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Selle 2. Nr. SS4. Nvenü-Nusgave. lind man will sie wie Charlotte Corday verherr lichen. Die radikale „Lanterne" schreibt: Der Prozeß, der heute beginnt, ist nicht der Prozeß der Frau Caillaux, es iit der Prozeß der Demokratie gegen das Privilegium der Reichen. Man wird bald wissen, ob es eine Justiz des Volkes und für das Volk gibt. polililelie UeberliÄil Englisch-russisches Zlottenabkommen! Der „Lol.-Anz." kommt in seinen Wochen, rückblicken uns die m lecker Zeit mchrfach cr- wähnlen Bemühungen zu sprechen, England zum Abswlnß eines F l o t t e n a b t o m m e u s mit Rußt au d zn belvegen. Das Blatt glaubt „einstiveilcn noch bezioeiseln zn dürfen", das; England diesen Rottungen des Ententegenossen nachgeben iverde: fahrt dann aber dennoch fort: „In Deutschland ist man gewiß nicht geneigt, den Engländern das gute Recht streitig zu machen, ihr Verhältnis zu anderen Staaten nach Maßgabe ihrer eigenen Interessen nnszubauen, ein Recht, das Deutschland natürlich ebenso jür sich in An spruch nimmt. Es fragt sich nur, ob ein solches engliich-russijches Abkommen über eine gemein schaftliche Verwendung ihrer Flotten, dessen Spitze unverkennbar gegen uns gerichtet jein wurde, nicht von neuem Mißtrauen zwischen Deutschland und Eiroßbritannien entfachen und die mühevolle Ver ständigungsarbeit maßgebender Faktoren hüben und drüben gefährden, wenn nicht über den Hau sen werfen müßte. Wir mochten doch meinen, das bisherige Resultat der deutsch englischen An näherungsversuche sei noch eine zu zarte Blume, um solch kaltem Windstoß standzuhaltcn. Von hoher britischer stelle ist kürzlich das kluge Wort von der „Methode der indirekten Beeinflussung" aejprolt>en und hier wie dort von allen einsichtigen Elementen mit Zustimmung begrüßt worden. Die Methode steht heute noch aus schwachen Füßen, und sie könnte über kurz oder lang Schiffbruch leiden, ehe ihr wohltätiger Einfluß in die Er scheinung getreten ist. Dann ständen Deutschland und England wieder an der stelle, wo sie, zum Schaden ihrer Völker, vor wenigen Jahren gestan den haben. Die nächste Folge wäre dann aber ein verstärktes Rufen nach Marineriistungcn und ein abermaliges Flottenfieber, bei dem in erster Reihe die Steuerzahler zweier großer Kulturländer die Leidtragenden wären." Wir haben Grund zu der Annahme, daß diesem Fühler — oder dieser Mahnung: wie man will — amtliche Kreise nicht ganz fern flehen, und dadurch wird er beachtenswert. Wir haben in der letzten Zeit ein wenig viel — und vielleicht nicht ganz ohne Mitschuld unseres Botschafters in London — von den täglich besser werdenden Beziehungen zwischen England und Deutschland gehört, und manche schienen bereits geneigt, darauf ein neues System auswärtiger Politik zu gründen. Und nun hören wir auch aus halbamtlichem Munde (was einsichtige Be urteiler freilich immer befürchtet hatten), daß es mit dem englisch-deutschen Einvernehmen noch gute Wege hat. Daß es sich dabei um eine „zarte Blume" handelt, die keinen „kalten Wind stoß" verträgt .. . Neformelfer -er Türket. * Talaa t Bei, der Minister des Innern, verlas gestern in einer feierlichen Sitzung der türkischen Kammer eine Erklärung, die ein Regierungsprogramm darstellen soll. Sie wurde, wie schon gemeldet, fast ein stimmig genehmigt. Ebenso verhielt sich der Senat. Also ein Erfolg der Regierung! Leipziger Tageblatt. Was die Einzelheiten angeht, so wird nicht viel Neues gejagt. Wie man das schon oft verkündete, sind die Zustände verhältnismäßig befriedigend; alle Reformen sind im Gange oder