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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 20.03.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-03-20
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191003203
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19100320
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19100320
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-03
- Tag 1910-03-20
-
Monat
1910-03
-
Jahr
1910
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BeznqS-Prei» ttr Leipzig un» «oron» Lurch unsere kräger und kpedtteure -mal täglich m» Hau« grdracht: vv monatl., L.7v^k »lerteljädri Bei unser« ffiliale» u. An» nadmestellen adnedolt: 7a monatt., ».LS »lernlildrl. Lurch die Vak: innerdaid Leuilcknand« und der deutschen »iolonien vierleiitdrl 8.4» monail. l.S» autschl. Poftdestellgeld. sserner in Belgien, Tinemark, den Tonausiaaten, Italien, Luremdurg, wieder lande, Nor wegen. Orslrrrrich. Ungar«. Rußland, Schweden, Schwei, u. Spanien In alle« übrigen Staaten nur direkt durch di» Geschiitöltelle de« Blatte« erhältlich. Ta« Leipzigei Tageblatt erschein, 2 mal täglich, Sonn- a. Feiertag« nur morgen«, «ldonaen eni-illnnabm«. Buguttusplatz 8, bei unsere» Trägern, Filialen, Spediteuren und Annahmestellen, sowie Povämtern und Briesträgern. rinzelverkauteprei« der Morgen» ,u«g»de tit der t.bend,u«gabe L ch, «edaktion und Bekchäft-ftrlle: Jvhanni-gasse 8. Fernsprecher: 14682, 146M. 14694. np)igcrTagMM Handelszeitirng. Ämlsvkatt des Rates «nö des Rolizeianttes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Preis titr Inserate au« Leipzig und Umgebung di« ngespaltene so MW breit» Petttzeil« 2d bi« 74 mm breit« Nrklamezetle l von »»«wärt« 80 4Z, Reklamen 1.2V Inserate ran Behörden amtliche« Teil di« 74 mm breit« Petttzeil« 40 »elchist«anzeigen mit V>a»»orschrtstr» un» t» der Adendaulaalx >m Lreite erhol,i. Rabatt »ach Laris. Beilagegebühr d p. Tausend exkl. Postgebühr. Jester«eilte Ausrräg« kbnnen mchi zurück gezogen werden. Für da« itrschetne« an bestimmten Lagen un» Plätzen wird kein« ibarantt« übernommen. Anzeigen- Annahme, Lugustutzplatz 8, bei sämtlichen Filialen u. allen Annoncen» ltipedilianen de« In» und «utlande«. Haupt-Filiale Berlin! larl Lunkker, Herzog!. Bahr. Hofbach» Handlung, Lützowstraße 1L (Telephon VL, Nr. 4M3). Haupt-Filial« Lresden: Seestrade -z, 1 (Telephon 4621). Nr. 78 vonniag, «en 20. Mär, lSlo. 104. Jahrgang. Vas Wichtigste. * Am Tonnabendnachmittag unternahm der Aviatiker Han» 8rade aus Magdeburg mit seinem Apparat einen Flug auf dem Leip ziger Sportplatz mit grotzem Erfolg. (S. d. des. Art.) * Das Mitglied der sächsischen Ersten Kammer, Rittergutsbesitzer Dr. Pfeifer, ist am Sonnabend in Dresden gestorben. (S. Letzte Dep.) * Reichskanzler von Bethmann Hollweg hat am Sonnabendabend seine Reise nach Rom an getreten. * Der fortschrittliche Reichstagsabgeordnete Dr. Hermes ist am Sonnabend in Berlin ge storben. (S. Letzte Dep.) * Der allgemeine DeutscheJnnungs- und Handwerkertag ist nunmehr auf die Zeit vom 26. b i s 30 August festgesetzt worden. Er soll in dem neuen Gebäude der Berliner Handwerkerkammer stattfinden. * Der französische Ministerrat hat die Neu wahlen der Deputiertenkammer für den 24. April angesetzt. * Wie aus Tokio telegraphiert wird, sind wäh rend eines außerordentlich starken Sturmes an der O st kü st «Japans über 50 Fahrzeuge unter gegangen. 