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heit für das unbegrenzte Fortschreiten beider gleichsam als ein Gan zes in der Zukunft. Beide ergänzen, begründen sich wechselseitig, indem man aus den Erscheinungen der einen auf die Richtigkeit der andern schließen kann. Praxis ist das wirklich gegebene Sichtbare, und sie ist daher ein bestimmter, fester Begriff, das Ausgeführte. Theorie gibt dagegen das Gedachte, das Gewünschte, das Berechnete, als ein erst durch die Praxis zu beweisendes Factum. Dieser hypothetische Charakter der Theorie bewirkt, daß dieselbe ein viel höheres, größeres Gebiet cinnimmt und nicht, wie die Pra xis, nur einen Weg zur Erreichung des Ziels, einen geraden Weg durchläuft, sondern mit Hilfe vieler ähnlicher Wissenschaften auf das Resultat hinarbeitet. Das Wesen der Theorie besteht in einer Berechnung, einem Beweis und dem Schluß auf die praktische Be währung. Die Berechnungen geschehen auf Grund bestimmter Gesetze, die Beweise auf Grund bestimmter Untersuchungen und fußen auf die Richtigkeit der Berechnungen, der Schluß aber kann aus der ganzen Begründung entnommen, in Hinsicht auf die praktische Ausführbar keit aber durch gemachte Erfahrungen an Aehnlichem modificirt wer den. Die Berücksichtigung praktischer Erfahrung, welche einerseits selbst bis zur Unwiffenschaftlichkeit vorschreiten kann, ist ein von allen Theoretikern anerkannter wichtiger und nöthiger Punkt, weil fast immer die Praxis die theoretischen Ergründungen wesentlich ab ändert. Für diesen alten Erfahrungssatz, der gleichsam die Brücke von der Theorie zur Praxis bildet, könnte man viele tausend Bei spiele beibringen. — Man könnte nun behaupten, bei solchem Ver- hältniß zwischen Theorie und Praxis wäre die Theorie zu vernach lässigen. Aber die Jahrhunderte der Vergangenheit haben gezeigt, wie die Praxis ohne Theorie nur sehr langsam vorschreitet. Die Theorie muß theilweis von praktischen Thatsachen ausgehend gleich- sgm den Weg suchen und bahnen für die Fortschritte der Praxis; die Theorie unterhandelt und erwirbt; die Praxis ergreift vom Er worbenen Besitz. Oben ward gesagt, daß die Theorie mit Hilfe ähnlicher Wissen schaften und gestützt auf Erfahrung wirke. Das eine davon kann man das Grammatische, das andere das Historische nennen; und auf den letztern Punkt, der, wie gezeigt, fast bedingender ist, als der erstere, wollen wir näher eingehen. Der erstere Punkt zudem ist ein Supplement zum zweiten. Die Erfahrung ist eine feststehende Thatsache. Durch Mitthei lung derselben werden Resultate weit schneller und leichter erzielt. Dies beweist die Erscheinung, die seit Menschengedenken immer wie derkehrt, daß das lebhafteste, blühendste Jndnstrieleben sich auf einen Punkt concentrirte. Man sehe nur in der Geschichte nach. Da erscheinen Phönizien, Griechenland, Aegypten, Italien, Venedig, Niederlande u. s. f. in bestimmten Zeiträumen als die Hauptstädten für Manufactur und Handel. Woher kommt das? — In einem dieser Länder wurde eine Erfindung gemacht. Nur die Nächstwoh nenden erhielten bestimmte, ersichtliche Erklärung davon durch münd liche Mittheilung, und die Ausbeutung der Erfindung, die alle andern Bestrebungen lähmte, ward das Monopol für dieses Land. Man gedenke der Purpurfärberei in Tyrus, der Seidenzucht in Griechen land, der Wollenmanufactur in den Niederlanden, der Färberei zu Adrianopel u. s. f. Wurde in einem entfernteren Orte eine Erfin dung benutzt, die jene anderer Länder übertraf, so wendete sich dort hin die höchste Blüthe der Industrie, während jene vorher gleichsam den Handel und die Manufactur beherrschenden Stätten ohne Rettung sanken. Dieser Fall trat z. B. ein, als die Franzosen eine bessere Färberei erfunden hatten, als die zu Adrianopel war.— Ein solches vereinzeltes Aufblühen hatte lediglich in den mangelhaften Verbrei tungsmitteln, die bis zum 14. Jahrhundert fast nur in mündlichen Mittheilungen und Traditionen bestanden, dann aber auch in den mangelhaften Verkehrsmitteln und schließlich in der theilweisen Un gebildetheit der damals lebenden Kaufleute sowohl, als auch in dem starren Festhalten an althergebrachten Methoden seinen Grund. Der letzterwähnte Punkt beeinträchtigte bis in die neueste Zeit die Blüthe der Manufacturen gewaltig. Man denke nur an die wahrhaft fanatischen Verfolgungen, die den Erfindern der Band mühle, der Spinnmaschinen, der Jacquardmaschine u. A. zu Theil wurden.— Daß auch die politischen Verhältnisse ihren Einfluß aus übten, ist unbezweifelt.