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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 14.04.1912
- Erscheinungsdatum
- 1912-04-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191204144
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19120414
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19120414
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1912
-
Monat
1912-04
- Tag 1912-04-14
-
Monat
1912-04
-
Jahr
1912
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Srttr 2. Nr. lSS. los. Jahrgang. Leipziger Tagedlatt. Sonntag, 14. NprU 1S12. pord«». D«r altt Herr Giolitti ist ein wahrer Dir. uos» t« der Kunst, unliebsamen Erörterungen aus <» Weg« -u gehen, di« gewisse Schwächen nicht nur <r Slegteruna, sondern auch der italienischen Diplo- ttati» und nicht in letzter Linie auch de» italienischen Ko«« vor der Welt blohlegen würden. Da» ge fährdete Prestige de, ganzen Reiches verlangt ge bieterisch di« Auferlegung von Reserven. Und da» hat auf einen Wink de» Regierungsmeister» Giolitti da» Parlament begriffen, das er rn dieser kritischen Zeit in die di» zum 30. April verlängerten Ferien schickte. Herr Giolitti sagt sich: Fragt man mich nachher, warum die Regierung das Unternehmen gar so Üagltch nicht nur von der diplomatischen, sondern auch von der militärischen Seit« vorbereitet hat, so kann ich entweder mit dem glücklich dem Feinde ab- gerungenen Friedensbulletin vor denn Volke Rede und Antwort stehen: der Erfolg gibt mir recht! Oder ich fall« mit dem fehlgeschlagenen Friedensschluss. Dann werde ich sagen: Das Volk hat diesen Krieg gewollt! Giolitti setzt alle» auf eine Karte! Ein gewagtes Spiel, das wir in seiner ganzen Gröhe «st nach Eintritt des großen Ereignisses erfassen werden. Vorerst muh Giotttti dies Spiel um das Prestige des Landes mit verdeckten Karten weiter- spielen. Ein Zurück gibt's nicht mehr. Aber fragen muh der objektive Zuschauer: Warum in aller Welt hat das Heer, das ja doch tatsächlich in einzelnen Kämpfen Wunder der Tapferkeit verrichtete, die west lichen Küstenorte an der tunesischen Grenze nicht schon früher beseht- Warum hat man zugelassen, daß halb Tunesien unter offener Duldung der französischen Regierung den Krieg der tripolitanischen Stammes- genossen gegen Italien mitführte? Es gibt so viele andere Warum, die man versucht ist, der diplomati- schen und militärischen Leitung vorzulegen, und auf die man doch keinen reinen Wein eingeschenkt be kommen kann. „Wenn die Öffentlichkeit m diesen kritischen Zeilen auch nur die halbe Wahrheit zu er- fahren bekäme", sagte mir neulich ein hoher Staats würdenträger, „hinsichtlich der Beziehungen Italiens zu den anderen Großmächten, so wäre morgen der Weltbrand zur Tatsache geworden." Die italienische Regierung muh vertuschen und mit ihr die Kabinette von Berlin. Wien, Petersburg. Paris und vor allem von London. Offen führt Italien den Feldkrieg mit d«r Türkei, insgeheim aber Len diplomatischen Krieg mit England. ^Kelches der schwerere Kampf ist, braucht wohl kaum erst betont zu werden. Es muh schon wundernehmen, dah bei diesem Stande der Dinge Italien es wagen konnte, während der Ostertage dr« Blockade im Roten Meer auszu dehnen. Gleichzeitig aber ist der bisherige Leiter der Schiffsoperationen Admiral Faraoelli von seinem Kommandoposten „freiwillig" zurückgetreten. Er