werden begonnen. Die Verträge mit den Mächten werden als Sicherung der Zukunft ge rühmt, und die Hauptsache: es ist Geld da! Gesetze über die Verwaltung der Wilajets, das Gerichtswesen, das Bank wesen, den Unterricht, Eisenbahubauten wer den angekündigt. Offenbar ist ein guter Wille vorhanden. Ob auch die nötige Kraft und Ausdauer, wird die Zukunft zeigen. Be merkenswert ist für uns, daß die Regierung auch ein Wort über die deutsche Militär- Mission findet. Die Stelle lautet: Da wir uns genötigt sahen, so rasch als mög lich die Ausbildung und Erziehung der Armee zu vervollständigen, haben wir aus Deutschland eine sehr große und sehr wichtige Militär- mission berufen. Wir glauben erklären zu. müssen, daß die Persönlichkeiten, aus denen die Mission besteht, ihre Bemühungen mit großem Pflichteifer entfalten, der volle Würdigung ver dien!." Wie bekannt, haben sich Rußland und Frankreich nicht gerade geneigt gezeigt, diese Wertschätzung in Konstantinopel zu fordern; umso lieber wird man in Berlin die hrer aus gesprochene Anerkennung zur Kenntnis nehmen. Deutsches Reich. * König Georg und die deutschen Manöver. Wie aus London berichtet wird, hat der Kammcrherr des Königs, Major Clive Wigram. erklärt, daß die Nachricht, König Georg von Englanv werde an den deutschen Kaiser manövern teilnehmen, unbegründet sei. * Bestätigung des Fürstdischoss von Breslau. Nach ungewöhnlich langen und schwierigen Verhand lungen ist nunmehr die Wahl des Hildesheimer Bischofs Bertram zum Fürstbischof von Breslau bestätigt worden. * Zn der deutschen Nordmark sind im zweiten Quartal dieses Jahres 8 Besitzungen im Werte von 476600 ltt von dänische in deutsche Hände über gegangen. Dagegen gingen 10 bisher deutsche Be sitzungen zum Preise von 750 000 in dänische Hände über. Das ergibt einen abermaligen Verlust an deutschem Boden. * Düppel-Ausstellung. Wie aus Sonderburg berichtet wird, besuchten der Herzog von Sach sen-Altenburg und der Chef der Ostseestation Admiral von Coerper am Sonntag die Düppel- Ausstellung. * Hansi. Aus Straßburg wird uns gemeldet: Von fünf Darlehensgebern zu der für den flüchtigen Zeichner Walz, genannt Hansi, gestellten Kaution ist bei dem Kolmarer Gericht Klage gegen Walz auf Rückzahlung eingebracht, nachdem die Kaution durch die Flucht Hansis der Gerichtskasse verfallen ist. Unter den Klägern befinden sich auch zwei Straß burger Handlungsgehilfen, die sich mit je 45 an der Sammlung zur Freilassung Hansis beteiligt hatten. * Serbische Munitionsbestellung. Wie aus Düsseldorf berichtet wird, hat die Rheinische Metallwarcn- und Munitionsfabrik Erhardt am Sonnabend mit der serbischen Regierung einen Lieferungsvrrtrag über Ee- schützmunition verschiedener Sorten in Höhe von fünf Millionen abgeschlossen. Ausland. Zraakreich. * lieber einen Spionagesall wird aus Rouen berichtet: Der AbbS Louvet war vor einiger Zeit von einer Reise aus Deutschland und Oesterreich zurückgetehrt. Er l-atte nach feiner Rückkehr den Bahnhofvvorstand von Thibcrvtlle gebeten, ihm die Mobilijicrungspläne zu zeigen, die in ver schlossenen Briefumschlägen auf dem Bahnhof depo niert sind und nur im Ernstfälle geöffnet werden dürfen. Für diesen Dienst bot der AdbL dem Vor stand 500 Franken. Dieser ging zum Schein auf den Vorschlag ein und ließ den Abbö in dem Augenblick verhallen, als er die Schriftstücke photographieren wollte. Er wurde auf die Polizeiivache in Rouen gebracht und gestand dort nach einem längeren Kreuz verhör ein, Spionage zugunsten Deutschlands getrieben zu haben. lDie ganze Geschichte klingt nicht gerade