Volltext Seite (XML)
Bereite die Wiege aus Erlenholz, und ich bereite die Windeln aus weissem Linnen.“ Dieses wilde Felsgewirr, der Kampf mit Wind und Wetter, diese düstere Einsamkeit, in der kein Menschenauge erspähen, kein Ohr belauschen kann, mag ein wetterhartes, kühnes Volk voll ungezügelter Leidenschaft erzeugen. Und nun der See! Ruhig, unbewegt liegt die tiefdunkel grüne Wasserfläche, aus der dort eine Felseninsel, mit Krumm holz bewachsen, hervorragt. Kein Boot, kein Fischlein durch schneidet die klare, kalte Flut, und die schneeumränderte, wie ein Kirchendach schroffe Koscieleespitze spiegelt sich haarscharf in derselben. In rauher Jahreszeit mag- sie ihr verwittertes Gestein massenhaft in den See stürzen; Zeugnis davon geben die riesigen Trümmerhelden am Ufer. Uber ungeheure Felsen steigen wir an. Nach einer Stunde stehen wir auf einem kleinen Plateau, 1800 m hoch. Welch grossartiger Anblick! Unten der „Gefrorene See“. Die ihn umschliessenden Wände sind in ihren Schluchten mit kollo- salen Schneefeldern angefüllt. Nirgends mehr eine Spur von Wir kraxeln also ruhig weiter; 1900, 2000, 2100, 2174 m. Jetzt biegen wir hinter einer Wand hervor und betreten den kaum 5 Schritte breiten Sattel. „Ach wunderbar, grossartig!“ „Schon wieder so eine fade Phrase; der Herr scheint in der Tatra alles grossartig zu finden und mit seinem Lobe ziem lich freigebig zu sein“ - werden Sie, werter Leser, vielleicht sagen. Aber ich wette, Ihren Lippen würde derselbe Aus druck freudigen Erstaunens entschlüpfen, könnten Ihre eigenen Augen diese unbeschreiblich schöne Alpenlandschaft betrach ten. Zn unseren Füssen ein Triimmerthal und die schwarzen Augen zweier Seen; darüber Zacke an Zacke die schroffen, schnee umränderten Tatragipfel; alles erschreckend steil, nirgends ein Baum oder Strauch, lauter kahle, je nach der Beleuchtung hellgraue, braune, schwarze Felsen: ein Berggewirr, dass sich ein Sachse, der nur die heimatlichen Gebirge kennt, in seiner eigenartigen Schönheit gar nicht vorstellen kann. Mit Worten die ganze Pracht malen zu wollen, wäre ein vergebliches Be mühen. Ich streiche die Segel. Nachdem sich das Auge sattgesehen, setzen wir uns zum Krummholz, rings nichts als kahle, beinahe senkrechte Fels wände. Wo mag der Ausweg aus diesem Labyrinth sein? Der Führer zeigt mit dem Stiele seiner Handaxt auf eine Einsattlung, hoch, hoch über uns: „Zawrat“. Dort hinauf sollen wir? Natürlich, es führt kein andrer Weg nach Küss nacht. Jene steile, zum Teil mit Schnee bedeckte Schutthalde zu bezwingen, mag zwar anstrengend sein, findet doch der Fuss auf (lern Geröll niemals sicheren Tritt; aber gefährlich ist das gerade nicht. Wir aber wählen, um uns für die Be steigung der Meeraugspitze zu trainieren, die kürzere Kletter tour über die den Pass links besäumenden steilen Wände. Da heisst es Hände und Füsse gebrauchen, in schmaler Ritze sich anklammern, mit grösster Vorsicht die Füsse setzen, nicht abwärts blicken, sonst „Ade, du schöne Tatra“, warnt doch schon der Name des Passes „Zawrat“ (auf deutsch: Schwindel) vor dem gefährlichsten Freunde aller Kletterer. Wahrhaftig, beschwerlich und nicht ganz geheuer. Und dabei behauptet der Führer auch noch: „Zawrat gut, Meeraugespitze sehlecht, schlecht.“ „Sei nur ruhig, alter Knabe. Bange machen gilt bei uns nicht. So leicht lassen sich forsche Radler nicht ab schrecken.“ Mahl. Hei, wie schmeckt nach der Kletterei Schwarzbrot, Paprikaspeck und ein Schluck Branntwein! Dann steigen wir zu den Polnischen Fünf Seen hinunter. Der grösste der selben liegt 1676 in hoch und ist mit ziemlich 35 ha auch der grösste der Tatraseen. Der Aufiuss desselben bildet einen präch tigen Wasserfall - Siklawa. Die Roztoka stürzt sieh in 2 Ab sätzen über die fast senkrechte 64 m hohe Wand unterhalb des Sees herab. Die Umgebung des Falles macht den Ein druck der grössten Wildheit. Nur niederes Gebüsch über zieht stellenweise die Thalränder, und noch weit über die letzten kümmerlichen Krummholzsträneher hinaus ragen in schwindelnder Steilheit die granitenen Mauern empor, die von Wasserrillen zerrissen, sogar jetzt im August teilweise noch mit Schnee umsäumt sind. Gegen 4 Uhr nachmittags überschreiten wir den Rücken der Swistowka. Jeden Augenblick hoffen wir von Ferne das Ziel unserer heutigen Wanderung, den Fischsee, die Perle der Tatra — zu sehen. (Fortsetzung folgt.)