800 Personen sollen hierbei den Tod gefunden haben. * Bei einem Vulkanausbruch auf Ceylon wurden 200 Eingeborene getötet. Mehrere Europäer werden vermißt. (S. Tageschronik.) Das nun? Wenn man im Stil des jungen wilhelmini schen Kurses sprechen wollte, so könnte man sagen, das preußische Abgeordnetenhaus habe in seinen Debatten über die Wahlrechtsvorlage im Verein mit der Regierung einen „Markstein aufgerichtet". In der Tat sind wir, wenn nicht alle Zeichen trügen, an einem Wendepunkt der preußisch-deutschen Politik angelangt und ein Ausblick mag gestattet sein. Er ist nicht gerade ein Blick in das gelobte Land, wo Milch und Honig fließen. Zunächst müssen wir feststellen, daß der preußische Ministerpräsident und Kanzler des Deutschen Reiches Herr von Bethmann Hollweg völlig versagt hat. Bei dieser Feststellung brauchen wir kaum hervorzuheben, daß wir die guten Eigenschaften des Herrn von Bethmann — seinen Ernst, seinen Eifer, seine Loyalität, seine innere Kultur — vollauf anerkennen; aber das Moralische versteht sich immer von selbst. Es ist bereits ein sehr schlechtes Zeichen, wenn dem höchsten Beamten des Reiches aus Parlament und Presse Lob sprüche entgegentönen, die das Thema „kein Talent, doch ein Charakter" immer aufs neue variieren. Herr von Bethmann Hollweg ist gewiß ein trefflicher Mensch und sicher ein ausgezeich neter Beamter, aber zum Reichskanzler fehlen ihm Welt- und Menschenkenntnis, Frei herr von Zedlitz hat vor wenigen Tagen in einem Artikel ausgesprochen, daß er sich aus seiner ganzen vierzigjährigen parlamentarischen Erfahrung keines Falles erinnern könne, in welchem die Regierung sich so vollständig selbst ausgeschaltet habe, wie jetzt, bei den Verhand lungen über die Wahlrechtsvorlage. Der Reichs kanzler hat immer wieder erklärt, daß die Re gierung stark sei, daß sie über den Parteien stehe und daß sich Preußen „nicht in das Fahr wasser des Parlamentarismus verschleppen lasse", in der Praxis aber haben die Konservativen und das Zentrum eine Parteiregierung er richtet, der Herr von Bethmann Hollweg sich beugt und beugen muß. Wenn Herr von Heyde- brand der Mann der großen Worte wäre — was er zu seinem eigenen Glück nicht ist — so hätte er dem Ministerpräsidenten die histo rischen Worte zurufen können: „8v soumvttro on «e llKmettre!" Die Inkongruenz zwischen Worten und Taten macht einen betrübenden und zugleich einen leicht komischen Eindruck. Jedenfalls hat Herr von Bethmann, was auch aus der Vor lage werden möge, in Preußen die Führung verloren. Es ist ein irriger Gedanke, daß ein Mann, der in der inneren Politik völlig versagt, der hier Geistesgegenwart, Schlagfertigkeit und Willenskraft vermissen läßt, daß ein solcher Mann sich auf dem Gebiet der auswär tigen Politik den Lorbeer flechten werde. Die selben Vorzüge erringen hier wie dort den Sieg, dieselben Mängel führen hier wie dort die Niederlage herbei. Herr von Bethmann ver fährt in der inneren wie in der auswärtigen Politik nach denselben ethisch unanfechtbaren, praktisch untauglichen Prinzipien. Er will ein fach und schlicht sprechen und handeln, er will sagen, was ist, und er will nicht verhehlen, was sein sollte; er will keine Winkelzüge machest, sondern in gerader Linie auf sein Ziel