wahrscheinlich.) " Ein französischer Anarchist verhaftet. Im Auf trage des Ministeriums des Innern wurde in Arras in Nordwestsrontreich ein gewisser G i l e t verhaftet. Dieser hatte in einem dortigen Anurchijlcn- dlatte, das sich ..Le Grand Soir" nennt, einen Artikel verösjentlicht, in dem die Ermordung Les österrei chischen Thronfolgers gebilligt und der Mord verherrlicht wird. Die Festnahme Gilets erfolgte unter der Anklage wegen Aufreizung zum Morde uno wegen "Vergehens gegen das Preßgcsetz. * Viniani lehnt jede Ordensauvzeichnung ab. Wie der „Maltin" aus Petersburg meldet, hat Ministerpräsident Vi viani den russischen Re- pierungskreijen Mitteilen lassen, daß er, getreu seinen demokratischen Grundsätzen, keine Ordens auszeichnungen zu erhalten wünsche. Der Zar werbe deshalb Viviani als Erinnerung an die Reise nach Rußland einen Kun st gegen st ano zum Geschenk machen. Englan-. * Eine Uljterkonferenz. Die Londoner „Times" meldet: Ein höchst bedeutsamer Schritt zur Bei legung der inneren Krisis ist geschehen. Der König hat Einladungen zu einer Konferenz im B u ck i n g h a m pa l a st ergehen lassen, on der die hauptsächlich beteiligten Parteien, nämlich die Regierung, die Opposition, die Nationalisten und die Ulsterleute, durch je zwei Mitglieder vertreten sein sollen. Die Konferenz fall morgen stattfindcn. Wie man erfährt, wir- Premierminister Asquith heute im Unterhause eine förmliche Mitteilung darüber machen. Die „Times" fügt hinzu, daß folgende Herren an der Konferenz teilnehmen werden: für die Regierung Premierminister Asquith und Lloyd George, für die Opposition Lord Lansdownc und Bon ar Law, für die Nationalisten Redmond und Dillon und für die Ulstcrlcute Sir Edward Carson und Craig. Rußlanü. * Die Kraft des russisch-französischen Bündnisses. Aus Petersburg wird gemeldet: Die „N owoje Wrcmja" veröffentlicht in französischer Sprache einen Leitartikel über die politische Tragweite der Reise Poincarös, aus dem wir folgendes ent nehmen: „Die große Kraft des russisch-französischen Bünd nisses besteht darin, daß diese Allianz Franzosen und Russen zugleich sympathisch ist. Die Interessen, die die Tripelentente hat, haben in den Verhandlun gen der europäischen Diplomatie nicht immer die Rolle gespielt, die ihr hätte zukommen müssen. Der Drei bund dagegen, obwohl er aus innerlich uneinigen Gliedern besteht, hat sich in allen Fragen der äußeren Politik einig zu zeigen verstanden. Der Dreiverband, überlegen als Flottenmacht, überlegen als Landwehr, hat nicht immer die notwendige energische Sprache gesprochen. Der Dreiverband ist trotz allem Widerspruch eine bedeutend stärkere Stütze des Frie dens als der Dreibund; er hat aus Versöhnlichkeit ülontss» 20. 3uU l914. heraus häufig in seinen Ansprüchen seinen Gagnern nachgegeben. Man kann jedoch für die Zukunft Vor aussagen, daß der Dreiverband nicht mehr nach geben wird. Die Tripelentente wird verstehen müssen, die Suprematie für sich zu erhalten und im Nctfallc noch zu erhöhen. Am Schlüsse erklärt der Artikel daß jedoch der Dreibund keine aggressiven Gelüste von seiten der Tripelentente zu befürchten hätte." Rumänien. * Die bulgarisch-rumänischen Erenzzwischensalle. Aus Bukarest wird gemeldet: Die Uber den letzten Zwischenfall an der rumänisch-bulgariichen Grenze angestellte vorläufige Untersuchung hat folgenden Sachverhalt ergeben: In der Nacht überschritt eine bulgarische Patrouille die Grenze in der Richtung gegen den Posten 56. Die bulgarischen Soldaten insultierten die rumänische Schildwache und eröffneten ein Ee- wchrfcucr auf den rumänischen