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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 07.06.1914
- Erscheinungsdatum
- 1914-06-07
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191406070
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19140607
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19140607
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1914
-
Monat
1914-06
- Tag 1914-06-07
-
Monat
1914-06
-
Jahr
1914
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Srtte 22. Nr. 284. Sonntags»Nusgave. Leipziger Tageblatt. Soruttsy, 7. Juul l914. - 4^ r« Unterhaltungsbeilage 4» Sonntagsgeöankrn. Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, Hat auch Religion. Goethe. Wer aus diesen Zeilen eine Erklärung heraus, lesen will, als ob Goethe die Religion sozusagen jür überflüssig gehalten habe — wenn auch nur über flüssig für die Gebildeten —, der kennt den Weisen von Weimar schlecht. Wer aber weiß, wie sehr ihm auch seine Ratursorschung und seine Dichtung als ein Gottesdienst galt, wie sehr er gewöhnt war, alles Zeitliche auf ein Ewiges zu beziehen und des halb auch Wissenschaft und Kunst nur in diesem heiligen Lichte sah, der begreift jenen Ausspruch in den „Zahmen Genien" als ein wahrhaft frommes Wort. Und noch tiefer ^greift man, wenn man sich er- innert, wie nahe die Goethesci>e Zeit noch der Rousseauifchen stand, und wie warm auch Goethe sich für diesen französischen Gedankenrevolutionür noch begeistern konnte. Aber in Goethe tat doch auch die Zeit schon einen mächtigen schritt über Rousseau hinaus. Und jene enge Begleichung von Kunst und Wissenschaft mit dem religiösen Erleben ist, gründlich begriffen, der Protest gegen Rousseans Verachtung. Hatte nicht Rousseau die Frage der Akademie, ob Wissenschasten und Künste die Sitten veredeln, mit einem leidenschaftlichen „Rein" beantwortet? „Das tägliche steigen und Fallen der Meeres» wellen, heißt es da, ist nicht regelmäßiger dem Wen del des Gestirns unterworfen, oas unsere Rächte er» hellt, als das Geschick der Sitten und der Redlichkeit dem Fortschritte der Wissenschasten und Künste. Man sah die Jugend in gleichem Maßstabe entfliehen, wie jenes Licht an unserem Horizonte emporstieg." Und dann folgte das sonderbare Lob Spartas: „O Sparta, du ewige Widerlegung einer eiteln Doktrin! Wäh rend, von den schönen Künsten geführt, die Lasten gemeinsam sich in Athen einfanden, verjagtest du aus deinen Mauern Vie Künste und die Künstler, die Wissenschaften und die Gelehrten!" Und dieses Lob des banausischen Sparta schrieb einer, der selbst beides war: Künstler und Gelehrter! Zorniger hat wohl kaum jemand auf das ge scholten, was sein eigenster innerer Beruf war. Aber hinter diesem Zorn barg sich in Wahrheit doch nur die enttäuschte Liebe, und vielleicht noch ein paar unreife Zweifel. Es ist war: ost ist über der Fülle der geistigen Kultur die Pflege der moralischen Kraft versäumt worden. Und so konnte wohl in der Geschichte zu Zeiten auch ein rol>es Barbarenvolk einmal als Sieger triumphieren auf den Trümmern einer Welt, die geistig bergeboch über ihr lag. Und Rousseaus voreiligen Schlug hat seitdem noch mancher ander« gezogen, das» ein gewisses Maß von Roheit für die Lebenskraft eines Volkes schließlich heil samer jein könne, als eine feinere Bildung. Aber Rousseau vergaß, daß es doch eben nicht die Spartaner rvaren, die bet Marathon und Salamis die Freiheit Europas vor dem orientlischen Despo tismus bewahrten. Die kamen vielmehr das eine Mal zu spät und wollten das andere Mal vor der Entscheidung abrücken. Und welch seine Ironie liegt in der Sage, daß es den Spartanern auch in ihren massenischen Kriegen erst recht übel erging, bis ihnen