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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 03.01.1914
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1914-01-03
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19140103014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1914010301
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1914010301
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-01
- Tag 1914-01-03
-
Monat
1914-01
-
Jahr
1914
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Sonnsvenü, s. Januar I9l4> Nr. 4. Margeu-Nus-ade. Seltt 7. LeipHiger Tageblatt. »WM Kunst unä Wissenseligfl «MWWWW von -en -eutfthen Universitäten im Winter 191S/14. SS SSI Univerfitiitsstudenten. Das deutsche Universitätsleben hat bekannt lich parallel mit der ungeheuren Entfaltung der deutschen Volkswirtschaft sine ungeahnte Ent wicklung genommen. Die Studentenziffer ist von etwa 13 000 zur Zeit der Neichsgründung, 1880 bereits auf 20000 und zehn Jahre später auf L8 000 gestiegen und erreichte schon 1909 das halbe Hunderttausend. Im letztverflossenen Jahrfünft war die Zunahme noch stärker: 1911 ist die akademisctw Bürgerschaft des Reichs auf 57 230 angewachsen, im Winter des letzten Jah res auf 58921 und im laufenden Winterhalb jahr sind die 21 Universitäten des Reichs von 59 601 Studierenden (55 914 Männer und 3686 Frauen) besucht worden. Dieser enorme Zu fluß zu den höheren Studien steht wohl zu der gleichzeitigen Bevöllerungsvcrmehrung in gar keinem Verhältnis, aber es ist zu beachten, daß unser veränderter Staats- und Volkstörper jetzt weit mehr akademisch Gebildeter bedarf und her vorbringen kann, als früher, und daß die im Laufe der letzten Jahrzehnte fast bei allen Stu dienfächern eingetretene Verlängerung der vor geschriebenen oder tatsächlichen Studienzeit die Studentenziffer nur scheinbar so stark vermehrte. Zu einen: kleinen Teil ist die Zunahme des Uni versitätsbesuchs auch auf das Eindringen der Frau in die gelehrten Berufe und den Zuzug ausländischer Elemente zurückzuführen. Letztere erhöhten ihre Ziffer seit 1870 von etwa 700 auf 5000. Die Zahlen des neuen Studien semesters zeigen, daß der Zudrang zu den Uni- vcrsitätsstndien nicht unbeträchtlich zurückgeht. Während vor einigen Semestern noch Jahres zunahmen zwischen 2000 und 3000 die Regel waren, belief sich im Vorjahr die Steigerung nur noch auf 1500, und in diesem Winter be trägt sie nur 680. Was den Zugang zu den einzelnen akade mischen Berufen bet.L ft, so zeigt sich auch hierin neuestens eine Wandlung, die der jüngsten Ent wicklung der Anstellungs- und Versorgungsver hältnisse einiger Berufe entspricht, nämlich ein Rückgang der Kandidaten des höheren Lehramts philologischer und realistischer Richtung, eine weitere Abnahme der Juristen und anderseits die erwünschte Zunahme der evangelischen Theo logen; die Mediziner gingen weiter in die Höhe, und auch die Zahnärzte zeigen nach längeren: Rückgang wieder aufsteigende Tendenz. Im ein zelnen ergeben sich folgende Bestandszifferu, denen wir die vorjährigen in Klammern bei fügen: Philosophie, Philologie oder Geschichte studieren,14 864 (gegen 15 864), Medizin 15 088 (14 002), Rechtswissenschaft 9941 (10 569), Ma thematik und Naturwissenschaften 7956 (8160), evangelische Theologie 3903 (3386), katholische Theologie 1936 (1787), Kameralia und Land wirtschaft 3761 (3295), Pharmazie 1017 (1047), Zahnheilkunde 762 (607), ferner, soweit diese Fächer an Universitäten gelehrt werden, Forst