am Sonnabend dem portugiesischen Senat zur Kritik unterbreitet. Der genannte Senator lenkte beson ders die Aufmerksamkeit des Ministers des Auswä Ligen Vasconcellos auf den „Feldzug", der seit einiger Zeit nach seiner Ansicht von „gewissen deut schen Blättern" gegen die portugiesischen Ko lonien geführt werde und verlangt« von Vascon cellos, daß er sofort durch die diplomatischen Ver treter Portugals rm Auslande das Gerücht deinen- stieren lasse, daß die portugiesische Republik im Begriffe stehe, die Kolonie Angola zu veräußern, wie dies von einem Teile der deutschen Preße behauptet werde. Der Minister des Aeußeren Vasconcellos er widerte auf die Interpellation, daß die Gerüchte gänzlich unbegründet seien und nur auf einer Erfindung gewisser deutscher Blätter beruhten. Das einzige, was Deutschland mit der Silke Rheineck. 5j Roman von Hanna Aschenbach. Die Abfahrtsstunde war vorsätzlich geheim ge halten worden, da aber die Auswahl der Züge nicht groß war. zeigte sich Ncsthausen so ziemlich unter richtet. Die sensationslüsternsten seiner Kinder fan den sich pünktlich auf dem Bahnhof ein. Ein ver geblicher Abendspaziergang wäre ja kein Unglück ge wesen, zumal der Himmel in holder Unschuldsbläue herniederlachte, als habe er niemals seine Schleuien über dem schlechten Pflaster des Städtchens entleert. Als man Hilde Rheineck hinter den Wielandschen Damen einsteigen sah, stutzte man, als sich der Zug mit ihr in Bewegung setzte, war man sprachlos. Dieser seltene Zustand ermöglichte es der Medizinal rätin, sich zu entfernen, ohne Rechenschaft abzulegen über diesen unerhörten Schritt ihrer Tochter, der so ganz Hilde Rheineck war, wie Frau Rektor sich ver nehmen ließ, aufdringlich und schamlos. „Gefühlsroh", fiel Frau Schattenbach mit Nach druck ein. „Wenn man diese unglücklichen Eltern be denkt in ihrer tiefen Trauer, und da schneit ihnen solch prätentiöses Geschöpf, das sie auf Gottes Erd boden nichts angeht, aus purer Neugier ins Haus. Wenn ich da meine süßen Mädels bedenke —" Phine und Line kicherten, aber ehe die lobsingcndc Mama fortfahren konnte, meldete sich ein schüchternes Stimmchen. Es gehörte der blutjung«» Frau eines kürzlich nach Nesthausen gezogenen Versicherungs agenten, die, weil sie nicht hübsch und sehr demütig war, gnädiglich im Kreise der Honoratiorendamen Aufnahme gefunden hatte. Mit ihrem Männi auf einem Spaziergang begriffen, hatte sie sich dem all- gemeinen Zug nach dem Bahnhof anzuschließen be gehrt. Einer Regung der Eitelkeit folgend, war sie knixcnd an die Damen hcrangetreten. Es machte sich so nett, wenn man in der Oefsentlichkeit mit der Frau Stadtrat und der Frau Rektor usw. zusammen stand. Frieda Peterlein errötete bis unter die blon den Stirnhärchen, als sich plötzlich aller Augen streng und durchbohrend auf sie richteten. Aber den be gonnenen Satz mußte sie doch zu Ende sprechen. „Fräulein von Rheineck geleitet die Damen nur bi« in die Nähe ihres Reisezieles und kehrt dann zurück. Männi Härte es im Vorübergehen." Arm«, kleine Frau! Als habe sie in ein Wespen nest gestochen, so fielen di« Damen über sie her und machten ihr energisch den Standpunkt klar. Das glaube man einfach nicht. Und wenn, so sei das keine Entschuldigung. Fräulein Martha habe eine Mutter und