die Athener — den lahmen Schulmeister Tyrtäos zu Hilfe schickten. Der erst gab mit seinen Liedern ihren Heeren den moralischen Schwung, der sie über die feindlichen Berge trug. Eine tiefsinnige Parabel auf die Macht des Geistes! So lassen sich Rousseausche Zweifel wohl wider- legen. Was aber den Zorn seiner Enttäuschung an- langt, so wird man ihn gern nachfühlen. Wb sich Afterkunst und Afterwissenschaft aufbläht, da vcr- dient sie nicht besser behandelt zu werden, als Rousseau sie behandelt hat. Nur sie eigentlich trifft er. Denn an anderen Stellen der gleichen Schrift redet er von Descartes und Newton als den „Er ziehern des Menschengeschlechts:", und spricht von „Meisterwerken der dramatischen Poesie" und von „Wundern der Harmonie", die wahre Kunst schafft. "Wer kann da noch verkennen, daß all seine grimmigen Anklagen nur durch die edelste Leidenschaft so ver stärkt werden, daß sie die Widersprüche der echten Wissenschaft und der echten Kunst übertönen? Solcher Leidenschaftlichkeit ist Goethes Wesen ab geneigt. Auch baut er lieber schaffend Vas Gute auf, statt das Schlechte kritisch zu zerstören. Gott hat eben auch in der geistigen Welt die Berufe ver schieden verteilt. Und so dringt in Goethe die Widerlegung Rousseaus durch, soweit sie nötig war. Wozu denn leben wir schließlich? Es wäre ja doch ein Unsinn, wenn die Welt wirklich nur dazu da wäre, daß rauhe Barbarenvölker von Zeit zu Zeit immer wieder Triumphe feiern könnten! Ent weder der Sinn des Daseins liegt in der edleren Kultur oder es hat überhaupt keinen. Denn das ist kein „Sinn", daß die Körperkraft über den Geist Herr sei, und für diesen nur die kümmerliche Nolle des Kriegsknechts und Waffenschmiedes, vielleicht auch noch die eines Spaßmachers und Zeitvertreibers übrig bleibe. Das wäre kein Sinn, und das hieße Gott herabsetzen. Wer in der Kunst und in der Wissenschaft die Erhöhung und den 'Wert seines Le bens sucht und den Wert des Lebens und der Welt überhaupt, Ver kann gar nicht an ders, als an das Göttliche glauben, und in seinem Dienste fromm sein. Denn die Kunst ist so voll von Religion, wie die Menschheit reich an Gemüt. Die Wissenschaft aber, die der Wahrheit nachgeht, kann nicht anders als ehrfurchtsvoll vor dem geahnten Ziel und Gipfel aller Wahrheit stehen. So erst kommt die Menschensecle zum Bewußtsein ihrer tief sten Tiefen und ihrer höchsten Höhen. Kunst und Wissenschaft machen uns erst zu Menschen. Auf ihrem Grunde erst wird Aberglaube zu Religion und Opferdienst zu Gottesdienst. Wer uns den Glauben an den Wert von Kunst und Wissenschaft ernstlich nehmen könnte, der nähme uns freilich Religion und Seele zugleich. Wir würden ihm die ganze Welt leichten Herzens gleich noch mit in den Kauf geben. -tm blauen To- vorbei. Fliegerskizze von Karl Birner (Konstanz). Zn weiten Kreisen schraubt sich das Flugzeug zum Himmel. Der örtliche Höhenpreis im Gastflug wird geflogen, und die Höchstleistung soll gebrochen werden. Die Luft liegt still und warmdunstig. Schlaff hangen die Fahnen, di« den Flugplatz umsäumen. Der Flugzeugführer mit seinem Fluggast aber fliegt im Sturm. Er zieht mit 95 Kilometer Geschwindig keit seine Kreise und schraubt sich mit jeder Runde über hundert Meter höher. Die Luft ist schwammig und trägt schlecht: trotz- d.m steigt der Apparat immer höher: 800 Meter. Zn dieser sonst ruhigen Höhe stellen sich plötzlich auf- und ansteigende starke Böen ein und schütteln den Apparat, daß er abwechselnd nach allen Seiten überneigt. Böen sind immer gefährlich, in schlechter Luft am gefährlichsten . . . Aber der Flieger ist er fahren; geschickt verwindet er alle Unebenheiten in der Luft. Und höher strebt der Apparat: 1000 Meter. Der Motor tut seine Schuldigkeit: die Welle treibt die Luftschraube mir 1200 Umdrehungen in der Mi nute. Der eintönige Gesang der Luftschraube und das regelmäßige Knattern des Motors ist Engels gesang in den Ohren der Flieger: wehe, wenn der Gesang verstummt und eine Böe einsetzt. . . 