wissenschaft (in München, Gießen und Tübingen) 195 (179), Tierheilkunde (nur in Gießen) 203 (205). Den Bcsuchszahlen der einzelnen Universi täten sind, um ihre Entwicklung im einzelnen und in: Verhältnis zueinander binnen Jahres frist darzustcllen, die entsprechenden Zahlen des vorjährigen Winters gcgenübergestcllt. Berlin steht ai: der Spitze mit 9593 Studierenden (gegen 9806 im Vorjahr), dann folgen München mit 6802 (6759), Leipzig zählt 5532 (5351), Bonn 4270 (4179), Halle 2910 (2906), Göttingen 2815 (2660), Breslau 2791 (2710), Freiburg 2572 (2627), Heidelberg 2409 (2264), Marburg 2168 (2075), Münster 2123 (2189), Straßburg 2092 (2063), Tübingen 1887 (18981, Jena 1862 (1842), Kiel 1847 (1738), Königsberg 1o68 (1658), Würz burg 1515 (1455), Erlangei: 1341 (1261), Gießen 1340 (1338), Greifswald 1250 (1260), Rostock 914 (881). Mit 5222 Hörern (3767 Männern und 1455 Frauen) nahmen diesen Winter- 64 823 Personen am deutschen Universitätsunterricht teil. * „Parsifal" im Frankfurter Stadtthsater. Unser Frankfurter v.-Theaterreferent tele graphiert uns: Im Frankfurter Stadttheater kam „Parsifal" am Freitao abend mit ganz bedeu tend künstlerischem Erfolge zur ersten Ausfüh rung. Ein trotz ganz außergewöhnlich hoher Preise glänzend besetztes Haus nahm die ein drucksvolle Vorstellung init ehrfurchtsvollen: Schweigen auf. Herr Hutt als Parsifal bot eine gesancckick mehr als darstellerisch bedeutende Leistung, Breiten feld einen schmerzbeweg- ten Amsortas, Frau Schelt er eine sehr dra matische Kundrh. Im ganzen zeigte sich im Orchester und in den Chören eine wesentliche Steigerung gegenüber der halbüsfentlichen Ge neralprobe. Lefflers Bühnenbilder waren sehr geschmackvoll, besonders anziehend die schwierige Szene der Blumenmädchen, die auch in dec dar stellerischen Wiedergabe sehr gut gelang. Die Gesamtvorstellung bewegte sich auf einem sehr hohen Niveau und gab ein gutes Bild von der Leistungsfähigkeit des Frankfurter Stadttheitecs. * Kulissenbrand im Weimarer Hoftheater. Wie uns gemeldet wird, entstand Donnerstag abend im Weimarer Hoftheater während der Aufführung des „Freischütz" in der Wolfsschluchtszcne ein Kulissen brand. Die linke vordere Sositte wurde durch einen Blitzstrahl entzündet und brannte lichterloh. D-e Szene mußte abgebrochen werden und der Vorhang mußte fallen. Die Flammen drangen unter de: eisernen Vorhang hervor. Einige erschreckte Zu schauer wollten das Theater verlassen, wurden aber zurückgchalten. Das Feuer wurde bald gelöscht und die Vorstellung konnte ohne Störung zu Ende geführt werden. * Moderne portugiesische Musik. Die portugiesischen Komponisten machen in der letzten Zeit besondere Anstrengungen, die Gleichgültigkeit des Publikums, die bisher jedem Fortschritte auf musikalischem Ge biet in ihrem Lande entgegenstand, zu überwinden. So gab dieser Tage die Gesellschait der portugiesischen Musiker im Nationaltheater von Lissavon ein großes Sinfoniekonzert mit ausschließlich portugie sischen Kompositionen, die von ihren Schöpfern selbst dirigiert wurden. Man hörte da einen Marsch von Fluviano R adrig uez und eine zweisätzige Fan tasie von Manoll Tav ar es, ferner „Esbyeoa orchestraes" in vier Sätzen von Vincenzo Pinto, eine „Rapsodie slava", die ausgezeichnete Kompo sition eines talentvollen jungen Künstlers David De Eanza, der auch als Orchesterdirigent Vorzügliches leistete. „Scenes compestres" eine sehr gefällige Komposition von lokalem Charakter, die vielen Bei fall fand, und schließlich eine „Ode