ist krank geworden, wie es in der offiziellen Sprache so schön heißt. Diese Demissionskrankheit hat sich doch wohl in demselben Augenblick eingestellt, wo der leitende und „leidende" Admiral glaubte, die Ver antwortung für ein Gelingen des so lange als grohes Ereignis angesagten Bombardements in den Dardanellen nicht mehr übernehmen zu dürfen. Man hat auch hier, wie in Zuara. mit der großen Aktion gezögert, nicht dem eigenen Triebe gehorchend. England winkt mit dem Zaunpfahl. Vielleicht ge stattet es noch gnädiglich Italien, sich die Zähne an den Dardanellen auszubeihen, wenn diese erst granitene Festigkeit erhalten haben werden. Nbch wiegt man sich in Italien in die Hoffnung ein, Rußland würde die Vorsehung für das Apenninen reich spielen Menn e» aber John Bull gelänge, Rußland durch einen Köder in Kleinasien oder m Persien von den Dardanellen abzulcnken, dann säße Italien mit der Leichenbittermiene des Lohgerbers da. dem die Felle fortgeschwommen. Im Volk bricht sich der Unmut immer stärker Bahn, daß man den Krieg nicht schon am Tage seiner Erklärung auf der ganzen Linie unabhängig von den Protesten der an- deren Mächte mit raschem Dreinschlagen im Ionischen und Aegätschen Meere ausgenommen und »u Ende geführt hat. „Wenn der Krieg beginnt, schickt man die Diplomatie zu Betti" In Italien ab« haben auch heute nach s«hseinhalb Kriegsmonaten die Diplomaten immer noch mehr zu tun al» die Krieger: iene bereiten für diese das große Ereignis vor. Der Feldherr wird auslöffeln müllen, wa» ihm der Diplomat eingerührt. Oo aber da» Prestige de» Lande» bei diesem Verfahren gewinnt, steht auf einem anderen Blatt. Die Sphinx. Aus Berlin geht uns von einer Frau. Lis sich an der vor kurzem geschlossenen Ausstellung „Dio Frau »n Haus undBer u s" tätig betelliat hat, zu dem in Rümmer 162 de» Leipziger Tageblatt«» vom 29. März veröffentlichten Leitartikel „Die Sphinx" eine Entgegenung zu, L«r wir im fol- geirben gern unverkürzt Raum geben. Den Artikel „Die Sphinx" werden viel« Frauen mit einem lachenden und einem tränenden Auge gelten haben. Mit einem lachenden Auge aus herzlicher Freuo« darüber, daß ein Mann durch die Ausstellung der Frau in Haus und Beruf ge gangen ist, der nicht wie so sehr viel« sie einfach mit Läch«ln abgetan, mit demselben Lächeln, mit dem die ganz« Frauenbewegung noch von so inanchem ab getan wird, sondern ein Mensch, der sowohl beim Durchwandern der Ausstellungshallen einzelne» be trachtet, als auch tief nachgedaäft bat über den In halt als Ganzes, von Frauen Gegebenes. Recht ge trübt wird aber diese herzliche Freude Lurch manchen, in dem Artikel ausgesprochenen Gedanken der, ich kann es kaum anders nennen, beinahe einem nicht Begreisenwollen gleichkommt. Ich möchte fragen, ist die Frauenbewegung mit all dem, was sie im Gefolge hat, wirklich durch Frauen allein entstanden? Waren es nicht weit mächtigere Faktoren, war es nicht wirt schaftliche Notwendigkeit, der trotz unserer aufsteigen- den Kultur immer schärfer werd« Kampf ums Dasein, die die Frauen aus dem Haufe getrieben haben, in die Welt La draußen, di« sie nun mit versuchen muß ten, zu erobern? Und anderseits, die vielen tech nischen Errungenschaften, di« der Haustochter, noch mehr den Haustöchtern, die Arbeit abnahmen und besser machten zum großen Teil, haben sie nicht den Frauen, auch der wohlsituierten Stände, den Weg gewiesen, die freigewordenen Kräfte nun anders zu verwerten? Und weiter möchte ich fragen, wollen di« Frauen die Welt da draußen sich möchte sagen, ein Stück der Welt da draußen) erobern ohne den Mann, oder gegen ihn? So da,; di« Frauen weder den Mann brauchen, noch der Mann sie? Von den sich sicher «rnz in der Minderheit befindenden „Un entwegten abgesehen, wird auch das Eleichstreben schon ein sehr bedingtes sein, weil die Geschlechter oben nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ganz verschieben geartet sind. Bei der Frau spielt bas Ge fühlsloben «in« größere und andere Rolle als beim Manne, der besser versteht, das Gefühl dort auszu schalten, wo allein der Verstand sein Votum abzugeben hat, während die Frau schwer darunter leidet, wenn der Verstand und di« Vernunft zuweilen da Sieger bleiben müssen, und ihr Gefühl, das ganz anders ge sprochen hat, unterliegt. Dies« Konflikt« machen das Gleichstreben mei> unmöglich, selbst wenn wir es wollten. Aber wollen wir denn, von Len „Un entwegten" abgesehen, «inen sogenannten Konkurrenz- . kämpf, führen, wollen die. Fpgu-n, nicht vi«lmehr eben den gegebenen Verhältnissen sich fügend ein Neben- und Miteinandcrarbeiten erreichen? Und wahrlich, wie unendlich viele Frauen möchten die anstrengende Berufsarbeit «inschränken oder ganz aufgebcn, weil die körperliche Widerstandsfähigkeit nicht so groß ist als beim Manne, wie viele möchten lieber nur Weib sein dürfen, allerdings — in etwa» erweiterter Bedeutung wie ehedem. Es Heini in dem Aufsatz« „Die Sphinx": „Der Mann r«iA sich die Augen, er siebt vor sich di« Ver änderung von Dingen, di« Jahrtausend« be standen haben." Nun frage ich wteider: alles in Lev Natur, wohin wir auch blicken, verdankt der Ent- Wickelung lein Entstehen; wenn wir jetzt zu Ostern, dem Fest« der Auserftchuna. trotz Sturm und Regen durch d«n Wald und artf Wiesen gewandert sind, um den Frühling zu sehen, erfreut uns da nicht überall dieses Neuwerden, und dich«» reicher und schöner sich Entwickeln bei Bäumen und Sträuchern, die auf der Sonnenseiie sieben? Nur die Iöesenheit der Frau soll allein von dieser Entwickelung aus geschlossen sein? Für sie sollen sich die Dinge nicht verättL«rn, die seit Jahrtausenden bestanden Haben- Warum sieht der Mann, nun auch die Entwickelung der Frau ein« unaufhaltsam« «worden ist, wohl ein Mehr aber auch ein Weniger? Warum muß er sich nun seinerseits auch ändern, damit wieder ein« Har- montt unter den Geschlechtern entsteht? Ich komm« aus dem Fragen nicht heraus. Muß dazu sich der Mann oer-weiblichen (da» wäre ein Rückgang) oder eine höhere Stuf« der Männlichkeit erreichen? Kann nicht eine viel schöner« Harmonie unter Len Ge schlechtern entstehen, wenn L«r Gesichtskreis der Frau nicht mehr ein so enger ist, wie ihn sich Helmer für seine Nora wünscht, wenn sie Gebrauch macht von den Bildungs- und weiteren Entwickelungs möglichkeiten, auch von der Welt da draußen? Drangt nicht, wieder von außen, der wirtschaftlichen Entwickelung entsprechend alles darauf hin, daß di« Frauen, denen so viel größere Pflichten auferlegt sind, nun auch Rechte gegeben werden? Und vor allem, muß das Zusammenleben zweier Menschen weniger reizvoll werden, wenn zwischen Mann und Frau auch ein seelisches Verstehen da ist, wenn das Weib dem Manne nicht nur