1450 Meter. Die Böen werden immer mächtiger. Die durch schnittene Luft reißt mächtig in Len Flächen und die Bespannungsdrähte pfeifen. Mit dem Anhäufen der Schwierigkeiten scheinen sich aber die Nerven des Fliegers zu kräftigen, noch straffer, bis zum Aeuher- sten zu spannen: als könnten sie bei der geringsten Berührung hell aufklingen und zerspriitgen . . . 1600 Meter. — 1000 Meter. Plötzlich neigt sich der Apparat vorn und rechts nach unten, dann stellt er sich fast senkrecht — und stürzt . . . Motor und Schraube arbeiten in rogelmäßigem Gange weiter. Krampfhaft stemmt sich der Führer gegen das Ge stänge. Wie mit einem Schraubstock hält seine Linke seinen Körper, während seine Rechte das Höhensteuer und die Verwindung bedient. Sein Herz hämmert und pumpt vor Aufregung, als wolle es die Brust zerreißen. Seiner Sinne aber ist er mächtig, und das läßt ihn hoffen. Da hört er hinter sich im Holze brechen. Er weiß, der Fluggast fällt, und gellend ruft er, daß es das starke Geräusch von Motor und Luftschraube über tönt: „Festhalten!" — Er fühlt, der Mann rutscht. — Er fühlt, daß er sich wieder sestkrallt . . . Zm selben Augenblick schlägt der Apparat blähend in der Luft auf und jagt weiter, geradeaus —: Gerettet . . . — Der Motor hat gehalten. Die Gefahr ist vorüber. Das Flugzeug war in ein Luftloch geraten. Da aber der Führer während des Sturzes die Steuer apparate und Tragflächen richtig bedient hatte, nahm es wieder Fluglage, als das Luftloch durchfallen war und wieder tragfühige Luft kam. — Der Fluggast erklimmt vorsichtig seinen zerbroche- nen Sitz und liest pflichtgemäß den Barographen: 1050 Meter. Der Absturz betrug 850 Meter, durch fallen und durchflogen in sieben oder acht Sekun den .. . Stetig rast der Apparat durch die Lust. Ein Wun der, daß die Flieger ihre Sinn« nicht verlieren im Luftmeer. Durch die furchtbar« Aufregung aber fühlt der Flieger eine Uobelkeit aufsteigen. — Der Motor knat tert, der Propeller brummt, die Luft trommelt in den Flächen und heult in den Drähten; die Ohren der Flieger sausen, ihre Schläfen hämmern, ihre Glieder zittern, der Führer kämpft wiederholte Ohn machtsanfälle nieder, der Fluggast blutet aus der Nase. . . Landen! Schnell! Aber erst vorwärts, nach schnel ler, denn unten ist Wald; der Landeplatz liegt noch in 1500 Meter Entfernung. Das ist nur eine Minute Flugzeit, aber jede Sekund« Weiterflug kann das Unglück vollends auslösen . . . Endlich kann die Maschine im Glettflug niü>er« gehen. Die Landung ist aber zu senkrecht und der Apparat verstaucht sich, daß die Splitter fliegen: Kleinholz. .. „Ein Löschblatt her!" sagt der Flieger in solchen Fällen. Aus dem Flugplatz hat man mit Gläsern den Ab sturz verfolgt. Aertte sind anwesend zur Hilfe leistung; der Ausschuß vollzählig zur Boglück- wünschung; Photographen zur Aufnahme; Journa listen zur Berichterstattung; Publikum, viel Publi kum, das regellos die Absperrung durchbricht (und vor dem nicht dringend genug gewarnt werden kann). Der Flieger und sein Fluggast, beide vornüber geneigt, bleiben regungslos im Apparat; halb sitzend, halb liegend. Ein paar Dutzend Berittene schaffen Ellenbogen freiheit um das Flugzeug; Sanitätsmannschaften holen die Flieger herunter und bringen sic unter mehrfacher ärztlicher Begleitung in das Sanitäts zelt; zwei Kompanien Infanterie halten mit Unter stützung der Polizei und Gendarmerie die Ordnung auf dem Flugplatz aufrecht. Die Preisrichter sehen inzwischen die Instru mente nach: — es stimmt! Der Flieger hat im Gast- Höhenslug während des mehrtägigen Wettbewerbes die bisher beste Leistung um zehn Meter gedrückt . . 