los gehen. Er findet einen Beschluß vor, der sich vielleicht zugunsten des Gegners interpretieren läßt — welcher Beschluß ließe sich nicht deuten, welches noch so klare Recht ließe sich nicht be streiten? — und es widerstrebt seiner vor nehmen Gesinnung, diesem Beschluß diejenige Deutung zu geben, die für Deutschland vorteil haft ist. Er lehnt es ab, juristische Prokrustes sitten zu üben und im Zweifelsfalle tritt er auf die Seite des Gegners. Er kann nicht anders: seine noble Gesinnung läßt ihn nicht anders handeln. Sehr schön; aber diese Noblesse kommt uns, der deutschen Industrie, der deut schen Initiative, dem deutschen Namen teuer zu stehen. Das Ausland spendet uns wohlfeile Komplimente und lacht sich ins Fäustchen. Kein einziger ausländischer Staatsmann denkt daran, auf Kosten seines Vaterlandes Eesinnungsadel zu beweisen. Politik ist ein Geschäft. Die Mannesmann-Angelegenheit könnte man, so wichtig sie ist, wie so vieles andere auf das Verlustkonto schreiben, wenn nicht dieser eine Fall typisch zeigte, wie auch in Zukunft unter dem Regime des Herrn von Bethmann die aus wärtige Politik geführt werden wird. Es ist ziemlich aussichtslos, mit dieser Methode fort- zuwirtschasten. Stände nun dem Kanzler in Herrn von Schön eine wirkliche Kapazität zur Seite, so dürfte man vielleicht hoffen, daß seine puritanische Steifheit sich allmählich schmeidigen werde; indessen Herr von Schön ist ein Hof mann und kein Diplomat. Die Entrüstung des Reichskanzlers wird an dieser Tatsache nichts ändern und es ist schlimm genug, daß er sie nicht längst selbst konstatiert hat. Die Gabe, den Menschen zu erkennen, scheint ihm versagt. Deshalb wirkt es auch nicht, wenn er plötzlich lospoltert und die Angriffe auf den Staatssekretär des Auswärtigen für „unerhört" erklärt („unerhört" ist sein Lieblingswort); dieses Pathos hat nichts Ueberzeugendes. So steht cs um den leitenden Mann; und wie steht es um Preußen? Daß die Wahlrechts vorlage in der parlamentarischen Massage zu einem gesunden, lebensfähigen Organismus werden wird, ist schon heute ausgeschlossen. Herr von Heydebrand hat Freunden erklärt, daß er am Ende seiner Konzessionen sei, und Herr von Bethmann hat nicht die Energie gehabt, auf der direkten Wahl zu beharren, die den Nationalliberalen den Anschluß an die Majori tät ermöglicht hätte. Es ist wahrscheinlich, daß die Vorlage verabschiedet wird. Was ist dann erreicht? Nicht das mindeste. Es handelte sich darum, Preußen von einer Kastenherrschaft zu befreien, das gebildete und erwerbstätige Bürgertum zu befriedigen und die radikale Agitation in ihrer Wirkung auf diejenigen Schich ten zu lokalisieren,dieden Meistbietenden zujubeln und von irgend einer Hemmung der Triebe im Staatsorganismus nichts wissen wollen. Dies Ziel hätte eine starke Regierung — wie wir dies vor wenigen Tagen ausführten — sehr wohl erreichen können, da der Führer der Kon servativen ein Mann ist, der die Politik als die Kunst des Möglichen anerkennt und nur dann mit dem Kopf durch die Wand geht, wenn er weiß, daß diese Wand aus Pappe ist. So, wie die Dinge heute liegen, wird die Agitation in. schärfster Form fortgesetzt werden und der Radikalismus wird mit Recht behaupten können, daß die preußische Regierung eine Gefangene der beiden rechtsstehenden Parteien sei. Die Erbitterung in den Mafien