patriotica" für Gesang und Orchester von Filippo De Selva. Kd. * Ein aus dem Jahre 1559 stammender gewirkter Fries aus Lüneburg ist vom hannoverschen Kejtner- museum erworben worden und jetzt imTreppenhause da selbst ausgestellt. Der Fries i>: ein sogenanntes Rücken laken, das zrüyer in vornehmen Häusern hinten über den Sitzbänten zum Anlehnen des Rückens angebracht wurde, hat eine Länge von übe: acht Meter und stellt in zehn Bildern die alttestamentliche Geschichte des Tobias dar. Außer den Blldern, die gut er halten und durch Säulen getrennt sind, sind in den Fries die beiden Wappen der Lüneburger Patrizier- samilien Wietzendorf und Döhring eingewebt. Wo der Fries gewebt ist, darüber herrscht zurzeit trotz aller Nachforschungen »och keine Klarheit. Ts ist nicht unmöglich, daß er in Lüneburg selbst hergestellt ist. Die Farben des Gewebes haben sich trotz des hohen Alters frisch erhalten. * Oberkonfistoriakrat von Hase gestorben! Wie gemeldet wird, verschied in Breslau in der Neu- jahrsnacht Oberkonsistorialrat Professor v. Hase im Alter von 71 Jahren. Karl Alfred v. Hase war in Jena geboren als Sohn des Kirchenhistorikers Karl o. Hase. Er ist ebenso als Seelsorger wie als Dozent wirksam gewesen und durch zahlreiche theologische wie religiöse Schriften hervvrgetreten. * Der Sieg Simons von Utrecht über den See räuber Klaus Störtebeck im Jahre 1402 bildet Las Motiv eines Gemäldes, das der Leipziger Maler Hans HLrniak rn der Kunsthand lung von Hermann Findel am Neumarkt ausstcllt. Der Künstler, dessen Gemälde „Der Kreuzer Leipzig" bekanntlich vom Rat der Stadt Leipzig angekauft wurde, hat auch hier in kräftiger Farbenstimmung und gu: herausgeholten Effekten ein Seestück von packender Wirkung ge schaffen. * Französische Ausgrabungen in Griechenland. Ueber die letzten Arbeiten d-er französischen Schule von Athen erstattete ihr Direktor Fougöres in der Pariser Acadcmie des Jnscriptwns einen ein gehenden Bericht. Die Entdeckungen in Delos haben gezeigt, welche Entwicklung der Apollolult ge nommen hat: im Beginn war das Heiligtum des Gottes auf dem Berge in einer Höhl«, in der eine Quelle entsprang, und erst später kommt es in die Ebene herab und wird hier in allen Teilen ausae- baut. In Delphi wurde besonders der Apollo tempel genau untersucht, und auch die beiden Heilig tümer, die sich an den Seiten des großen Tempels ' erheben, wurden von Blum in ihrer Lage genau fest gestellt. In Orchomcnos in Arkadien hat man zwei Städte aus verschiedenen Epochen erforscht; die ältere lag auf dein Gipfel eines Hügels, auf dessen Abhängen die zweite Stadt gebaut war, die zur Zeit des Pausaniers bewohnt war. In der oberen Stadl hat man Mauerrestc bloßgelegt, die den Markt und ein Heiligtum der Artemis Mesopolltis umgaben; in der unteren zeigte ein Säulcnknauf, der aus dem Boden hervorragte, die Stätte an, an der ein sehr schöner dorischer Tempel von 15 : 30 Meter lag, den man wieder aufdeckcn konnte. Am Nordabhang des Hügels wurde ein Theater entdeckt, dessen Stufen zum Teil aus dem Fels gehauen, zum Teil künstlich waren. In Nemea wurde in einer sehr kurzen Ausgrabungsepoche ein Tempel festgestellt, der in allen Punkten dem Athenatempel in Thegea ent spricht; die innere Anordnung der Zelle gibt die des Pantheon wieder. Auch in Kleinasien wurden von der französischen Schule erfolgreick/e Grabungen unternommen. In Kla ros nördlich vom Meer busen von Ephesos untersuchte Piard einen Apollo tempel und eine Höhle des Klarischen Apollo, in der er