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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 19.03.1914
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1914-03-19
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19140319013
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1914031901
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1914031901
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Bemerkung
- S. 10-11 fehlen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-03
- Tag 1914-03-19
-
Monat
1914-03
-
Jahr
1914
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Morgen - Ausgabe S-?ug»pr.Is«: monotUtk »2d M, »lertiyührUch 3.73 M. Set 0rr ^»fchaftssteU«. unsre« ZUiolro uu» NuogodeNeUrn adgrhoUr monatlich i M., »tretrliahrlich IM. Vvrch öir Post, lnnrrhold vrutfchland» und der 0rutschen loloatr« monotltch 1^» M.. virrtrliüheUch 4^4 M.. auoschlir-Uch poNdrftrUget». Vo» lripzi-rr Logrdlatt rrschrlat »rrktog» »mal, Sona- u. Zrirrtag» »mal. 2a Leipzig, 0ra Nachdaeortrn und 0,a chrtrn mit riornrn Moira mir» Sie sidenöourgad« «och am Mdrnö üe» «escheinrn» l. » Hou» grlirfrrt. c erlinrr Nedaktion: 3n d«oZrltra 17. Zrraspr«ch»"aschlug: Moadit Nr.447. ^rntsbloL des Rockes und despolrseuuutes derEtudtLeipzrs «rdaktio« «n>- SrschSstosirUrr ^ohauaiogag, Nr.», » Zrrasprrch-NaschluS Nr. >4042. »4443 ua» »444». los. Jahrgang 4»—'kir Zasrratr au» lripzig and Umg»4««g 4>» /luAelAkllpkkl'L. »spoltigrprtitirtirr-pl. »>« NrNamreritr» M., »oa ouomürt» 34 Pf.. Nrklamrn 1.24 N». Ktr«n« ftnzeigrn »irprNtzctlr nur 24 pf.d wir4rrhol.Nad., Jaseratr oon 0ek4r4«n im amtlichen teil die Petit» -ril, 34 p». ch«schiis«»aar»>srn mit playoorschrist m Preise erhöbt. Nadatt nach Saris, »rilagr« - chrlamtoufl. 3 M 4a» Sausrad ou»schi poNgrdühr. Nnz»ig,u»Nuaahmr^ hohanniogo^r». dr« sämtlichen filiolen 4r» Lripzigrr Cogrdlattr« uni alira Nanoncra-Srpedtttonra dr» 3a» und siuoioadr». chrschdftoslrUr für vrriin u.di« pr.0raa»«ndurg v»rekk>»nWalt«rZli»-«l. vrrlta !v 'S NIargorelbrnNraftr ». Zrrnsprrch» NntchluH: Lünow »47i Nr. 141 Voimerslng. üen IS. Msc». 1914. Vas wichtigste. In der gestrigen Sitzung der Leipziger Stadtverordneten wurde vom Stadtrat eine bedeutsame Erklärung über den Kräfte omnibusverkehr abgegeben. (S. Ber.) * Die Zweite Kammer beschäftigte sich am Mittwoch mit dem Etat des Kultusmini steriums und des Evangelisch-lutheri schen Landeskonsistoriums. (S. Art. u. Ber.) * Die Budgetkommission des Reichs tag es beschloß, beim Plenum dahin zu wir ken, das; der ganze Etat von Kamerun bis zur völligen Aufklärung der Duala-Angelcgen- heit zurückgestellt werde. (S. bes. Art.) * In der Braunschweigischen Lan des Versammlung gedachte am Mittwoch der - Präsident in einer besonderen Ansprache der GcburtdesErbprinzcn. (S. Pol. Ucbers.) * Das Befinden des schwedischen Kö nigs gibt zu Besorgnissen Anlaß. (S. Ausland.) * Aus Duisburg wird wciteresStci- gen des Rheins gemeldet. (S. Nachr. v. Tage.) Kolonien und Eingeborene! Zur Kolonialdebatte im Reichstag. Bon Prof. Dr. Goercke. Der Kolonialetat wurde sowohl im Haus- yaltsausschuß als auch in der Bollversammlung des Reichstages wie in den letzten Jahren, auch in diesem recht eingehend behandelt. Aber der Charakter der Besprechung hat sich mit den Jahren ganz allmählich verschoben, indem aus den scharfen Kämpfen der Parteien unter sich und zwischen einigen von diesen und der Ne- gierung nach und nach eine im großen und gan zen ruhige Erörterung dessen, was not tut, ge worden ist, in der allein die Sozialdemokratie noch den Unversöhnlichen und Unbelehrbaren spielen zu müssen glaubt. Wie lange noch? darf man mit Recht fragen. Herr Noske bereitete Heuer ja auch schon den Umfall bereits init den zwei Sätzen vor, indem er, natürlich