'Während der Flieger und sein Fluggast sich im Sanitätszelt langsam von der Einladung des Todes erholen, arbeitet der Telegraph . .. Vie Saloamöbel. Eine kleine Geschichte von Alfred von Hedenftierxa. Berechtigte llebcrsehung cmS dem Schwedischen von Rdra Sternberg «Nachdruck verboten.) Sie batten geheiratet, voller Furcht und Zweifel, ob es zniil Lebensunterhalt nusreichen würde. Bei der Einrichtung hatten sie ans vieles verzichtet, was andere jnnge Paare in gleicher Stellung für unent behrlich halten, und sic waren an Bord des ge meinsamen Schisses gestiegen, mit dem ernsten Bor satz, alles zu opfern, was sich opfern läßt, nm der unendlichen Freude willen, ihr entsagnngsvolles Leben zusammen leben zu können. Unter ihren drei tleiuen Zimmern befand sich keinS, das die Bezeichnung „Salon" rechtfertigte, nicht einmal ans den Titel „gute Stube" hatte eins davon Anspruch zu erheben. Als die Freundinnen zu dem jungen Ehepaar kamen, die Wohnung be sichtigten, und das „Herrenzimmer", „Eßzimmer" und „Srbla,Ommer" bewundert hatten, sagte wohl die eine oder andere: „Wirklich entzückend. Und wo ist der Salon?" Tann errötete die junge Frau und wurde ver legen. Fortan bemühte sic sich, mutig und ent schuldigend zugleich, jeden neuen schauenden und prüfenden Gast im voraus zu entwaffnen: „Einen Salon haben wir nicht, wer uns be- suckum will, muß sich damit begnügen, in Filips Zimmer empfangen zu werden . . ." Tie einen meinten, das ine e,....';rus nichts, die andern fragten: „Zst das nicht sehr unbequem, Liebe?" Toch jeder fand cs behaglich in Filips Zimmer, das allerdings mit seiner langen Junggesellen chaiselongue, seinem abgenutzten Schreibtisch und dem großen Schrank unmöglich als „Salon" wirken konnte, trotzdem die vielen von den Freun dinnen zur Hochzeit geschenkten Kissen das Sofa und die sämtlichen Stühle bedeckten. Die junge Frau selbst entbehrte nichts, sie tat alles, um es in ihrem Heim gemütlich zu haben, und war glücklich und zufrieden. Aber erschreckend l)äusig führte sie Beispiele dafür an, daß irgendein Bekannter „eine wirklich schicke und elegante Ein richtung geradezu für einen Schleuderpreis" er worben habe, das gelinge einem zuweilen, wenn reiche Leute plötzlich umzögen oder Pech hätten oder noch mehr dazu gewännen und sich noch größer cinrichteten. Und Filip, der liebe gute Filip, schwieg und lächelte und hörte mit so ruhigen Mienen zu, als spräche man vom Wetter oder von Norrlands Naturschön Heiken oder etwas anderem, woran er für seine Person keinen Deut zu ändern r:?:nochtc. Aber er begann nachmittags anszugehen und einige Stunden fortzubleibcn. Anfangs meinte seine Fran, er habe wohl das Bedürfnis, ab und zu in der Gesellschaft seiner Freunde zu sein. Tann begann sie darüber nach- zudcnken, ob sie nicht eigentlich eine Märtyrerin sei, die zu Hause sitzen, arbeiten, sich quälen und das Hauswesen in Ordnung halten müsse mit Hilfe eines kleinen, unglaublich unwissenden Mädchens — und nun noch so oft allein gelassen werde. Und erstaunt beobachtete sie, daß Filip sparsamer war denn je und jeden -Oer in der Hand wog, ehe er ihn ausgab. Dennoch ging er jeden Abend fort und roch nach feinen Zigarren, wenn er nach Hause kam. Tie kosteten doch nicht wenig! Dann war er liebevoller als je, hatte aber auch Eile, weun er ging, und sie fragte sich bang, ob er sich nicht mehr so innig nach ihrer Gesellschaft sehnte wie in der ersten Zeit ihrer Ehe. Einmal weinte sie, ein anderes Mal holte sic das Schachspiel hervor, das sie nur dürftig be herrschte, und dazu einen