Geliebte, sondern auch wirkliche Lebenskameradin, Freundin ist, die nicht nur die Freuden des Lebens, di« Stunden des Ge nusses mit ihm teilt, sondern auch seine Sorgen, seine Interessen versucht zu den ihren zu machen? Viel leicht oder sogar sicher ist das Zusammenkommen von Mann und Frau schwieriger geworden, besonders die Ehenröglichkeit, weil di« Frauen sehender ge worden sind, durch die Erweiterung ihres Gesichts kreises; natürlich, neben den äußeren Lebens- bedrngungen, die vi«l« zwingen, unverheiratet zu bleiben, ist dies ein Grund mehr, auf den ureigen sten weiblichen Beruf als Gattm und Mutter ver zichten zu müssen. Aber es wird sicher anderseits dadurch weit mehr glückliche Ehen geben, wenn zwei Menschen zusammengehen, die wirklich ganz eins sind. Und nicht zum wenigsten wird das für die Kinder, für die Erziehung derselben von Wert sein. Vielleicht können dann Männer und Frauen in den nächsten Generationen eine höhere Stufe des Menschengeschlecht«» erreichen, Menschen werden in des Wortes höchster Bedeutung! Darum soll der Mann Mann bleiben und seine Kräfte immer reicher und schöner entwickeln und das Weib neben und mit ihm — nicht ohne und gegen ihn — Weib und weiblich bleiben in des Wortes höch ster und schönster Bedeutung mit der Möglichkeit, sich auch weiter zu entwickeln wie alles, was lebr und Leden heischt! Der Krieg «m Tripolis. Der römisch». Korrespondent de» „Echo de Paris" will aus guter Quell« erfahren hüben, daß der . , Bermittlungsschritt der Milchte in Konstantinopel wahrscheinlich zu Beginn der nächsten Woche erfolgen werde. Konferenzen über die italienische Flottenaktion. * Rom, 13. April. (Tel.) Gestern trat der i Staatsrat zu einer Sitzung zusammen. Kurz darauf I hatt« der Staatsrat mit dem Minister de» A«uß«rn und dem Krirgsminister eine längere Unterredung. Man nimmt an, daß di« bevorstehend» Aktion der italienischen Flotte den Gegenstand dieser Unterhandlungen gebildet hat. Sammlungen für die türkisch« Hilf»«xp«diti»n in Tripoli». Konstantinopel, 13. April. (Tel.) Der französisch» Botschafter Bvmpard überreichte gestern der Pforte die Summe von 80 000 die aus einer Subskription der Muselmanen in Algerien stammen und für den türkischen Roten Halbmond bestimmt sind. * Sarajewo, 13. April. (Tel.) Im Lauf« d«r letzten Wochen sind unter der mohammedanischen Be völkerung Bosniens und der Herzegowina für den türkischen Roten Halbmond 250 000 Kronen gesammelt worden. Der Betrag ist be- reits der Zentralleitung in Konstantinopel über- mittelt worden. Die Lage in Tripolis. Die „Agenzia Stefani" meldet aus Tripolis: Am Freitag flogen zwei Lenkballons von Tripolis nach Buchamez, von wo sie zurück- kehrten, nachdem sie über zwölf Stunden in der Luft gewesen waren. Sie versorgten sich mit Benzin von einem vor Suara kreuzenden Schiffe aus. Aus Derna wird unter dem 12. April gemeldet: Nach im Landesinnern verbreiteten Gerüchten verlegen die regulären türkischen Truppen und die Beduinen, die bisher um Tobruk lagerten, wegen Wassermangels ihre Stellung nach Bomba. S Enver Bei alg Volkswirt. Der „Lök.