unter leb haftester Heiterkeit des Hauses, erklärte: „Man nähert sich allmählich den Anschauungen, die wir (d. h. also die Sozialdemokratie) seit Jah ren hier vertreten", und indem er ferner sagte: „Ich bedaure außerordentlich, daß meine Frak tion noch nicht den Bahnbauten zustimmen kann, weil die Negierung cs uns unmöglich macht." Also so weil sind wir heute nun doch schon gekommen, daß innerlich alle Parteien des Reichstages, oder anders ausgedrückt, daß das ganze deutsche Volk auf den Boden der Kolonial politik getreten ist, wenn man sich hier und da auch noch schämt, seine frühere Haltung auch äußerlich als verfehlt zu bezeichnen. Die Differenzen, die in Einzelfragen selbst verständlich noch vorhanden sind, und ja auch wohl stets vorhanden sein werden, treten gegen wärtig am lebhaftesten in der Ein gebare- nenfrage hervor. Allerdings sind auch hier alle in einer Anerkenntnis einig, nämlich in der, daß die Eingeborenen als das bedeutendste Aktivum in unseren Kolonien anzusehen sind. Ohne sie sind die weiten Länder nicht nutzbar zu machen, ohne sie die Schutzgebiete fast ein totes Gut. Mit besonderer Freude wird daher jede günstige Nachricht über die Bevölkcrungs- verhättnilse der verschiedenen Koloniallandschaf ten, wie z. B. die neue des Hauptmanns Bartsch begrüßt, daß er bei seiner Tätigkeit als Füh rer der Grenzvermcssungskommlssion für das nördliche Ncutamcrun in dem Zwilchenstromland der beiden Logoncquellflüsse eine Bevölkerung von mindestens einer Million Läkencgcr angc- troffen habe. Es ist bei dieser übereinstimmenden Ansicht über den Wert der Eingcborcnenbevölkerung ganz selbstverständlich, daß auch über die Not wendigkeit der Gesunderhaltung oder vielmehr, wie es leider für weite Gebiete heißen muß, einer weitgehenden Hebung der Gesundheitsvcr- hältnisse der Neger Einigkeit herrscht. Die größte Sorge macht dabei natürlich die Schlafkrankheit. Und wenn auch nach der Veröffentlichung des Hauptmanns Ramsay, des Führers der südlichen Kameruner BermessungSkommission, die Seuche den Ubangizipfel, wie anfänglich befürchtet wurde, nicht ganz befallen, sondern seinen nörd lichen GraSlandteil frei gelassen hat, so sind doch anderseits die Angaben des OberstabS- arztes Kuhn jm HaushaltsauSschuß wenig er freulich. Darauf haben wir außer den ostasri- ka nischen auch noch vier Seuchenherde in Kame run, eine ganz bedenkliche Erscheinung ange sichts seiner weiteren Feststellung, daß er die völl ige Ausrottung der die Krankheit übcrtragen- 1 den Fliege für ausgeschlossen halte. Neu wird für viele seine Mitteilung sein, daß es jetzt ge lingt, Kranke zu retten, und zwar 25 bis 30 v. H., daß die Verbreitung auch dieser Krankheit bei Einschränkung der Verwendung der Neger zu Trägcrdiensten, wie ja durch Eisenbahnbauten erstrebt wird, in etwas gehemmt werden kann, wird kaum bestritten. Recht sehr auseinander gehen nun aber die Meinungen hinsichtlich der sonstigen Behandlung der Eingeborenen. Sehen die einen in dem Schwarzen in erster Linie ein Objekt der Er ziehung zur Kultur, im besonderen zum Christen tum, so werten ihn die andern mehr als einen Menschen, der seine Bestimmung erst erfüllt, wenn er wie andere Menschen auch arbeitet und dadurch das Land, in dem er lebt und das im wesentlichen nur durch ihn allein ertragreich ge macht werden kann, für die ganze Menschheit nutzbar macht. Da prallten dann im Reichstage die Gegen sätze recht heftig aufeinander. Der erste sozial demokratische Redner prägte die schönen Worte: ^Die winzige Schicht der Weißen sitzt den Schwarzen wie ein Vampyr im Nacken" und: „Eine schlimmere Sklaverei, wie sie jetzt unter deutscher Herrschaft betrieben wird, ist noch nicht dagewesen." Herr Erzberger aber ging noch weiter, indem er sich wie folgt ausließ: „Die amtlichen Berichte über die Schutzgebiete brin gen fast auf jeder Seite einen durchdringenden Schrei über die Art der Behandlung der Schwar zen auf den Plantagen, und man erfährt Dinge, die man einfach nicht für möglich halten sollte." Demgegenüber meinten andere, daß Schwarze überhaupt nur arbeiteten, wenn sie durchaus müßten. Und diese Redner hätten sich auf einen so ausgezeichneten Kenner Afrikas wie Paul Rohrbach berufen können, aus dessen Vortrag in Eharlottenburg vom 10. Mä«.z berichtet wird, daß er die Banane den Fluch Afrikas genannt habe, weil sie dem Neger ohne irgendwelche Arbeit seine tägliche Nahrung gebe, aber einen Boden beanspruche, der bei richtiger Pflege viel leicht den fünffachen Ertrag, z. B. an Mais zehen würde. „Das jetzige Arbeitstier der chwarzen Rasse ist die Frau, die mit der Hacke >en Boden lockert." Und Herrn Erzbergers Not- chrei ist durch die amtliche Denkschrift selbst zu widerlegen, in der über Ostafrika z. B. gesagt wird (S. 7): „Schwere Mißhandlungen von Sklaven durch ihre .Herren kommen nicht zur Kenntnis der Behörden." Daß aber unbot mäßige Stämme zum Gehorsam gezwungen wer den mußten, ist boch klar, und Herr Erzberger selbst würde wahrscheinlich wenig zufrieden sein, wenn z. B. die im Anfang des Berichts mit geteilte Sühnung der Ermordung des Paters Loupias nicht eingetreten wäre. Und wo sonst die Dinge stehen, „die man einfach nicht für mög lich gehalten hätte", zu erfahren, würde für die Leser der amtlichen Denkschrift jedenfalls sehr interessant sein. Hier handelt es sich also um bedenkliche Uebertreibungen. Ob man im übri gen den Neger als freien Arbeiter auf eigenem Felde oder als Lohnarbeiter in den Plantagen beschäftigen will, in jedem Falle wird er nur nützlich, wenn er wirklich Arbeit leistet. Und dazu muß er nach allen Kennern Afrikas erst erzogen werden. Aber auch für die allgemeine kultu relle Erziehung hat bisher die Gewöhnung an regelmäßige Arbeit als eines der vornehm sten, wenn nicht geradezu als das vornehmste Erziehungsmittel gegolten, freilich für Europäer. Ehe aber nicht etwas anderes als. brauchbarer für Neger nachgewiesen ist, wird man dies Mittel auch bei ihnen nicht entbehren können. Und deshalb erscheint die Mahnung des Kolonial staatssekretärs an die Missionare ganz berechtigt, sie möchten in dem von ihnen oft gepredigten Spruch: „Bete und arbeite" den Ton etwas mehr auf das „arbeite" legen. Der Kultusetat in -er Zweiten Kammer. ^Dresden, 19. März. Die Zweite Kammer beschäftigte sich heute eingehend mit dem Etat des Kultus und öffentlichen Unterrichts. Der nationallibcrale Abgeordnete Dr. Kai ser wies ans bedenkliche Erscheinungen lstn, die auf Vorstöße des Ultramontanismus hindcntetcn. Mit besonderer Betonung verwies er auf den Bautzener Falt wo Boromäerinnen in Kinder asylen protestantische Kinder katholische Gebete hätten sprechen lassen. Der nationalliberale Red ner ist der Ansicht, daß es ein Verstoß gegen das Gesetz von 187ti sei, wenn Mitglieder von Orden oder ordensähnlichen Kongregationen in einem Hause unter eurer Oberin bcisammcnwohnen,' auch dann, wenn ihre Tätigkeit eine charitative fei. Dieser Ansicht pflichtete allerdings der Kultusminister nicht bei, doch gab er zu, daß die Aufnahme evangelischer Kinder in ein von Ordensschwestern geleitetes katholisches Kinderasyl dem Sinne des Gesetzes zuwiderlaufc. Dies sei den Boromäerinnen auch deutlich kund- getan worden. Weiter erklärte der Minister, daß der Dresdner Fall, wo ein Ordensmitglied, wenn auch in einem .Privatkreise, gelegentlich geistlicher Exerzitien auch religiöse Amtshand lungen vorgenommen habe, zu beanstanden ge wesen sei, wert der betreffende Pater versäumt habe, die dazu nölige Erlaubnis nachzusuchcn. Aus eine Anfrage des