Scherben von Töpferwaren fand. Zwischen dem Tempel von Klaras und dem von Delphi bildete der von Delos das Bindeglied zwischen Asien und Grie chenland. Schließlich wurde in Aphrodrsras ein sehr bemerkenswertes Kalossaldcnkmal erforscht, dessen Bedeutung man jedoch noch nicht sicher er kannt hat. * Ein deutscher Vortrag in England. Die deut schen Gelehrten sind es ganz gewöhnt, sich der fremden Sprache zu bedienen, wenn sie ins Ausland zu einem Vortrag eingeladen werden, und man kann wohl jagen, daß die Mehrzahl der hervorragendsten Ver treter der deutschen Wissenschaft wenigstens das Englische und Französische hmreichend beherrscht. Ob sie gut daran tun, diese Fähigkeit als selbst verständlich hinzustellen, ist eine Frage. Die Deutschen rechnen gar nicht darauf, daß ein Engländer in ihrem Lande einen deutschen Vortrag hält. Der sympathische Shackleton, als er in einer großen Berliner Eewllschast einen Vortrag über seine Sudpolarreise hielt, versuchte es zwar ein mal, seine Rede deutsch abzulejen. Da er aber die deutschen Worte englisch ausiprach — z. B. das Wort tatsächlich als tälsetscblaik —, wurde er darauf auf merksam gemacht, daß die Zuhörer ihn jedenfalls immer noch besser verstehen würden, wenn er Eng lisch spräche. Es ist in dem Zusammenhang be achtenswert, daß der Physiologe Dr. Trainer vor einer Woche in Edinburg einen Vortrag in deutscher Sprache unter großem Beifall gehalten hat. Er behandelte darin ein ebenso schwieriges wie fesselndes Thema, nämlich „Leben und Tod". Das Leben be zeichnet er al» zusammenfassenden Begriff von Er scheinungen. die in einer Lösung von anorganischen und komplizierten organischen Stoffen auftreten, wenn gewisse chemische und physikalische Bedingungen erfüllt sind. Danach muß es auch theoretisch möglich sein, daß Leben von neuem entsteht und daß lebende Materie sogar im Laboratorium erzeugt werden könnte. Aber selbst wenn das jemals gelingen sollte, würden die Rätsel der Tätigkeit des Bewußtseins, des Gedächtnisses und der Fähigkeit zu weiterer Entwicklung ungelöst bleiben. * Ein internationaler Meteorologenkongreß soll in: nächsten September auf Einladung der italie nischen Meteorologischen Gesellschaft in Venedig obgehalten werden. Rach dem vorläufig festgestellten Programm wird die Erörterung der Fragen, die mit der Erforschung der höheren Luftschichten verknüpft sind, den Hauptteil der Verhandlungen einnehmen. Eigne Abteilungen sind für Klimatologie, Aerologie, reine Meteorologie und Meteorologie des Meers bestimmt. Den Besuchern des Kongresses werden be sondere Erleichterungen für die Reise nach Venedig zugesagt. Die Vorbereitungen hat der Direktor des Patriarchalischen Observatoriums in Venedig Dr. O'Earrel übernommen. * Verletzung des Briefgeheimnisses durch Röntgen strahlen. Die „Tgl. Rdsch." berichtet: Dr. Hall- Edwards, dessen Nam« ungerechterweise mehr wegen seines Martyriums durch die von Röntgen strahlen erlittenen Verletzungen als durch seine be deutenden Leistungen in ihrer Erforschung bekannt geworden ist, hat seinen Verdiensten in der unermüd lichen Verfolgung seiner Untersuchungen ein neues hinzugcfügt. Er hat nachgewiesen, daß man durch Röntgenphotographie den Jnnenbau von Blumen aufs genaueste studieren kann, ein Triumph der Röntgentechnik, den man sich noch vor wenigen Jahren nicht hätte träumen lassen. Werden solche Bilder stereoskopisch betrachtet, so lassen sich die feinsten Einzelheiten in der Lagerung der Samen in ihrer Kapsel, im Ansatz der Staubfäden