-Anz." meldet: In neuen Briefen, die aus Benghasi eingetroffen sind, erzählt Major Enver Bei. wie er das von ihm verteidigte E«biet wirtschaftlich für den langen Kampf stärkt, zu dem er entschlossen ist. Es kann ihn und sein Heer nur nähren, wenn der Handel nicht einschläft. D«r Handel war im Entschlummern, weil ihm der Lebensnerv fehlte. Der Landmann konnte wohl seine Früchte zu Markt bringen, fand aber dort nur Abnehmer, jedoch kein Geld. Mso blieb er zu Hause. Erfinderisch, wie Enver war, als er dem Feinde, um ihn zu schlagen, die eigenen Waffen ab nahm, wußte «r auch als Volkswirt Rat. Er setzte statt der viwgvschlafenen Märkte durch Dekret neu« an und versprach dem Landmann, daß er Geld finden werde. Am Schreibtisch verfertigte er dann mit roter '' , " Qut dotierte TteiliLnSeir orbalten Lis vor allon Dingen äurcb Inserat« in einer blanckslsreitung. Desbalb sucben Lio Ibro Ltellung Ls ist äio kübrenckv I4anävls-2oitung ganr bkittelckeutacblancks und virck äeskalb von Industrie, bianäei unci Geverbs sovio cioin SroLxrunäbesitr sebr gern gelesen LrWins im Schnee. Es lag die Welt im Frühlingsglanz! — Da kam des Winters Flockentanz — Und hüllte leis' Jod' Osterreis In Totentüchlein «in. Soll schon gestorben sein? — Wie weh tut es — wie weh! Frühling! — im Schnee! — Ls schlug ein junges Menschenherz Im Frühlingsjubel himmelwärts; Es liebte heiß! — Da klang es leis Wie kalte Winterlieder, — Das Schicksal trat es nieder! — Wie weh tut es — wie weh! Frühling! — im Schnee! — Die Sonne brach das Flockentor! — Viel tote Blümlein fand sie vor; — Dazu ein Herz. Wohl alt im Schmerz, — Wenn auch in blonden Haaren Noch frühlingsjung an Jahren. — Wie weh tut es — wi« weh! Frühling! — im Schnee! — Leipzig. ^Ikrvck Lase. Im Lsllan „Leipzig" Mich üen Kskittnl-Sümpfen. ES ist am Gründonnerstag, abends gegen 10 Uhr. Air der einfachen Gaststube des Restaurants am Leipziger Sportplätze sitzt eine Tafelrunde in leb- Hafter Unterhaltung. „Galizien — Polen — Ruß. land" sind die Worte, die in dem Gespräche immer wtederkebren. Rucksäcke und Wettermäntel langen an der Wand: sie gehören vier Herren, die wie zu einer Bergpartie gekleidet sind, nur daß ihnen die Bergstöcke fehlen. Auch brausten auf dem Sportplätze herrscht reges Leben. Von dem unsicheren Lichte mehrerer elek trischen Lampen eigenartig beleuchtet, schminkt eine große dunkle Kugel in dem lebhaften Winde bin und her. Es ist der Ballon „Leipzig", der zu einer Nachtfahrt unter Führung des Herrn Res. Haueber aufsteigen soll. Außer dem Führer besteigen noch die Herren Res. Böhme, Ref. Hoffmann und Kaufmann W. Haueber den Korb. Rasch werden noch die letzten Anordnungen getroffen, um den Ballon fahrbereit zu machen. Zwei Minuten vor 11 Uhr ertönt baS Kommando: „Laßt los!", und unter den lebhaften Glückabrusen von etwa einem Dutzend von Zusclzanern steigt der Ballon majestätisch empor. Gleich zu Beginn bietet sich den Luftschiffern ein bezaubenideS Bild: Leipzig beiNacht. Wie von einem schwarzen Rahmen umgeben liegt unsere Heimatstadt in feenhaftem Glanze unter uns. Deut- lich werden die Straßenznge durch die Perlenschnürc der Laternen gekennzeichnet. Die Korbinsassen, die sämtlich gute Leipziger sind oder doch waren, finden sich schnell zurecht. Zwei von ihnen stellen mit Freude fest, daß w,r über ihr LaterhauS hinuwgsliegen Sie geben ihrem Familiensinne durch laute Huvenrufe Ausdruck. Nun gehts über den Hauptbahnhof, die Neustadt und die Wollkämmerei in Mockau hinweg. Jetzt heistt'S, die Fahrtrichtung feststellcn. Unsere liebe Naclzbarstadt Tauck-a mit ihrem Lichterglanze verhilft