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lir. 30. Iriedrich Heorg Wieck s 1883. Deutsche Ein Handelsvertrag zwischen Rußland und dem Zollverein. Von vr H. Rentzs ch. Von Seiten des deutschen Handelstages in Berlin sind die deut schen Handelskammern Anfang dieses Jahres um ihre Gutachten über den Abschluß eines Handelsvertrags zwischen dem Zollverein und dem russischen Reiche ersucht worden, und darf die Zusammenstellung der eingegangenen Berichte in der nächsten Zeit erwartet werden. Der Zeitpunkt war, ohne daß sich dies voranssehen ließ, unglücklich gewählt, da kurze Zeit darauf der polnische Aufstand ausbrach und das preußische Ministerium durch den Abschluß der berüchtigten Kon vention gewiß gegen seinen Willen den freundschaftlichen Beziehungen entgegenwirkte, welchezwischen zwei Nationen zum Abschluß eines Han delsvertrags mehr oder weniger unvermeidlich sind. Obgleich indessen feststeht, daß augenblicklich an irgend welche Schritte in dieser Ange legenheit nicht zu denken ist und obgleich jeder Anhaltepunkt fehlt, ob darüber noch ein oder mehrere Jahre vergehen können, so ist doch zu billigen, daß der deutsche Handelstag den Plan nicht aus den Augen verloren hat. Die Zeit wird einst kommen, in der das gesammelte Material zu verwerthen sein wird und im Interesse des darnieder liegenden Verkehrs ist dringend zu wünschen, daß die Spannung nicht lange ohne Erfolg wach gehalten werde. Der Zollverein hat vor Jahresfrist mit Frankreich über einen Handelsvertrag verhandelt, der zum Zankapfel zwischen den deutschen Regierungen geworden und dessen Ausführung heute noch sehr zwei felhaft ist. Preußen hat einen ähnlichen Vertrag mit Belgien abge schlossen und seinen Zvllverbündcten den Beitritt offen gehalten. Der volkswirthschastliche Kongreß verwendete sich in den Tagen des 8.— kl. Sept. vor. Jahr, in Weimar mit viel Wärme für einen Handelsvertrag mit Holland, und es läßt sich ohne Mühe voraus sehen, daß auf der Basis des endgültig festgcstellten Handelsvertrags zwischen Frankreich und dem Zollverein von Seiten des letzteren ähn liche Verträge mit England, Italien, der Schweiz, vielleicht auch mit Nord-Amerika abgeschlossen werden dürften. Es wird, namentlich was England betrifft, nicht an Opposition fehlen und werden na mentlich diejenigen Jndustriebranchen, die an hohe Schutzzölle ge wöhnt waren, alle Mittel aufbieten, um die drohende Konkurrenz zu beseitigen, doch aufhalten läßt sich eine allgemeine Reduktion des Zollvereinstarifs nicht mehr, wenn man auch heute noch nicht den Satz genau bestimmen kann, mit dem jeder einzelne Artikel in dem künftigen Zollvereinstarif normirt sein wird. Ein Handelsvertrag mit Rußland dagegen wird kaum aufirgcnd welche Widersprüche von Seiten der Fabrikindustrie stoßen, da beide Verkehrsgebiete nur in sehr wenig Artikeln konkurriren, sondern weit mehr geeignet find, sich in ihrem Gesammtbcdarf — nicht blos wie bei den anderen Län dern in einzelnen Branchen — zu ergänzen. England hat in Frank reich durch den früheren Abschluß des Vertrags das xraevemrs ge spielt, Frankreich ist uns in Belgien, in der Schweiz und in Italien zuvorgekommen und hat sich dann bereits festgesetzt, wenn wir uns endlich bis zum Einernten der Nachlese geeinigt haben — Rußland ist zur Zeit das noch nicht begehrte und noch nickt versprochene grö ßere Verkehrsgebict. Sicher lobnt es sich der Mühe, übersichtlich die Chancen eines solchen Vertr gs näher zu erörtern. Kolb berechnet in seinem Handbuch der vergleichenden Statistik den Umfang des russischen Reichs zu 380,000 Quadratmeilen und seine Einwohnerzahl zn 72 Mill. Menschen, die in dem weiten Ge biete ziemlich zerstreut sind und nur in der westlichen Hälfte des eu ropäischen Rußlands einigermaßen dichter zusammenwohnen. Bei der dünnen Bevölkerung fehlt es daher an der nöthigen Arbeitskraft, um die ungeheuren Ländereien zu bebauen; es fehlt nicht minder an Kapital, um da, wo es möglich wäre, die fehlenden Hände durch Maschinenarbeit ersetzen zu lassen. Fast von selbst folgt daraus, daß Rußland selbst bei den raschesten Fortschritten für die nächsten Jahr zehnte zu einem eigentlichen Jndnstriestaate, wie etwa England, Frankreich und der Zollverein, nicht heranwachsen kann, da eine blühende Industrie bei der geringen Bevölkerung nur auf Kosten der Ur- und Bodcnproduktion möglich sein würde. Dem entsprechend ist das russische Reick zur Zeit noch ein Ackerbaustaat und es erscheint auf dem Welthandel fast nur mit den im Zollverein stark begehrten Rohstoffen, wie Getreide, Hanf und Flachs, Sämereien, Talg, Schlachtvieh, Wolle, rohes und gegerbtes Leder, Holz und Bretter, Kupfer und edle Metalle, und von industriellen Erzeugnissen etwa - mit Pelzwerk, Leinwand, groben Tucken, ordinären Baumwollen stoffen und rohen Lekcrwaarcn. Seine Einfuhrartikel bestehen dage gen vorwiegend ans: Kaffee, Thce, Wein (davon fast ein Dritthcil Champagner), Taback, Baumwolle, Seide, Wcbstoffe und Garne aus Wolle, Baumwolle, Seide und Flachs, Metallwaaren, Maschi nen und Instrumente, Kurzwaarcn, Luxusartikel aller Art, überhaupt fast einzig und allein aus Jndustricerzengniffen und Artikeln von feinerer Arbeit. Gerade hierin liegt für den Zollverein der Schwer-