usw. erkennen. Das stereoskopische Verfahren ist noch in einer wei teren Vervollkommnung begriffen, nach deren Er zielung cs geradezu ein ideales Mittel für botanische Forschungen geben wird. Dr. Hall hat noch etwas anderes zuwege gebracht, dessen allgemeine An erkennung weniger sicher ist, das vielmehr mit ge mischten Gefühlen begrüßt werden wird. Er hat nämlich nachgewiesen, daß die Röntgenstrahlen ein Mittel geben, den Inhalt versiegelter Briefe zu ent hüllen. Glücklicherweise erstreckt sich diese Fähigkeit der unheimlichen Strahlen nicht auf jede gewöhnliche Schrift, sondern, wenigstens vorläufig, auf solche mit einer besonderen Tinte. Wenn damit ein Bogen be schrieben und ungefaltet in einen Umschlag gelegt worden war, so konnten die Worte auf der Röntgen photographie ohne Mühe gelesen werden. Wahr scheinlich werden die Versuche jedoch zeigen, daß diese Sache weniger harmlos ist, als sie sich danach darzustellcn scheint, denn es ist anzunehmen, daß jede Schrift auf diese Weise in einem verschlossenen und versiegelten Brief gelesen werden kann, die mit einer metallhaltigen Tinte geschrieben ist. Bisher sind die Versuche allerdings auch nur gelungen, wenn ein einziges Blatt Papier in den Umschlag gesteckt wurde. Dr. Hall nimmt jedoch an, daß es durch eine stereoskopische Aufnahme auch möglich sein wird, ge faltete Briefe mit Hilfe der Röntgenstrahlen zu ent ziffern. Die Versuche werden entsprechend fortgesetzt. Wahrscheinlich wettien dann mit der Zeit die Händler metallisiertes Papier für Briefumschläge empfehlen, da auf diese Weise der Inhalt „röntgen sicher" gemocht werden kann. Freilich werden die Umschläge ein verhältnismäßig hohes Gewicht haben, so daß die Röntgenstrahlen in letzter Linie für den Säckel der Postverwaltung arbeiten würden. „Mtt pttsm Mehrung." 32s Roman von Arthur Babillotte. Nachdruck verböte». ,F), Monsieur Picard," sagte Gabriele Pe- rier, „das ist uns doch allen so gegangen, die sen schmerzhaften Uebergang aus der alten in die neue Zeit haben wir doch alle einmal mehr oder weniger ourchzumachen . . ." Dicht vor ihr blieb er stehen, seine Augen flammten, eine Hoffnung erhob sich als schwaches Leuchten in ihrem Hintergrund. „Sie haben das durchgemacht, wirklich durchgemacht, Madame Perier?" Er fieberte; der starte Mann entäußerte sich jetzt vor einer schwachen Frau allen Kräfteaufwandes, und es stellte sich heraus, daß er seine Schwächen und Verwund barkeiten hatte, wie jeder von uns. Gabriele Perier lächelte tröstend. „Glau ben Sie, Monsieur Picard, es ist leicht, seine Eltern in bescheidenen Verhältnissen zu wissen, wenn man selbst im Hanfsamen sitzt? Und glauben Sie, daß diese Unruhe ge:nildert wird, ivenn einem die Eltern nicht einmal gestatten, daß man ihnen ihr Leben ein bißchen ausschmückt und sonniger und leichter einrichtet? Die Zeit ist eine andere, als sie früher war, Monswur Picard, und es ist ein großer Fehler, daß die Kinder in der Vergangenheit erzogen werden, statt in der Gegenwart." Sie zog hastig die Uhr aus dem Gürtel, eine wunderzierliche diamantenbesetzte Minia turuhr, aus einem breiten Wildledergürtel, der in Farbe und Schloß wunderbar abgetönt war und sich weich in die Farbe des Kostüms schmiegte. „Um Gottes willen!" rief sie. „Ich habe mich bereits viel zu lange aufgehalten. Gewiß er wartet mich mein Wann schon eine ganze "Weile . . ." Es war Picard, als habe ibn eine rauhe Hand aus dem Garten seiner gläubigen Ruhe in den Staub der Landstraße gestoßen, von der er gekommen