kleinen Grog, den er Gott sei Tank nicht sehr schätzte. Aber nichts vermochte ihn zurückzuhalten. Ihn zu bitten, daß er bleibe, oder ihn zu fragen, wohin er gehe, dazu war sie zu stolz und liebte sie ihn zu sehr. Seine Stimmung war gleichmäßig und heiter, er schlief, wie man nur mit einem guten Gewissen schläft, und er sah außer seiner geliebten kleinen Frau kaum ein Weib an. Er sprach immer eifriger von „Haushalten", behauptete, daß er im Begriff sei, sich das Rauchen abzugewöhnen, und roch nach Tabak, schlimmer als zuvor. Das war fast beängstigend. Lines Tages tuschelte er dann ausfallend viel mit dem kleinen Dienstmädchen, und darauf — lud er seine Frau zum Mittag in Hasselbacken ein. Nur zum kleinen Menü natürlich und zu einem Glas Margaux, aber dennoch. . » Sie, die so be ständig und eifrig sparten! ... Es half nichts. Sie mußten draußen Mittag essen. Er hatte alles berechnet und sich schon lange darauf gefreut. Ein entsetzlicher Gedanke durchfuhr sie da plötz lich. Wenn er sie verriet! Wenn er draußen zu essen gewöhnt war mit . ,. mit einer andern . . .? Allerdings hatte er noch nie eine Mahlzeit daheim verfehlt. Aber dennoch . . , Und gab es Kohl rüben, so war sein Appetit stets sehr gering. Wenn ihn nun Gewissensbisse quälten und er auch seiner Frau einmal eine kleine Freude bereiten wollte! . , < Nein, eine große Freude. Tenn als sie in ihrer besten Bluse mitten in dem Lärm des eleganten Restaurants saß und Filip ihr gegenüber ein Gesicht machte, als gehöre es zu den alltäglichsten Dingen der Welt, daß auf ihre Rechnung eine halbe Flasche Margaux entkorkt werde — da war es ganz un möglich, nicht froh zu sein. Er schien absichtlich mit dein Heimweg zu zögern, saß eine ganze Ewigkeit beini Dessert, nahm den Kaffee mit quälender Langsamkeit ein. „Prost, Lieb ling," sagte er und fügte gutmütig hinzu: „Ach, wenn man in ganzen zwei Jahren doch endlich einmal draußen ist, so . . ." Sie war angeregt und konnte die Frage nicht unterdrücken, ob er während dieser beiden Jahre nie ohne sic hier draußen gewesen sei. Da riß er die Augen auf, als rede sie im Fieber und fragte, was in aller Welt sie sich denn eigentlich dabei denke. ES war ihr, als hätten sie eine ganz lange Reise gemacht, als sie wieder in ihrem Korridor standen. Aber was war das? Tort drinnen im Schlafzimmer schimmert eine Ecke von seinem Schreibtisch, und im Eßzimmer stand sein Schrank. . . . . Aus Filips Zimmer aber leuchtete es blau, blau, blau! In demselben Augenblick war sie drinnen. Und überrascht, überwältigt starrte sie auf die ent zückenden kleinen, mit blauer Seide bezogenen Möbel. Sie wirbelte umher, stieß Ausrufe des Entzückens aus, genau wie ein kleines Mädchen vor einem neuen Puppcnschrank. Endlich blieb sie stehen, nahm eine sehr ernste Miene an, legte die .Hände auf Filips Schultern und sagte in wichtigem, feierlichem Tone: „Aber Geliebter, wie hast du das gemacht? Hast du in der Lotterie gewonnen?" „Nein, ich habe nachmittags bei Transbcrg L Sohn Kladden und LagerbückM geführt," erklärte er mit einem gutmütigen Lächeln. „Und ich schalt dich im stillen garstig, während du mich doch nur allein ließest, um einen törichten Wunsch deiner eitlen, albernen Fran erfüllen zu können! Aber das ist ja ein geradezu sündhastcr Luxus für uns," sagte sie und strich über das seidene Sosa. „Wenig benutzte gute Sachen kann man zu weilen unglaublich billig kaufen, wie du weißt," sagte er scherzend und suchte ihren eigenen Ton nachzuahmcn, wenn er besonders überzeugend wirken sollte. „Und nun bleibst du nachmittags zu Hause?" „Nein, Kleine. Nun habe ich Geschmack gefunden an Extraverdienstcn und will Miete und Möbel er arbeiten für das neue Zimmer, das wir, wie tm