Posten. Die rumä nischen Soldaten erwiderten das Feuer. Drei Bul garen wurden getötet, einer verwundet. Bei Tages anbruch wurde auf einen rumänischen Leutnant, der einen Besichtigungsgaug machte, geschossen. Die Untersuchung wird fortgesetzt. Mexiko. * Die Abreise des Erpräsideuten General Huerta ist, wie aus Puerto Mexiko gemeldet wird, um einen Tag verschoben worden, da er seine Freunde, die ihn in die Verbannung begleiten wollen, nicht zurücklassrn will, augenblicklich aber auch kein Schiff vorhanden ist, das ihn an Bord nehmen könnte. * Ei» neuer Zwischenfall in Tampico. Aus Vera cruz wird gemeldet: Der Dampfer „City of Tampic o", der die norwegische Flagge führt, wurde von den Konstitutionalisten angchalten, als er von Tampico nach Galoeston abfahren wollte. Der Grund war die Weigerung des Kapitäns Odjfell, den früheren General der mexikanischen Bun- destruppcn Juan Vasquez und seine zwei Be gleiter auszu liefern. Die Konstitutionalisten behaupteten, daß Vasquez und seine Begleiter an einem Gelddiebstahl beteiligt gewesen seien. Vasquez wandte dagegen ein, daß die Konstitutiona listen diese Beschuldigung erfunden hätten, um ihn verhaften und erschießen zu können. Kapitän Odjfell trat ihm hierin bei und bat Admiral Mayo um Schutz. Admiral,Mayo lehnte dies jedoch mit der Begründung ab, daß die Behörden von Tampico innerhalb ihrer Befugnisse handelten. Der Kapitän beharrte bei seiner Weigerung, Vasquez auszuliefern. Das Schiff wird deshalb noch im Hafen festge- halten. s I II Illi» IIIIl11l11 > I«111111» 111 »MIIII» I >1 IN Hilf »»II1 s - Unerttbehrllch für je-en RussteUungs- befucher fln- -ke lm Verlage -es Leip- - - ziger Tageblattes erfchelnen-en I cagernachriOttn Z D mit sämtlichen Konzertprogrammen. Z Ueberall auf -er Ausstellung für ß 2d Pfennige V D käuflich zu haben. Ul1111 ll MI» I» 111IIIIIIIIIIIII MI II11» I NI l IW I M»I I» Z SvbakVLrvllbaog Lper: Del. 11189. Le, Vie Me öer ürei Kirchlein, ölj Roman von E. Stieler-Marshall. <6ai>vrik!br WM Ux Oreld ei» L Co.. O. m U. U. Nstprix.) Da hielt ihm die Schwester eine sehr ernst hafte kleine Predigt — er antwortete ungezogen, zum ersten Male seit sie aus der Welt waren, gab es häßliche Worte zwischen ihnen. Frau- Men brachte den Vater ins Treffen, führte Frau Alir ins Feld Aber als diese Namen zusammcnklangcn, lachte Werner wild und rauh und schneidend. „Ja, und gerade die beiden! Leuchtende Beispiele der Tugend, nicht wahr? Du armes Ding, hättest du lieber geschwiegen. Wüßtest du, was ich weiß. Ich Wunsche dir, daß du es niemals erfährst." Er verließ das Zimmer, riß die Mütze vom Nagel uno stürmte davon. Dann saß Frauchen bei Minna in der Küche und schalt und klagte. „Ach Minna, die Männer! Was hat man für Not! Im Sommer war cs der Grosze, um den ich sorge» mußte. Aber der ist voll und ganz für sich selbst verantwortlich, das geht dann noch. Wenn nun aber der dumme grüne Junge schon so anfangen will, das darf doch einfach nicht sein. Für den steht ja doch alles auf dem Lpiel. Ich weiß mir keinen Rat, keinen Rat. Minna, altes Haus, sag du, was ich tuu soll!" Minna legte das Messer aus der Hand, mit dem sie Rüben schnitt und stellte sich feierlich vor Frauchen auf. „Dem Herrn Professor alles schreiben!" sagte sie kurz, aber mit Nachdruck. „Werner verpetzen ? Und Vätchcn die Ferien- slimmung verderben'? Ach, Minna! ES kann sich doch nur noch um ein paar Tage handeln, dann kommt er, Hurra! sowieso wieder." „Es darf aber keine paar Tage so weiter gehen mit Werner," sprach Minna unerbittlich, „das hält der gar nicht aus. Dec sieht ja auch