war, und die er im Leben wohl nicht verlassen sollte. Er hatte nicht mit einem Gedanken daran gedacht, daß Perier auch in der Nähe sein könnte. Jetzt aber begriff er: die Zeitungsnotiz hatte den Fabrikanten herauf getrieben, man mußte beraten, Gegenminen legen, um den Plan Beyers zunichte zu machen. „Ah so!" sagte er kühl. „Ich will Sie nicht aufhalten." Sie gingen ohne Händedruck auseinander. Picard hörte ihr Kleid in der Ferne des dunk len Waldes rauschen. Es rauscht doch! dachte er ganz mechanisch. Tief in der Nacht kehrte er endlich nach Hause zurück, von Madame Pipinette mit Sorge erwartet. -st H „Nein, das ist wüst von Euch, Monsieur Picard," sagte der Notar mit seiner knarren den Stimme. „Man muß doch leben und leben lassen. Und Ihr habets doch net nötig, so ein Unternehmen auzufangen und unserer Gesellschaft so einen Stoß zu versetzen . . ." „Ja? Versetzt 's ihr einen Stoß?" lachte Picard. „Was wollet Ihr, das sind die heu tigen Zeiten. Da heißts: erst komm ich, da nach noch einmal ich und zu«: drittenmal ich, danach kommt ein großer, großer, leerer Platz — und danach, danach kommen erst die andern. Ja, das ist so, das lernt man nach und nach, wenn mans net von Anfang an in sich hat." Ohne etwas zu erwidern, kletterte der alte Mann die Treppe hinauf, um seinen tranken Schreiber zu besucheu. „Waun können wir wieder autrcteu?" fragte er, nachdem er sorgfältig das Fenster geschlos sen — „es zieht so herein," sagte er, — und sein Cacheuez fester um den dürren Hais gc wickelt hatte. Emile Caler lächelte vertrauensvoll. „Bald, bald, Monsieur Is notnire!" Bekam er nicht jede:: vierte«: oder fünften Tag seinen langen Brief von Germaine? War das nicht besser und wirksamer als alle Medi zin, die der Arzt in ganze«: Reihen von Fla schen und Fläschchen auf dem Tischchen neben seinem Bette aufpflanztc? Und vor allem das Bewußtsein: Germaine geht es so gut, wie es unter diesen Umstände«: möglich ist, — dieses schöne, sichere Bewußtsein war ihm ei«: guter Helfer uud ei«: Ansporn, wieder zu Kräften zu kommen. Germaine hatte Untertunst bei einer gutbürgcrlichen Familie in Colory la Grande gefunden. Sie gab sich den ganzen Tag init zwei kleine«: Junge«: vo«: zwei und vier Jahren ab und konnte in ihre«: Briefe«: nicht bunt ge nug de«: Jubel schildern, den sie über die „süßen, herzigen" Blondköpfe empfinde. „Ja, wen«: Sie nicht bald wieder auf de«: Beine«: sind, Caler," sagte der Notar in einer Art knurriger Verärgertheit, „muß ich einen Ersatzmann anstellen. Ich kann es nicht mehr alle:«: bewältigen!" Das schmerzte deu jungen Menschen. Trotz seiner Tichterflüge hatte er gewissenhaft und treu die Pflichten des Alltags erfüllt und hatte sogar de«: alte«: Mann bis zu 'einer leisen An hänglichkeit liebgewonnen. Ec konnte wohl ver stehen, baß es den: Siebzigjährigen schwer fiel, die ganze Arbeit allei«: über die Schultern zu werfen. Aber nun war er ja bald wieder ge sund und konnte seine Hände doppelt rühren, um alles einzubriugen, was in diesen Wochen der Krankheit versäumt worden war. Uud daun, wenn er de«: Bai: wieder in de«: rechte«: Winkel gebracht hatte, daun . . . ja, was dann gesche hen würde, das schwebte ihn: vorerst noch als dunkle Wand vor de«: Augen, von oer er nur wußte, daß sie etwas Reiches uud Köstliches verdecke. . . Als ihn Beranger verlassen hatte, griff Emile Caler zu Bleistift und Papier, um der Geliebten einen Brief zu schreioen. Die ersten Worte tamen zittrig auf die weiße Fläche; es geht I)eute so sonderbar