ist heute schon sehr stark, und das Verhalten des Polizei präsidenten von Berlin hat dazu beigetragen, diese Flamme zu schüren. Auch das darf nicht übersehen werden, daß Herr von Jagow un mittelbar nach seiner lapidaren Bekanntmachung zur kaiserlichen Frühstückstafel befohlen wurde, eine Auszeichnung, die für einen Beamten im Range eines Regierungspräsidenten durchaus nicht zu unterschätzen ist. Wir wissen also, wohin die Fahrt geht, und daß die leitenden Männer in Preußen in den nächsten Jahren die „stramme Tonart" pflegen werden. Mit welchem Erfolge, das wird die Zeit lehren. All dieser Widerstand ist lediglich Kraftvergeudung. Das Prinzip der geheimen Wahl hat das Parlament, das Prin zip der direkten Wahl hat die Regierung an erkannt. Herr von Bethmann Hollweg hat es zwar zuerst „abgelehnt", die verfassungsmäßigen Grundlagen des Wahlrechts preiszugeben; nach her aber hat er die eine Grundlage, die öffent liche Wahl, ohne schwere Herzkrämpfe verlassen. In die Festung des Dreiklassenwahlrechts ist von allen Seiten Bresche geschossen. Es ist zwar kein Koloß, aber es steht auf tönernen Füßen. Traurig ist es nur, daß eine ganze Nation sich jahrelang abringen muß, um Selbstverständ liches zu erreichen. Hätte die Regierung etwas mehr Interesse gezeigt, hätte sie sich nicht jedes Einflusses begeben, so wäre sicher ein Kompro miß zustande gekommen, das alle bürgerlichen Parteien, mit Ausnahme des — ohnehin schon verlorenen — bürgerlichen Radikalismus ver einigt hätte. Nun aber stehen für Preußen dauernde und schwere innere Kämpfe bevor, und wenn Preußen krank ist, kann Deutschland nicht gesund sein. Sauern-Kreuzzüge. Der Deutsche Bauernbund beginnt dem Bund der Landwirte fürchterlich zu werden. Die Richtigkeit dieser Behauptung werden die Agrarterführer selbst verständlich postwendend bestreiten, aber soweit man noch aus Handlungen von Persönlichkeiten Schlüsse auf die Beweggründe dazu ziehen darf, ergibt sich aus der auffällig rührigen Tätigkeit der Epigonen des Batcrs Plötz eben die sichere Vermutung, daß der Bund der Landwirte alles ausbieten mutz, um seine wankend werdenden Anhänger zu festigen. Die wortgewaltigen Bündlerführer ziehen hinaus beson ders in die Gefilde Hannovers und unseres Sachsen landes, um zum Kreuzzug wider den Deutschen Bauernbund und wider die Liberalen und wider die Revolution zur Verteidigung christlich-germanisch-tel- lurischer Weltanschauung zu predigen Im Vogtland, in der Lausitz, in den Niederungen der Mulde, der Elster und wo man sonst noch unter dem Zehntel der sächsischen Bevölkerung, das sich von der Landwirt schaft nährt, ein Echo zu finden hofft, erscheinen vor nehmlich Ritter ohne Halm und Ar wie Dr. Oertel und Dr. Diederich Hahn und vereinzelt auch richtig gehende Landwirte wie der Rittergutsbesitzer Aus dem Winkel und warnen eindringlich in sorglich ge schlossenen Bundessitzungen vor der Schlechtigkeit der bösen Zeitgenoffen, denen die Lehre des Bundes der Landwirte nicht die Panazee gegen des politischen Lebens Ungemach dünkt. Die übrigen neun Zehntel sächsischer Staatsbürger scheinen den Herren ziemlich gleichgültig zu sein, denn sonst hätten sie in ihrem eigenen Interesse ihren Versammlungen öffentlichen Charakter verleihen müssen, der die Vorbedingung erfolgreicher Werbearbeit ist. Es hätte allerdings auch wie