uns dazu. Mit Befriedigung stellen wir fest, daß cs nicht nach Norden, nach der See zu, geht, sondern nach Nordosten. Bei Torgau überschreite» wir die Elbe. Wir merken: die „Ochsentour", die Fahrt, die jedem Leipziger Lustschifser uur zu bekannt ist, und die bei Kamst, Obersitzko »der sonst im Posenschcn zu enden pflegt. Dunkelheit umfängt uns und eine unendlich wohl tuende Ruhe. Wie im Traume blicken wir bald auf die in der Tiefe rauschenden Wälder der Nieder lausitz, bald nach der riesigen, leise dahingleitenden schwarzen Kugel über uns. Der Führer freilich darf sich nicht völlig der beschaulichen Ruhe hingebcn; denn der Ballon hat seine „Gleichgewichtslage" noch nicht gefunden. Er steigt und fällt, und einmal — wir haben gerade die Oder mit ihren durch lvinzige Lichter spärlich beleuchteten Kähnen überflogen — kommen wir den Baumwipfeln so nahe, daß die Spitzen dec höheren Bäume bereits neben uns sind. Ein Ballastopser bringt uns wieder empor und läßt uns die gewünschte Gleichgewichtslage in etwa 700 Meter Höhe finden. Es ist jetzt nach 3 Uhr; der Morgen beginnt zu dämmern. Der Flust unter uns ist die Warthe; der nächste Nebenfluß ist die deutsck>-rufsischc Grenze. Gespannt lauscht alles hinunter. Tönt nicht der Husschlag eines Kosakcnpferdes zu unS ? „Kopf und Beine weg, wenn die Kugeln pfeifen," ist jetzt unsere, allerdings schwer ausführbare Losung. Aber nichts ist zu hören. Eine unendlich öde Fläckze liegt unter uns. Kein Halls, keine Straße weit und breit: alles kümmerlicher Wald, Heide und Sand. Die Korb insassen ruhen jetzt abwechselnd: den» der lebhafte Wind, der sich immer mehr verstärkt, und die Gleich gewichtslage, die unS Ballast sparen läßt, verspreclzen eine lange Fahrt. Jetzt tauchen auch die ersten russischen Ansiedelungen aus. Unglaublich ärmliche, zerfallene Erdhütten, vereinzelt aber auch prunk- volle Herrenhäuser, von prächtigen Parkanlagen um- gebew: eine Kluft zwifcksen Armut und Reichtum, wie man sie sich nicht auffälliger denken kann. Zwei kleine Landstädte, Ronin und Kolo, werden über- flogen. Wüßten wir nicht bereits, daß wir in Ruß- lanv sind, so litten uns die eigenartigen Lokomotiv- pfisfe und die bunten Kirchen darüber belehrt. Jetzt müssen wir wieder eine neue Landkarte, eS ist wohl sclwn di« fünfte, aus unserer Ballontasch« nehmen. Sie bringt uns eine freudige Ueberraschung: wir fliegen geradewegs auf Warschau zu. In froher Erregung sehen wir alle vier nach vorn. Da ist eS; die eigenartigen geometrischen Figuren zweier Fort» geben unS Äewtßheit. Ein überwältigende» Bild, die große fremd« und so fremdartige Stadt mit den vielen bunten Kirchen mit goldenen und blauen Kuppeln und der riesige Strom. >/.8 Uhr morgens überfliegen wir die alte Residenz Polens. Nack diesem Glanzpunkte verhüllt sich uns die Erde. Rechts und links, oben und unten umgeben unS dicke Nebel, und nach dem brausenden, von un« deutlich wahrgenommenen Lärm der Großstadt voll ständige Ruhe. Wir meinen, der Erde entrückt, im leeren Welträume zu schweben. Unseren zwei Neu lingen wollen wir aber noch etwas Besondere» bieten. Wir steigen deshalb schnell höher und durchstoßen die Wolkenschicht in 1100 Meter Höhe. Ein über raschender Wechsel: aus dem trüben Nebel in hell stes Sonnenlicht. Unter unS ein blendcndwcitzcs, jonnenbeschienenes Wolkenmccr mit Strömungen und