— In unfern Tagen kann ein so vereinzeltes Aufblühen kaum auf längere Zeit mehr statthaben, weil die Ver breitung einer Erfindung mit Schnelligkeit über den ganzen Erdkreis erfolgt. Die Verbreitungsmittel sind so vielfach und Allen zugäng lich. Sie bestehen vorzugsweise in Zeitschriften, in Lehrbüchern. Diese zusammen bilden ein fortlaufendes, historisches Werk. Die Zeitschriften find die Träger der Tagesgeschichte; Lehrbücher aber im weiteren Sinne Repertorien der Geschichte der Industrie und Manufactur bis zu gewissen Zeitpunkten. Man möchte vielleicht nicht ganz mit dieser Bestimmung zu frieden sein, indem Lehrbücher im engern Sinne auf die historische Entwicklung wenige oder keine Rücksicht nehmen; man bedenke aber, daß ein Lehrbuch gleichsam ein Ruhepunkt zu einer bestimmten Zeit ist, von wo aus man auf die bis dahin gemachten Erfindungen zu rückblickt, mit besonderer Berücksichtigung der in dieser Zeit bestehen den Einrichtungen, — und es wird die Heranziehung derselben zum historischen Felde keinen Anstoß erregen. Beim Studium dieser Werke, also dem Studium der Geschichte der Manufacturen und Industrie, tritt uns zunächst als ihr wesent licher Nutzen entgegen, daß durch sie Erfindungen und Verbesserungen schnell Jedem der Strebenden zugeführt werden zu eigner Anwen dung. Daher studire man eifrig die Journale, welche die Verbrei tung gemeinnütziger Erfindungen bezwecken. Der Nutzen des Studiums vergangener Jndustrieepochen ist ein tieferer und umfassenderer. Wir ersehen aus der Geschichte, nach welchen Richtungen hin Versuche angestellt, Erfindungen gemacht sind, welchen Erfolg sie gehabt haben. Nach Erkenntniß dieser Punkte aber beginnen wir auf neue Einrichtungen zu sinnen, welche aus den schon bestehenden hervorgehen könnten oder dieselben ver bessern würden. Die gemachten Versuche, wenn sie gelangen, regen uns an, in der mit denselben eingeschlagenen Richtungfortzuschreiten; — gelangen sie aber nicht, so fordern sie uns zunächst zur Prüfung auf, um den Fehler zu ermitteln und zu sehen, ob nicht durch Fort schaffung desselben der Versuch dennoch Erfolg biete; andererseits aber veranlassen uns mißlungene Versuche, von einer Fortsetzung abzustehen und die eingeschlagene Richtung zu verlassen. Im erstern Falle muntern also die von der Geschichte uns mitgetheilten Ver suche zum Fortstreben auf, im andern Fall find sie Warnungstafeln. Um diese Behauptungen zu bestätigen, wollen wir folgende That sachen näher ins Auge fassen. Watt erfand die Dampfmaschine, nachdem er aus den Versuchen eines Salomon de Caus und Worcester, eines Papin, Savery, New- komen ersehen hatte, wohin deren Streben gerichtet war. Der Ver fasser des ?llilo80j)kieal umAarriiw erzählt uns, wie eifrig Watt in allen Schriften, die irgend etwas über jene Anfänge der Dampf maschinen lehrten, studirte, um das Richtige zu finden. Ohne den Vorgang obiger Männer und ohne die Verzeichnung und Beschrei bung ihrer Versuche in technischen Schriften wäre Watt wohl kaum der Heros des Maschinenbaues geworden. — Aehnlich gibt uns das Wirken Jacquard's ein Beispiel, wie aus vorangegangenen, durch Schrift und Modelle aufbewahrten Versuchen Folgerungen gezogen werden können, aus denen eine eingehende Ergründung entspringen und schließlich Hohes leisten kann. Vaucanson's Maschinen waren es besonders, welche die bedeutendste Anregung zu Jacquard's Ma schinen für Musterweberei gaben. Ein anderer, wesentlicher Nutzen, den das Studium der Jn- dustriegeschichte bietet, ist folgender. Mittelst tüchtiger Durcharbei tung der technischen Erfindungen aller Zeiten bildet man sich ein richtiges Urtheil und erst durch genaue Kenntniß jener lernt man die Höhe des Standpunktes kennen, auf welchem die Gegenwart steht. Sodann aber ist man bei eigner, speculativer Thätigkeit durch die Kenntniß des schon Erfundenen gesichert vor Erfindungen, die schon dagewesen. Wer wüßte nicht, daß auch in unserer so streb samen Zeit viele Erfindungen gemacht werden, die nur eine Wieder holung früherer sind, wenn auch mit kleinen Abänderungen^ aber bei Unkenntniß der Geschichte dem Erfinder als neu erschienen, Zeit, Mühe und Kosten in Anspruch nahmen, um dann als unnütz und gar veraltet die Freude und den Fleiß zu täuschen. Die richtige Beherzigung dieses Falles wird gewiß jedem strebenden Techniker und Kaufmann den Nutzen des Studiums bestehender wie vergan gener Einrichtungen und Erfindungen recht ersichtlich machen. Oft wurden und werden in einem und demselben Gebiet der Technik vielfache Erfindungen aufgestellt, die nach verschiedenen Grundprincipien angestellt, als Originale nach verschiedenen Gesichts punkten hin neben einander stehen und. doch ein und dasselbe Resultat liefern. In solchem Falle wählt die Industrie die vortheilhafteste Ein richtung aus und benutzt sie. Die übrigen kommen in das Geschichts- 1'