eine wunderliche Groteske gewirkt, wenn Dr. Oertel bei seinem Auftreten in Leipzig am vorigen Sonnabend seine pastoral abgestimmten rein agrarischen Lockrufe an die Bürger der führenden Handelsstadt Sachsens gerichtet hätte. Zweifellos wäre ihm dann eine Antwort zuteil geworden, die ihm das „Sehnen der Seele" nach einer Wiederkehr zur Lindenstadt gründlich verleidet hätte. Die Ar rangeure der Tagung scheinen indes für stärkste Exklu sivität gesorgt zu haben: denn hätten Mitglieder des Leipziger Konservativen Vereins an der Sitzung teil genommen, so wäre es doch deren Ehrenpflicht ge wesen, für ihre vom Bunde der Landwirte abwei chende Haltung zur Erbschaftssteuer tapfer Zeugnis abzulegen, wie dies anderwärts aus Oertels Kreuz zugsfahrten in Sachsen geschehen ist. Gerade der Mangel eines solchen Bekenntnisses und weiter die einhellige Zustimmung der Versammlung zu einer Huldigungresolution an die Leitung des agrarischen Bundes geben uns das Reckt, diese Versammlung lediglich als partielle Bundesheerschau anzuspre chen und damit zugleich einer übertriebenen Aus beutung des „Erfolges" durch die agrarische Presse ein Ziel zu setzen. Was Dr. Oertel in seiner übrigens wohldispo nierten und dem Fassungsvermögen seines spezi fischen Hörerkreises gut angepaßten Rede bot, konnte Kenner der tellurischen Weltanschauung nur ent täuschen und mußte unbefangene Hörer wegen des arg schulmeisterlichen Tones des Vortrags peinlich berühren. Es mag ja in politisch weniger kultivier ten Gegenden des Deutschen Reiches, wo eine guts herrliche oder landrätliche, kräftige Hand politische Aufklärungsarbeit zu hemmen weiß, angebracht sein, dem „beschränkten llntertanenverstand" oder allge meiner geistig schwerfälligen Leuten auf solche Weise die Ziele agrarischer Poltik zu verdeutlichen. Die Uebertragung dieser Methode auf Sachsen zeugt aber non einer nicht gerade schmeichelhaften Einschätzung der geistigen Qualitäten der sächsischen Bundesmit- alieder und es wäre daher nicht weiter verwunder- lich, wenn Oertel» Fehlgriff im Ton unerwünschte Folgen für den Bund der Landwirte haben würde. Die Agrarier bleiben in ihren Forderungen jedenfalls ganz die Alten, und das heißt mit andern Worten: sie baden noch nicht gelernt, sich ins Ganze zu fügen, den berechtigten Interessen anderer Erwerbsstände Rechnung zu tragen und ihre eigenen Wünsche entsprechend zu modifizieren. Nach Oertels Worten haben wir uns auf eine Wiederholung des berüchtigten Antrages Kanitz. auf Vorstöße gegen die Freizügigkeit, auf zollpolitische Begehrlichkeiten, auf Forderungen von Ausnahmegesetzen gegen die außer halb der Verfassung stehende Sozialdemokratie gefaßt zu machen. Das christlich-germanische Staatsideal, wie es den Brüdern Eerlach vorschwebte, ist auch Oertels Ziel. Es ist aber eine üble Selbstüber hebung, wenn immer wieder die Agrarier als „Triarier Sciii'r Ma-eicät" angevrieken werden, zum l die politische Geschichte denkwürdige Beispiele auf weist, nach denen dieselben Leute, die sich ihrer Königs treue io aufdringlich rübmcn. einst mit dem „Kracken der Throne" gedroht haben, als ihre Zollwünschc keine Befriedigung sanden. Wenn aber Dr. Oertel wirk lich glaubt, durch die von ihm vertretene Welt anschauung die Kämpfe der Zukunft siegreich zu be stehen, so mag er doch in öffentlicher Versammlung seine