Wogen. Ter Führer macht uns auf eigentümliche dammartige Erhebungen in der brodelnden Fläche aufmerksam; sie bezeichnen den Lauf der darunter liegenden Flüsse. Nur diese Erhebungen geben uns einen Anhalt dafür, daß wir unS mit großer Ge- schwindigkcit weiterbcwegen; sonst könnten wir meinen, wir ständen still. Wie eine kleine Sonne sieht jetzt unser Ballon cnrS. Er fühlt sich auch zu seiner großen Schwester hingezogcn und steigt und steigt höher, als es uns wünschenswert ist. DaS macht die Bestrahlung der Sonne: auch wir fühlen sie an unfern Gesichtern. Gern blieben wir noch länger hier oben. Aber die Flußbilder in den Wolken be- lehrten unS, daß auch hier oben die östliche Strö- mnng anhält, und diese treibt unS den gefürchteten kilometerweiten Rokitno-Sümpfen entgegen. Leider haben wir nicht genügendes Karten»:aterial, nm auch sie noch zu übersteigen. Deshalb gebieten wir in 1800 Meter Höhe den Aufstieg des BallonS halt. Kräftige Ventilzüge zwingen ihn, so sehr er sich ancü sträubt, abwärts zu gehen. Wir tauchen wieder in den Nebel ein, und nun beginnt ein lebhafter Fall. In wenigen Minuten sehen wir die Erde wieder unter uns, nnd »vir nähern unS ihr mit großer Geschwindigkeit. 800 Meter Höhe und iminer noch 3 Meter Fall in der Sekunde. Ter Führer nimmt einen vollen Sandsack zur Hand; die andern beobachten die Instrumente. Ter Sand, der aus gegeben wird, steigt scl»einbar in die Höhe, weil wir schneller fallen, als er. Ein ganzer Sack ist wieder geopfert. „3 Meter Fallgeschwindigkeit" sagt der Pariameter. Also noch mehr Ballast abgeben. „T/, Meter, 2 Meter, knapp 2 Meter." Jetzt fällt der Sand schon schneller als wir, und knapp 100 Meter über dem Boden kommt der Ballon zum Stehen. Selbstverständlich wissen wir jetzt, nackzdem wir so lange über den Wolken waren, nicht, welcher Fleck Erde es ist, über den wir in rasender Fahrt dahin- sliegen. Wir stellen nun fest, daß wir den Bug ge kreuzt haben nnd immer noch nach Osten getrieben werden. DaS Land sieht öde aus: große unbebaute, sumpfige Strecken, schnurgerade Landstraßen und ganz vereinzelte Dörfer mit halbzerfallenen Hütten. Dazu ist auch noch daS Wetter trüber geworden. Die Wolken, die uns oben durch ihren silbernen Glanz entzückten und blendeten, sind von unten gesehen eine den ganzen Himmel überziehende bleigraue Schicht. Jeden Augenblick kann ein ordentlicher Landregen beginne» Den kann der durch Gas- und Ballast verlust geschwächte Ballon, dessen erst noch so pralle Hülle jetzt tiefe Falten ausweist, unmöglich aus halten, und wir müssen daher an eine baldige Lan dung denken. Ter Ballon wird klar zur Landung gemacht. TaS Schleppseil wird gelöst, Instrumente und Rucksäcke werden sicher verstaut. Eifrig sclzauen wir nach einer Bahnlinie auS: denn in der Nähe einer solchen wollen »vir, der schnelleren Heimfahrt wegen, landen. Wir müssen aber ziemlich lange warten. Uebcr Sümpfe und Wälder geht die rasche Fahrt. Da auf einmal sehen wir einen Schienenstrang vor unS, und wir glauben auch die so erwünschte Bahnstation in der Nähe. Wieder wird kräfng Ventil gezogen. Das Schleppseil, daS biSber frei in der Lust gebaumelt hatte, setzt auf den Boden auf. kin Dorfbewohner, der in Gedanken vcrsunken zu Boden blickt, sicht plötzlich, starr vor Schreck, daS Seil als dicke graue Schlange vor sich hingleiten. Ter auf der