Sozialdemokraten Uhlig erklärte der Minister, daß die nötige große Schulreform durch die sogenannte kleine Iveder erledigt noch verzögert werden soll. Frei lich lasse sich zurzeit noch nicht sagen, wann der Augenblick für die gewünschte umfassende Reform unseres Volksschulwesens gekommen sein wird. In einer mehr als einstünoigen Rede hatte der Fortschrittler Günther die Vorkommni s«: un ter der Studentenschaft der Technischen Hoch schule in Dresden und die damit zusammen hängende Relegation des Studenten Grafen Wedel behandelt. Er neigte dazu, hinter der Maßregelung des Genannten politische Motive zu suchen. Graf Wedel ist bekanntlich Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei. Dem trat der Minister mit großer Ent schiedenheit entgegen. Es war zn erwarten, daß die Sozialdemo kraten die Gelegenheit nicht vorübergehen las sen würden, um eine für sie wichtige Sache zur Sprache zu bringen: das Verbot des Ein tritts von Fortbildungsschülern in die Arbeiter- Turnerschast. Abg. Keimling unterzog sich dieser Mühe in der üblichen Breite. „Zigaros" Tod. (Pariser Brief.) Paris, 17. März. „Figaro" war Bartholo geworden. „Figaro" wurde das Opfer von Frauenhand, „Figaro" ist tot. Schwarzumrändert erscheint das Blatt, das stolz die Devise Beaumarchais im Titel zu tragen pflegt. „Don den einen gelobt, von den andern getadelt, der Dummen spottend, der Bösen nicht achtend, lache ich schnell über alles, aus Furcht, darüber weinen zu müssen." Die Zeitung des Boulevards ist vom Lachen bei den Tränen anaelangt. In Frankreich tobt der Sturm der Leidenschaften wie an den schlimmsten Tagen der Dreyfus-Krise. .Die Vorgeschichte ist bekannt. Alsbald nachdem Caillaux Las Kabinett Barthou gestürzt hatte, be gann im „Figaro" eine sehr auffällige Kampagne gegen den Finanzminister, geführt vom Chefredakteur Caston Calmette, der als Intimus des Präsidenten Poincarü und Darthous galt. Die Angriffe gegen Caillaux verblieben nicht auf politischem Gebiet. Ma» denunzierte ihn täglich als Finanzbriganten großen Stils. Er sollte Hunderte von Millionen den kleinen Sparern geraubt und in südamerikanischcn Speku lationen vergraben haben. Er sollte Erpressungs versuche bei den großen Bankinstituten zugunsten der radikalen Wahlkassc vorgenommen haben. Dementis regneten — Calmette ließ sich nicht stören, kam sofort mit einer neuen, größeren Beschuldigung. Er grub die alte Sache Rochette wieder aus: Auf Betreiben des Finanzministers sollte unter dem Kabinett Monis dem Exkellner und Bankier Rochette ein ungesetzlicher Prozeßaufschub gewährt worden sein, weil er sich durch hohe Subventionier»»»»« eines ministeriellen Blattes verdient gemacht habe. Eine parlamentarische, von dem Sozialisten Jaurl-s präsidierte Untersuchungs kommission war eingesetzt worl-en, hatte unverrichte ter Dinge wieder abziehen müssen. Rian faselte da mals schon oon einem kompromittierenden Briefe des Ceneralstaatsanwalts Fabre an den Iustizminister. Der Staatsanwalt sollte sich darin bitter über den Zwang beschwert Haden, der ihm angetan wurde: „Nie habe ich eine größ-sre Demütigung erlitten." (Wie schon berichtet, hat Barthou den Brief Fabres am Dienstag in d-rr Kammer verlesen. D. R.) Caston Calmette hatte sich soweit hcrabgelassen, einen alten Liebesbrief des „demagogischen Pluto kraten" zu veröffentlichen. Während Caillaux mit dem Aufgebot aller Kräfte »m Senat sein Einkommcn- stcuerprojekt verteidigte, las man ein autographisch obgebildetes Schreiben von seiner Hand, mit dem Kosenamen „Io" (Joseph) unterzeichnet, in dem cs hieß: „Ich habe die Einkommensteuer zermalmt, in dem ich sie zu verteidigen schien." Diese Zeile hatte er 1901 auf der Ministcrbank gekritzelt, als er, der Sohn eines napoleonischen Ministers und Croß kapitalisten, schon