brauche niemand sonst, am wenigsten solch nase weise, herzlose Person wie „diese Hilde". Man habe es ja dem armen, lieben Ding — damit meinte man wahr und wahrhaftig Martha Wieland — angesehen, wie gräßlich ihr diese Bevormundung sei. Keinen Blick habe sie für die aufdringliche Person gehabt und ihr bei jedem Wort den Rücken gedreht. O, Frau Apotheker und ihre Phine hatten das ganz genau beobachtet. Außerdem sei es höchst unpassend für ein junges Mädchen, das durch sein Betragen erst kürzlich öffentliches Aergeruis erregt habe, allein in der Welt herumzureisen. Das solle sich die Frau Peterlein hinter die Ohren schreiben. — Di« junge Frau wußte nicht, wieso diese donnernde Philippika just an ihre Adreße kam, warum so viele funkelnde Augenpaare sich in ihr abwechselnd errötend und erblaßendes Ge sicht bohrten. Niedergeschlagen schlich sie zu ihrem Männi zurück, und die beiden gelobten sich hoch und heilig, Damenversammlungen auf dem Bahnhof Nest hausen künftig in großem Bogen zu umgehen. * * * Hilde Rheineck trat ungeduldig den Staub der Biesterheider Landstraße. Sie sah zum sechsten Male innerhalb fünf Minuten auf ihre Taschenuhr, seufzte tief und nahm ihre zwecklos« Wanderung, das Dorf im Rücken, wieder auf. Sie befand sich auf der Rück reise von r«r Nachbarstadt des Gutes Erlenkamp. war mit dem Personenzug von der Residenz herüber gekommen, entschlossen, die drei Stunden Wartezeit in dem öden Nest auf sich zu nehmen, weil die einzige Möglichkeit, di« Vaterstadt am späten Abend noch zu erreichen, in der Benutzung des Lokalzuges Biester- heide-Nesthausen lag. Die Mutter erwartete ihre Heimkehr nicht vor dem nächsten Tage. Folglich würden die Insassen der Villa zur Ruhe sein und mußten herausgeklingelt werden. Der fast halb stündige Weg ohne Begleitung durch das sittenstrenge Heimatsstädtchen zu einer Zeit, da ehrsame Jung fräuleins ins Bett gehören, reizte auch nicht sehr. Das würde wieder einen Sturm im Wasserglas«: auf rühren. — Ach was? Hildes Schultern hoben sich gering schätzig, und der klein« Kopf mit der schweren Flech tenpracht bog sich stolz in den Nacken. Sie mußte sich doch nachgerade darüber klar sein, daß ihr Lebenswandel, und sei er der eines Engels, vor dem Forum Nesthausens keine Gnade finden würde. Was sie übrigens danach fragte! Sie schnippte mit dem Finger, und in ihre finsteren Mienen trat di« Ahnung eines Lächelns. Sie war in ihren kampfestrukigen Gedanken schnell und schneller ausgeschritten. Jetzt hemmte sic sich be sinnend den Fuß. Ihre Uhr und ein die Entfernung prüfender Blick auf das spitze Kirchdach Biesterhcides mahnten zur Umkehr. Da erscholl aus nächster Näh« ein schriller Angst schrei aus Kindermund und noch einmal dieselbe Stimme halberstickt in gurgelnden Tönen. Die hohe Eisenbahnböschung versperrte die Aussicht. In Gedankenschnelle hatte Hilde den Damm er klommen. Ueber di« Schienen hinweg und auf der anderen Seite hinunter. Was sie erblickte, ließ ihr Herzblut stocken. Drei oder vier kaum schulwüchsige Jungen hielten einen noch kleineren an einem um deßen Leib geschlungenen Bindfaden, der wiederum an einem Stecken befestigt war, in dem schmalen aber schnell fließenden Bache. Sie schrien dem zappeln den Kerlchen allerlei Kommandos zu, die sie einem