weißt, zum Herbst für unseren kleinen Gast ge brauchen." Errötend glücklich lehnte sie den Kopf an seine Schulter. In diesem Augenblick klingelte eS, und sie erkannte gleich darauf die Stimme ihrer Freundin Edla Blom. Ta ries sic rasch nnd mit bewundernswerter Fassung, die Situation vollkommen beherrschend: „Willkommen, Edla! Wir sind hier im S a l o n i ver Unverschämte. Gin« Schau fpielhausfliz-e. von Wilh«I»i»e Reich«, Wiesbaden. Wenn sie den Kopf ein wenig Mr Seite wandte, konnte sie sein Profil sehen — es hob sich ordentlich weiß von dem Türvorl-ana der Loge ab. Wie schön er war, wie sieghaft und schön und wie jung, höchstens zwanzig. Jetzt hob er den Kopf, das Auge blau, ein wentg verschleiert der Blick. Fast schüchtern sah er umher und hob nur verstohlen hier und da das Opernglas, um mit . leichtem Erröten Las sich heute besonders elegant präsentierende Rund zu streifen . . . Warum dieses nur, nicht sie? Sce streckte sich und hob sich ein wenig in den Hüften wo durch iym die Aussicht verdeckt wurde; nun neigte er .den Kopf zur Seite, sah an ihr vorüber — über sie hinweg. Das ärgerte sie: war sie denn so wenig be achtenswert? Hatte sie sich doch vorhin bei dem letz ten Blick in den Spiegel gerade heute ganz be,onders vorteilhaft aussehend gefunden. Das mit Voile d'Azur ülxrschleierte Fraise stand ihr vorzüglich und di« Schmachtlockenfrifur schränkte ihr etwas zu volles Gesichtchen vorteilhaft ein. And wie die beiden, allerdings nicht yan, echten Haarschlänglein sich so dunkel und welch auf den weißen Nacken ringelten ... sah denn das alles der hinter ihr Sitzende nicht, oder war er am Ende noch zu — schüchtern? Ob si« da ein wenig nachhalf? Den Versuch konnte man ja immerhin machen- langsam schov sie die weiche beringte Hand in den Nacken und hob sanft andrückend ein wenig das Haar. Er hatte das Opernglas herabgenommen und ein schülerhaft scheuer Blick streifte die juwelenfunkelnd« Hand. Sie wandte den Kopf zur Seite, La konnte sie ihn gerade im Spiegel des Proszeniums nebenan sehen. Nun sicherte sie das feine Silberkettlein am Halle und äugte dabei verstohlen in das Glas — hatte sie ihn soweit? Fast schien es so — ein flüchtiges Rot über zog sein Gesicht, dann neigte er sich langsam vor . . . zu ihr? nein, er bückte sich — es schien ihm etwas ge fallen zu sein. Zögernd, verlegen richtet« er sich auf. . . «in Klingelzerchen. Der Zuschauerraum ver dunkelte sich. Wie dumm, nun mußte sie sich bis zur nächsten Pause gedulden, und dabei vermochte sie die klassische Komödie da unten mit ihrem veralteten Milieu und den überwundenen Prinzipien, über die sie sich geradezu ärgerte, nicht einmal zu fesseln. Ihm schien es ähnlich zu gehen; öfters rückte er unruhig hin nnd her, und einmal schien es ihr fast, als beuge er sich vor. Sie erschrak — hatte sie das wirklich ge hört, oder war es eine Täuschung gewesen? — Ader nein, jetzt flüsterte es deutlich an ihrem Ohr, sie fühlte, wie eine warme Hauchwelle ihren Nacken be rührte, und nun hörte sie ganz klar em leises fremd ländisches, „gnädiges Fräulein . Welch eine Dreistig keit! Wie war das nur möglich — er kannte sie ja gar nicht! Eine Huldigung mit Blicken wollte sie sich gerne gefallen lassen — sogar sehr gerne — aber dies ging denn doch ein wenig zu weit. Eine Weile saß sie völlig verwirrt dann kehrte ihr die Ueber- legung zurück. Am besten tat sie, seine Taktlosigkeit völlig zu ignorieren — das war sie sich schuldig. Ein lebhafter Applaus, der mehr einem beliebten Dar steller galt wie der Handlung, setzte soeben ein, für sie willkommener Anhalt, ihm gänzliche Interesselosig keit vorzuheucheln. Um ihre Teilnahme an den Vor, gängen auf der Bühne zu bestätigen, klatschte sie mir — da, was war das? Mitten in das Geräusch hinein mischt« sich nun dicht an ihrem Ohr ein deutliches „Fräulein, verzeihen Sie bitte — ich möchte Ihnen gerne etwas geben . . Das Weitere verschlang dec Lärm. Das war denn doch der Gipfel der Dreistigkeit! — Das stand fest, sobald der Vorhang sich senkte, wurde sie ins Foyer gehen — eine ihrer Freundinnen würde sicher dort sein. Ob die alte Exzellenz neben ihr wohl etwas gemerkt hatte? Wohl kaum, denn beim Aktschluß streifte dieselbe sie mit dem wohlwollenden bewundernden Blick, den ältere Frauen der Jugend gerne zollen und rauschte vor ihr her dem Büfett zu. Sie folgte eilig, ohne ihn im Vorbeigehen eines Blickes zu würdigen, nur nachträglich wandte sie ein wenig den Kopf — unbegreiflich, saß er nicht da mtt der gedrücktesten, schüchternsten Miene von der Welt und lchlug er nicht das Auge in größter Verwirrung nieder, als sein Blick zufällig dem ihrigen begegnete. Aber sie war sich ihrer Siezhafttgkeit voll und ganz bewußt. Lewer hatte sie sich getäuscht, keine ihrer Freun dinnen ließ sich sehen, so blieb sie in der Nähe ihrer Loge bis zum Beginn des letzten Aktes. Sie wartete, bis der Theaterraum sich verdunkelt hatte, bann erst trat sie ein. Leise glitt sie auf ihren Platz — beim Niedersetzen raschelte ein Papier zur Erde, das auf ihrem Sitz gelegen hatte. Es mochte der Zettel sein — sie hob es auf und befühlte es im Dunkeln. Es war ein kuvcrtartig zusammengclegtes, mit einer Stecknadel zugestccktes Papier. Anerhört! Das kam von ihm, jedenfalls hatte er es auf ihren Sitz gelegt, ehe sie ein trat. Nun, nachher wollte sie ihm schon beweisen, w,e sie über diese Art der Annäherung dachte. Vor Vie Füße würde sie es ihm ganz achtlos im Vorbeigehen weisen — selbstredend ungeöffnet, das war sie sich schuldig. Hätte sie nur das Päckchen am Boden liegen lassen. Heimlich prüfte sie durch die Umhüllung den Inhalt, es fühlte sich weich an, wi« Watte etwa oder ein seidenes Tuch, in das «in kleiner harter Gegen stand eingewickelt war. Wenn sie nur hätte heraus finden können, was es war; aber öffnen würde sie es nicht, um keinen Preis. — Ob er etwa noch weitere Annäherungsversuche wagen würde? Sie lauschte atemlos, aber alles bliob still. Korrekt und tadellos faß er auf seinem Platze. Und nun neigte sich zum Glück die Komödie dem Ende zu; der durch drei Akt« nur allzu kunstvoll ge knüpfte Faden entwirrte sich mühselig und die mora lische Pointe kämpfte soeben um den verdienten Applaus — da Nippte die Logentür — sie wandte den Kopf — der Sitz hinter ihr war le«r. Bestürzt rang sie nach Atom, das war denn doch zu viel. Hatte er ihre Absicht etwa geahnt und entzog sich ihr in dieser raffinierten Weise ... wütend schob sie das Papier in den Pompadour — liegen konnte sie es doch nicht lassen — wer konnte denn wissen, ob der Inhalt nicht am Ende kompromittierend für sie war. Draußen wollte sie es dann zerreißen und die Stücke in alle Winde zerstreuen. Aber war da» nicht Feig heit, so zu handeln? Würde si« nicht besser jetzt auf der Stelle das Papier öffnen . . . gewiß, dann wußte sie, woran sie war. Gewißheit — ja, das war wohl das richtigste. Langsam nahm sie den Mantel um und stieg di« Treppe hinab. Unten wartete sie, bis der Vorraum sich geleert hatte, dann entfernte sie di« Stecknadel und entfaltete verstohlen das sorgsam zu sammengekniffte Papier — eine Locke fiel heraus — ihre eigene, dieselbe hochmodern«, die sich vorhin so herrlich schwarz auf ihrem weihen Nacken geringelt hatte. Da hatte sie ihm also doch Unrecht getan, aber nein, unverschämt war es doch — sie nicht behalten zu haben. Ob ,r wohl geahnt, dah sie von Chinesen- haar war?,
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