aus der Zentrumspartci eine leichte Schwenkung nach links vorgcnommen hatte. Calmette forderte, daß inan endlich diesen Heuchler „hinaus kehren" möge. Nachdem er schon seit Wochen daraus verzichtet hatte, auf die Angriffe des „Figaro" zu antworten, ließ sich Caillaux wieder herbei, eine Auf. klärung zu geben; gr gestand, damals noch kein so überzeugter Anhänger der Steuerreform gewesen zu sein wie heute, und wies darauf hin, daß es sich da mals um den gleichzeitigen Ersatz der vier indirekten Steuern durch direkte gehandelt habe, während er auch jetzt noch vorsichtig nur für einen teilweisen Er satz eintrcte. Der „Figaro" kündigte mit großem Trara an, er werde auf eigene Kosten den Brief an allen Aiauern Frankreichs anschlagen lassen, damit das Volk endlich den Verräter kennen lerne. Aber in den Parlamenten machte die Enthüllung keinen Eindruck. Welchen Zweck verfolgte Calmette? Schon früher hatte er durch Monate hindurch einen Poli tiker mit ähnlicher Gehässigkeit verfolgt: Delcassö. Die einen wollten auf pathologischem Gebiet die Er klärung suchen, sprachen oon starker Ueberarbeitung, die den Chefredakteur schon einmal zu einer Kalt wasserkur gezwungen hätte. Die anderen flüsterten, daß der „Figaro" letzthin schlechtere Geschäfte gemacht hab«, daß hinter den absichtlich übertriebenen Attacken gewisse Großfinanziers stunden, die Caillaux um leben Preis beseitigen wollten. Zunächst hier die Vorgeschichte des Briefes, jo wie sie in politischen Kreisen kolportiert wird: Caillaux liebte die Frau eines Attaches im Unterstaatssekre tariat der Schönen Künste, setzte derer» Scheidung durch (der Mann wurde Steuereinnehmer) und unterhielt während des kurzen Trennungsprozesses eine sehr vertrauliche Korrespontvnz. Dann heiratete er, ohne dauerndes Glück zu finden. Der jetzt be kanntgewordene Brief soll ihm erst ausgeliefert worden sein, als er sich zu einer Iahresrente von 15 000 Frank entschloß. Aber das Original des Briefes war vorher photographiert worden und soll zu einem neuen „Anleiheoersuch" in Höhe van 50 000 Frank gegen Auslieferung der Platte gedient haben. Die Weigerung zog schlimme Folgen ngch sich — im „Figaro" wußte inan den Wert des Abbildes zu schätzen. In zweiter Ehe begriffen, hatte Caillaux natürlich auch eine zweite Liebeskorrespondcnz ge führt. Und auch Briefe dieser neuen Idylle waren, wer weiß wie, in die Hände Calmettcs geraten. Man munkelte oon einem in Fortsetzungen erscheinenden Feuilleton voll skandalöser Einzelheiten. Die Mi nistersgattin erfuhr davon und fuhr zum Justiz palast, wo ihr ein hoher Beamter erklärte, jedes Ein schreiten wäre unmöglich; es bleibe nichts übrig, als der Veröffentlichung stillschweigend beizuwohnen, da Beleidigungsprozesse dieser Art meistens sehr lange kauerten, nur noch mehr Aufsehen erregten und gar mit dem Freispruch des Beklagten endigen könnten! Mine. Caillaux, die geschiedene Frau von Lüo Cla- retie, eines Mitarbeiters vom „Figaro" und Sohnes vom verstorbenen Direktor der Comödie Fran?aise, faßte ihren Entschluß. Sie mußte wissen, daß die angedrohte Veröffentlichung tatsächlich den Untergang ihres Mannes bedeutete; denn sie führte ihren Plan mit kältester Ueberlegung aus. Calmette glänzte weniger durch Witz, als durch journalistische Erfindungen — „Une ituc par jour". wie Villemessant, der Begründer des „Figaro", ver langt hatte. Die Art und Weise, in der er es zum Direktor des großen Blattes brachte, zeigte, seinen ungewöhnlichen Ehrgeiz: er hatte die Tochter eines der Hauptaktionäre geheiratet und ließ dann die Lberleiter, die seine Freunde und Gönner gewesen waren, aus die Straße setzen — sie gingen nicht frei willig und mußten durch Gerichtsbeschluß aus der Redaktion vertrieben werden. Von dem dreysusisti scheu Organ wurde der „Figaro" wieder zu einem aristokratischen Leibblatt, das in derselben Nummer für Poincares Präsidentschaft eintrat und gleicher weise den bonapartistischen wie orleanistischcn Prä tendenten zur Verfügung stand. Es wurmte Calmette sehr, daß er nicht den politischen Einfluß des „Malin" besaß — seine Freunde versichern heute, er habe so wohl Delcass« als auch Caillaux aus Ueberzeugung befeindet, und sie bestreiten aufs entschiedenste, daß er Briefe der zweiten Frau des Ministers habe ver öffentlichen wollen. Joseph Caillaux befand sich nach der Senats sitzung mit seine»» Sekretären in seinem Kabinett des Finanzministeriums, beschäftigt mit dein Ilnter- ,zeichnen von Aktenstücken, als ein dringender Tele phonruf der Polizeipräfektur ihn von dem Bor gefallenen verständigte. Er mnk mit dem Ruf: „Wie entsetzlich!" in seinem Sessel zusammen, faßte sich aber bald wieder und fuhr mit einen» Auto sogleich nach dem Kommissariat. Dort wollte ihn der Wacht- inan»» nicht einlassen. „Ich bin der Finanzminister Caillaux!". erklärte er, und als der Polizist über rascht zur Seite trat, herrschte ihn der Minister in seiner autoritären Weise an: „Warum grüßen Sie nicht!?" Eiligst nahm der Mann seine militärische Positur ein. Im Zimmer des Kommissars hatte Caillaux eine halbstündige Aussprache mit seiner Frau, die teils sehr stürmisch verlaufen jein soll. Ihr Brief, in dem sie ihm ihren Schritt im vorn herein geschildert hatte, war ihm noch nicht aus der Privatwohnung überbracht worden. Während inan Madame Caillaux nach dem berühmten Frauen- gefängnis Saint-Lazare überführte, telephonierte der Minister an Doumergue, um seinen sofortigen Rück tritt anzukündigen; der Regierungschef bat ihn, bis zu den Abendstunden mit jedem Entschiuß zu warten. In der Tat durften die offiziellen Persönlichkeiten nicht ihre lächelnde Miene ablegen: Um 8 Uhr abends erwartete man sie in der italienischen Bot schäft zu einem offiziellen Essen und großen Empfang! Comtessa Tittoni, die liebenswürdig-graziöse Botschafterin, hatte am Nachmittag ein persönliches Gespräch durchs Telephon mit Mm«. Caillaux ge habt. Die Ministcrsgattin sollte bei der Calatafel zur Linken des Präsidenten Poincar«- sitzen und ent schuldigte sich, daß sie wegen leichten Unwohlseins nicht kommen werde — der Finanzminister werde allein erscheinen. Er erschien nicht! Aber der Prä sident der Republik, Madame Poincarü, Minister präsident Doumergue und andere Minister, Bot schaftcr, Acad5miciens, viel ichöne Frauen saßen am blumengeschrnückten Tisch, plauderten banal und taten so, als habe sie nicht dies unerwartete Drama aufs äußerste erschüttert. Während nachher die reizende G>emma Bellinzioni im golddurchwirkten Spitzen- klerde sang, während die Botschafterin, schlank und vornehin, «in schönes Brillantendiadem im Haar, Hunderte von Gästen willkommen hieß, bildeten sich flüsternde Gruppen in den von Falconnet mit Biskuitengeln dekorierte»» Sälen. Die «inen beklag ten Calmette, die andern Caillaux, andere meinten, es wäre vielleicht die einzige Lösung gewesen, was wieder andere nicht verstanden. Wir sind Caillaux bei Festlichkeiten und Emp fängen in den letzten Wochen ost begegnet, wenn er in zärtlichem Einvernehmen mit seiner Frau und deren Schwester Erholung von den Tag«smühen und Kämpfen suchte. D^e nicht sehr hochoewachsene, an mutige Brünette, die keine Schönheit von blendendem Rang »var. würde niemand auf die Vermutung ge bracht haben, daß sie eines Mordanschlags fähig sei. Gewiß haben die »m stillen offenbarten Schmerzen, die Caillaux vor der Oeffentlichkeit über die Vcr leumdungskampagne nicht erkennen ließ, großen Ein druck auf die Gattin gemacht, ihren Verstand getrübt. Carl Lahm
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