Wanderschwimmlehrer abgelauscht zu haben schienen. Dabei tanzten sie vor Vergnügen über das Gebaren ihres Opfers, dem augenscheinlich nichts ferner lag, als der Wunsch nach Beherrschung des feuchten Ele mentes. Er schrie gottsjämmerlich, schluckte Un mengen von Wasser und strampelte und stieß um sich, bis die leicht geknüpfte Schnur sich löste. Eben als er mit gellendem Ruse untersank, langte Hilde atemlos etwas unterhalb am Ufer an. Sie lief ein paar Schritte bis an eine niedere Stelle, warf sich flach auf die Erde, tauchte mit dem Arm ins Wasser und faßte das Kittelchen des Kindes. „Hierher, Jungens", befahl sie und die erschrocke nen Bengel folgten eingeschüchtert. „Zieht alle vier an meinem freien Arm so fest ihr könnt, damit ich nicht abrutsche." Es geschah und mit Anspannung aller Kräfte brachte Hilde den bewußtlosen Körper aufs Trockne. Ganz erschöpft war sie aber doch noch nicht, denn ehe sichs die jungen Mißetäter versahen, hatten wenig stens drei von ihnen ein paar schallende Ohrfeigen weg. Der vierte entwischte mit knapper Not. „So, ihr Nichtsnutze", sagte Hilde befriedigt, „nun holt die Mutter des Kleinen, marsch!" Der energisch« Befehl löst« grenzenlose Verblüffung der drei Gezüchtigten. Sie besannen sich aufs Heulen und stürzten davon. Ihr mißtöniges Terzett rief eine Frau unter di« Tür eines nahegelegenen Häuschens. Kaum erblickte sie die Fremde über einen kleinen, starren Körper am Bachufer gebeugt als sie wie ge jagt herbeistürzte. Ihre ahnungsvolle, immer wache Muttersorge verriet ikr das Geschehene, ehe sie noch den Verunglückten erkannt hatte. Der schlug eben verwirrt die Augen auf, schüttelte sich wie ein naßer Pudel, und als er seinen Namen in den Tönen höchster Herzensangst von den nahen Mutterlippen hörte: „Heiner, mein Heinerle!" schlug er ein ohren betäubendes Brüllen auf. Hilde erhob sich lächelnd. „Nun also! Geschadet hat ihm das kalt« Bad nichts. Ins Bett und tüchtig schwitzen. AL« Heinerle." Sie strich üb«r das naß« Köpfchen, winkte der Frau, die in ihrer überströmenden Mutterfreude kaum einen Blick für sie hatte, freundlich zu und wandte sich ab. Sie sah noch, wie ein großer Herr, geleitet von zwei aufgeregten Frauen, herbeieilte. „Da bring' ich den Herrn Doktor, Bachhoferin", zetert« die eine, „er war ja bei Großoattern. Er hat die Malefizbuben, die elendigen, vom Fenster aus ge sehen." Vom Bahndamm rückschauend, gewahrte Hilde, daß sich der Arzt über das um sich schlagende Kind beugte. Dann gewann sie die Straße. Sie zog ibre Uhr. Fast eine Viertelstunde verloren. Erschrocken beschleunigte sie ihren Gang. Ehe sie noch auf der im w«iten Bogen umlaufen den Landstraße das Dorf erreichte, schallten aus einem heckenbcsetzten Seitenpfad gleichfalls eilfertige Schritte. „Aha", dachte sie erleichtert, ,,da will noch einer zum Zug. Es wird schon noch reichen." Gleich darauf bog «in« Strecke vor ihr ein hoch gewachsener Herr in die Straße ein, der Arzt. Al» er die Dame erblickte, die ihm sowohl durch ihr« be sonnene Ruhe beim Rettungswerk als durch die flink« Justiz an den Missetätern imponiert hatte, verhielt er höflich den Schritt. „Verzeihung, gnädiges Fräulein, wenn Sie viel» leicht auch zum Zug wollen? Allerhöchste Zeit!" (Fortsetzung in der Morgenausgabe.)