schon so elende! Und wie das im Gym nasium mit ihm sein mag, das möchte ich lieber nicht wissen. Nee, Frauchen, jedwed' Dina muß mal ein Ende Haven. Kind, setz dich hin — und schreibe — oder ich tue es, und das wird unserm Professor noch viel weniger Freude machen, denn meine Krakclfüße tun sich nicht schön lesen." Frauchen sah ein, daß nichts anderes übria blieb. Sie schrieb also. So schonend wie möglich drückte sie sich aus, versuchte noch dem Ganzen eine leicht humoristische Färbung zu geben. Aber ihre Not und ihre große Herzensangst blickten doch überall zwischen den Zeilen heraus. Sic trug den Brief gleich selbst zum Kasten, rechnete ans, wann Vätchcn ihn haben und bestenfalls hier sein könnte. Dabei erst fielen ihr Werners seltsame Worte von vorhin ein, die sie in ihrer Aufregung kaum recht beachtet hatte. Die hatten gehässig geklungen, gehässig ge gen den Vater und Alix „Da steckt auch dieser Baum dahinter —" dachte sie traurig — „er hat ihn ganz umgarnt. O Frau Alix, deine Warnung!" In dieser Nacht kam Werner überhaupt nicht nach Hause. Frauchen konnte kein Auge schließen, fieberhaft warf sie sich hin und her, horchte ans jedes leise Geräusch — dann litt die Unrast sie nicht mehr im Bett, und als irgendwo verschlafen der erste Hahn krähte, sprang sie auf, öffnete das Fenster und blickte in das unbestimmte Dunkel hinaus. Es regnete sachte, still war die Nacht, da draußen war nirgends etwas von Mensclwn- dascin zu spüren. Frauchen fürchtete sich vor der Nacht, zum ersten Male in ihrem Leben. Sie lehnte die schmerzende Stirn gegen das Fensterkreuz und weinte bitterlich. Wie die Zeit verstrich, das wußte sie nicht. Aber dann hörte sie die Turmuhren dort über dem Städtchen viermal schlagen, lang hinhaltend und nachbrummend und gleichzeitig merkte sie, daß unten im Hause ganz sacht, ganz vor sichtig die Straßcntür von innen geöffnet wurde — unhörbar leise trat ein Mann auf die Straße, schloß von außen wieder zn, ohne jedes Ge räusch — ging raschen, lautlosen Schrittes der Stadt zu und glitt in das Dunkel hinein. Noch nie war Frauchen etwas so unheim lich, so entsetzlich erschienen wie dieser unbe kannte Mann, der geräuschlos wie ein Gespenst vom Hause fort in der Nacht sich verlor. Sie kauerte sich aus ihr Bett, mit großen brennenden Augen sah sie nach dem Fenster, das sich alS graucS Viereck aus dem Schwarz hcrvorhob. Ein Schauder nach dem andern jagte kalt durch ihr Blut, und denken konnte sie nichts als: Lieber Gott, laß cs Tag werden! Mit dem frühesten Morgengrauen stand sie auf, zog sich eilends an und verließ ihr trau liches Stübchen, das sie sonst so liebte, das ihr in dieser Nacht zum grauenvollen Aufenthalt geworden war. Die treue Minna hatte auch keine Ruhe ge funden und arbeitete schon in der Küche herum. „Ich gehe nach dem Gymnasium, Minna," sagte Frauchen tonlos — „stelle mich dort au das Tor und passe auf, ob Werner hineingeht. Wenn nicht, so gehe ich zu Herrn Baum ins Kontor und frage ihn, wo mein Bruder ist." Minna schrre laut auf, als sie des Kindes trostloses, hohläugiges Gesichtchen sah. „Frauchen, mein Herzblättchen, du sichst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen." „Das habe ich auch, Minna —" sagte Frauchen ernsthaft, und wieder ging ein Schau der über sie. Wie in vergangenen Tagen nahm Minna das Kind an ihr treues, mütterliches Herz. Es wollte sich freilich auch äußerlich nicht mehr schicken, denn Frauchen war dem kleinen Huzel- chen längst über den Kopf gewachsen. Aber es ging doch und tat so wohl, Frauchen neigte sich und legte ihr Haupt an des