Erde aufliegende Teil des Schleppseils verlängert fick immer mehr. Jetzt heißt es festhalten; denn das Seil geht über eine Baumgruppe. Es bleibt verschiedentlich langen; dec Ballon reißt es aber unter heftigen stützen immer wieder los. (Beim Schreiben dieser Zeilen bringt uns die russische Eisen bahn, auf der »vir gerade fahren, die Stotze durch ununterbroclMcs Rütteln in lebhafte Erinnerung.) Jetzt überschreiten wir die Bahnlinie; dahinter kommt erst Aumpf und dann Aeld. Dort wollen wir landen. Nun geht alles Schlag auf Schlag. Die Reißleine wird ausgeklinkt. Nochmals wird kräftig Ventil gezogen. Die Erde scheint sich uns mit großer Geschwindigkeit zu nähern. Ein Opfer von zwei Säcken Ballast verlangsamt den Fall. Der Ballon wird ausgerissen. „.Mmmzug!" Der Korb setzt auf den Boden auf. Ein kurzer Sprung des Ballons, dann legt sich der Korb zur Seite und wird über den Sturzacker geschleift. Wir sehen, wie fick der Ballon sclpiell entleert. Die Fahrt ist zu Ende. Vier lachende McnsclM liegen über- und durcheinander, reichlich mit Ackererde bedeckt, im Korb«. ES ist genau 10 Uhr vormittags. Wie wir uns ans dem Gemenge von Erde, Sand und Rucksäcken und Leinen herauSgearbeitet haben, sind auch schon Eingeborene zur Stelle, die Männer mit großen Bärten und in Schafspelzen, die Frauen in bunter, russischer oder polnischer Tracht. Eine Verständigung nut ihnen scheint, da sie sämtlich des Deutsckzcu unkundig sind, ausgeschlossen; schließ- lich gelingt es unS aber dadurch, daß wir die in unserem Führerbuch gedruckten russischen Fragen einem besonders intelligenten, des Lesens kundigen Manne vorlegen, festzüstellen, daß wir weder in Polen, noch in Galizien, sondern im eigentlichen Rußland sind, und daß das nächste Dorf Matikali heißt. Unser mit Leuchtgas gefüllter Ballon hat uns vier in llstündiger Fahrt ca. 800 Kilometer von Leipzig entfernt und am westlichen Rande der Rakitno-Sümpse gelandet. Die Bevölkerung ist uns sreundlhch gesinnt. Sie Hilst, durch Zeichen von un» angeleitet, beim Verpacken deS BallonS. Inzwischen ist ein russischer Gendarm erschienen. Auch er kann nicht deutsch. Er nimmt unS unsere Pässe, die Karten und die sonstigen Schriftstücke, die wir bei uns führen, ab und geleitet uns nach dem Dorfe. Unser Ballon folgt uns, wohlvcrpackt, auf einen« herbetgeholten, sehr gebrechlich scheinenden Leiterwagen. Unterwegs überholt unS ein berittener, kosakenmaßig ausselMder Gendarm. Er richtet einige Fragen an seinen AmtSgenosfen und reitet dann, uns höflich grüßend, mit lässiger Grazie weiter. Im Dorfe werden wir auf einen kleinen mit Stroh cmSgelegten Leiterwagen verpackt, und nun beginnt eine tolle Fahrt auf der in völlig verwahrlostem Zu- stand« befindlichen Landstraße. Wie ein Boot im Sturm wankt unser Wägelchen, wenn eS durch die vielleicht halbmetertiefen Löcher in der Straße geht. Wir halten un» krampfbaft fest, um nicht hinauSzu- stürzen. Unser Fuhrmann sieht die Sache weniger tragiscd an; er lacht freundlich dazu. Das Nein« Pferdchen läuft unverdrossen. Man sicht cS ihm gar nicht an, daß es 6 Personen — denn der Gen darm und der Fuhrmann haben sicb auch auf den Wagen gesetzt — aus solchem Wege ziehen kann. Bei der Fahrt durcb das Dorf hören wir auch die evsten deutschen Laute. Ein junge» Mädchen, da»
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