schwerfällig, dachte der junge Mellsch ... Es war, als wolle die Hand den Gehorsam veriveigern. Ci«: lähmender Krampf begann in: Handgcleni aufzutauchen, sprau'g rasch den Arm hinauf bis unter die Achselhöhle uud biß sich da fest. Und plötzlich lösten sich die Finger, der Bleistift rollte über die Decke zu Boden. Zu gleicher Zeit be gannen graue Nebel vor den Augen des Kran ke«: hi«: und her zu schwanken. Er wollte die Hand erheben, um sie fortzuwischen. Blei schwer lag sie auf der Decke und konnte nicht bewegt werden. Da faßte den jungen Men sche«: Todesangst. So laut er konnte, rief er um Hilfe. Seine gebrochene heisere Stimme schlug ängstlich mit den Flügeln flatternd gegen die Wände des Ziimners und fand keinen Ausgang. Ta versuchte er ::: seiner Todesangst den Keinen Tisch neben seinem Lager uinzustoßen. Nach vielem Keucl>en und Aechzen gelang es endlich. Vo«: dem lauten Getöse, das der stür zende Tisch und die zerklirrenden Medizinfla schen verursachten, wurde Madame Pipinette aus der Küche aufgetrieben. Es kam zutage, daß sich in de«: kranken Lungen des Mensche«: irgendein feindlicher Vor fall abgespielt hatte, der eine rechtsseitige Lähmung herbeiführte. Mit Entsetzen dachte Emile Caler als ersten Gedanken: Jetzt kann ich nicht mehr an Germaine schreiben . . .? Madame Pipinette suchte ihn zu trösten, so gut sie es vermochte; das werde sich gewiß wieder legen, ei«: paar Tage völliger Ruhe hätten schon ost Wunder gewirkt, und nmn müsse nur Geduld haben . . . „Was soll denn Gernmine denken ! Was soll denn nur Germaine denken!" jammerte er immerfort. Ah, Germaine . . . Ei«: unsicheres Licht be gann :n Andrö Picard, der neben Madame Pipi nette am Krankenbette stand, anfzuflackern. Hatte er sie nicht vergessen unter den großen Erreg«««« gen und Arbeiten der letzten Wochen? Wenn ihm ciiunal eine Viertelstunde der Kopf frei geblieben war, hatte er sich an das Bett des Kranke«: gesetzt, nicht nm init ihn: zu plan der««, sonder«: nur, um einmal wieder ungestört zu sitzen und einen Mensche«: vor sich sehen zu können, der ihn nicht mit laute«: Reden, Vor Schlägen, Kraftausbrüchen quälte. Nie hatte sich an die Seite des Kranke«: Germaine gesellt. „Wie gehts den«: der Mademoiselle Ger maine?" fragte er jetzt, Halo aus den: Interesse des Nachbars heraus, halb getrieben vo«: einer heimliche«: Wehmut und einer Selbstanklagc, die er sich nicht zugeben mochte. Er erfuhr also von den: verhältnismäßig erträglichen Leben des Mädchens. „Sie ist be« braven, guten Leuten in Coloroy la Grande, bei zwe: kleinen Kindern," berichtete der Kranke. „Und jetzt kann ich ihr nicht mehr schrei ben!" brach der gleiche Schmerz dahinter her. Da geschah das Sonderbare. „Ich will Ihnen etivas sagen, Caler," sagte Andre Picaro be dächtig, „wenn ich abends Zeit habe, — es kommt ja nicht jeden Abend vor, — so null ich die Briefe gern für Sie schreiben." Cs war kett: Edelmut in diesem Entschluß, das wußte er wohl. Der leise Duft, der ihm an: erste«: Tag von ihrem Wesen entgegengeweht, war wie eine Gnade durch das Zimmer und an ihm vorbeigezogen. So hielt er es von diesem Tage an. Wen,: ihm seine Pläne und die nötigen Arbeiten des tägliche«: Lebens Zeit ließen, stieg er die Helle, «n:t neuen Stufen geschmückte Treppe hinauf, setzte sich vor das kleine Tischchen neben dem Bett und begann mit seinen großen eckigen Buch staben alles niederzumalen, was ihm der SraE vorsprach. (Fortsetzung iu der Abendausgabe.)
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