braven Mäd chens Schulter, ließ sich streicheln wie ein kleines Kind. „Mein Herzblatt —" sagte Minnachcn — „mach dir keine verzweifelten Gedanken. Der verflixte Bengel. Ucberlegcn sollte man ihn. Sei nur ruhig, Kindchen, ein Unglück wird ihm ja nicht geschehen sein. Aber kann man wissen, wo er sich herumgclrieben hat? Und dann soll er hier mit dir an einem Tische sitzen? Die Galle könnte einem überlaufen — —" „Er ist noch kindisch, Minna, sei ihm doch uicht so furchtbar böse. Er ist so schrecklich weich und lenkbar, wenn einer es recht versteht, kann er mit ihm machen, was er will. Er ist in schlechte Hände gekommen, Minna!" Ei, Frauchen! Bist du das noch, du lustig spielerisches Ding'? Was doch eine einzige schlaf lose Nacht aus einem Menschen machen kann! Besonders aus einem Mädchenkind von sieb zehn Jahren! „Ich gehe jetzt, Minna." „Es ist recht, mein Herzblatt. Was du tust, wird schon das Richtige sein. Aber einen Schluck Kaffee, mein Liebling, ein Bröckligen Semmel mußt du erst zu dir nehmen, sonst hältst du's gar nicht aus." Dann stand Frauchen in dem nassen, grauen Morgen neben dem großen Portal des Gymna siums, schon eine Stunde vor Schulanfang. Sie war schon eine gute Weile da, als erst das mäch tige Tor seine beiden Flügel ausspanntc. Lange mutzte sie warten. Dann kamen nach und nach einzelne pünkt- lickge Schüler, große und kleine — auch Karl und Matthias Giselius, die sie artig grüßten und sie durch ihre großen Brillen verwundert anblicktcn. Auch andere, die sie erkannten, be trachteten sie erstaunt, wie sie da unter ihrem Regenschirm dicht an der Türe stand. Ihr war cs gleichgültig, was sie denken mochten. Und endlich — endlich Frauchen lief ein heißer Strom durch das Herz, eS wollte schier verbrennen dort kam einer dicht an den Häusern entlang gegangen — nein, ge schlichen wie ein alter Mann, das Haupt gesenkt, die Augen scheu versteckt, übernächtig und ver schwollen das kindlich-runde Gesicht — „Werner!" Ganz leise, wie eine zarte, schüchterne Lieb kosung klang der Name — Frauchen streckte dem Bruder die Hand entgegen. Er nahm sie nicht, sein Blick flüchtete vor dem ihren, er vergrub die Hände in den Taschen — schlüpfte schnell wie eine Echse an ihr vorbei in das Tor. Wie ein Verbrecher? Wie ein Verbrecher —. Frauchen kam nicht wieder davon los. Einer Schlafwandelnden gleich, mit so schweren Füßen ging sie nach Hause. „Er ist in die Schule gegangen, Minna —" sagte sic müde. „Nun — und'?" forschte Minna — „hat er gesagt, wo er gewesen ist? Wie sah er denn aus'?" Wie ein Verbrecher — wie ein Verbrecher! — Aber das sagte Frauchen nicht laut. Nur: „Ich habe ihn gar nicht gesprochen, Minna." Dann setzte sie sich still an ihres Vaters Schreibtisch und saun. Ihr lieber, gesunder, reiner Bruder! Ihr Kindlieitsgespiel, ihre an dere Hälfte, ihr Zwilling! Der immer so große, klare Augen gehabt, die offen in die Welt blicken konnten und einer reinen Seele Spiegel waren. — Wer hatte ihr ihren Werner verdorben, wer ? — Wenn eS so ist, daß er die Augen nicht mehr erheben kann, dann wird er sich vor mir fürcti- tcn, wird mich meiden, mich nicht mehr lieben, weil er sich vor mir schämen muß. „Mein Werner! —" «o müde — so müde, du kleines Mädchen. Du armes Kind mit den Frauensorgen, so hat Frau Alix dich einmal genannt. Frauchen legte ihre verschränkten Arme vor sich auf den Schreibtisch und barg ihr Gesicht darin. In der Jugend ist es so köstlich, daß cs noch eine Grenze gibt im Leidertragcn. Hinter dieser Grenze wohnt der milde Freund urrd Tröster Schlaf. sFortsetzung in der Morgenausgabe.)