KreuMgspredigt wiederholen und dann übers Jahr als Reichstagskandidat in Sachsen die Probe aufs Erempel machen. Wir glauben, gerade er würde datzei eine ebenso grausame Enttäuschung, eine ebenso schmerzliche Niederlage erleben, wie schon einmal im Jahre 1903. In Sachsen sind die Zeiten greifbarer Erfolge für die Verfechter tellurischer Einseitigkeiten vorüber. Der stieyenüe Menlch. Der Menschenflug ist nun auch für Leipziamehr als ein Problem, denn es ist wirklich ein Mensch über Leipziger Boden geflogen. Und wie bei allen großen Errungenschaften und Neuerungen — die Realisierung bietet dem Zuschauer das Bild des Selbstverständlichen. Nichts Mysteriöses haftet dem Vorgänge an. Alles scheint so klar und einfach, daß Tausende sich gefragt haben werden: Warum fliegt der Mensch nicht schon seit undenklichen Zeiten so durch die Lust? Vorn rotiert eine Luftschraube, die den Apparat vorwärts zieht, zwei weitaus ladende libellenflügelartige Tragflächen tragen einen Motor, unter dem der fliegende Mensch hängt, ein schwanzartiges Gestell endigt in kleinen Steuerflächen, und der ganze Apparat ist fertig. So sieht der Laie das Ding an, und wenn er weiter sieht, wie natürlich und mühe los der Vorgang des Fliegens selbst sich vor ihm abspielt, wie die Schraube anfängt sich zu drehen, wie sie den Apparat vorwärts zieht, wie sich erst in weitem flachen Sprunge der Apparat in die Höhe hebt, um dann nach energischer Aufwärtsbewegung turmhoch in stetem Fluge seine Kreise zu ziehen, dann wird dem Psychologen die Frage verständlich: Warum sott der Mensch eigentlich nicht fliegen können? Und doch, welche ingeniöse Arbeit, welche Höhe der technischen Leistungsfähig keit, welche Opfer an Gut und Blut waren nötig, um dieses Resultat zu ermöglichen! So ein fach und selbstverständlich das Ganze aussieht, bedeutet es doch den letzten Sieg unserer Technik über die Natur, die höchste Leistung sportlichen Kön nens, zu der die Menschheit sich empor geschwungen hat, und alles in allem das romantischste Ereignis unserer Zeit. Es ist gewissermaßen das Ende des Philistertums, das hier in den Lüften signalisiert wird. Niemand hat mehr das Recht, sich auf die Parole „Unmöglich" zurückzuziehen, Jugend, Fortschritt und Freiheit grüßen uns in der hoch oben fliegenden Libelle. Freilich noch sind die Flüge kurz, noch werden sie nach Minuten gerechnet, aber wie lange noch, und wir werden sie nach Stunden und Tagen taxieren und der Verkehr im Luftraum wird die Kriecherei auf der Erde in Wahrheit überflügeln. Mögen Kälte und Feuchtigkeit, stundenlanges Harren in respektvoller Entfernung auch die Skepsis wachgerufen und der Satire zu ihrem Recht verhalfen haben — als der Niesenvogel sich hob und majestätisch in gewaltiger Höhe hoch über den Baumriesen des Leutzscher Waldes dahinflog, ging ein seltsames Gefühl der Ehrfurcht durch die Masse. Mit einem Male ver stummten die Witze, die sich mit Naturnotwendigkeit bei allen solchen Gelegenheiten einstellen, und jubelnd empfand jeder einzelne die Tatsache: der Mensch kann fliegen! Ganz anders als das lenkbare Luftschiff wirkt dieser Flug des Aeroplans auf die Sinne. Hier packt nichts räumlich Gewaltiges wie beim Luftschiff des Grafen Zeppelin. Hier überwältigt nicht in gleichem Maße ein Riesenapparat, hier sieht man das Einzel wesen sich von den Banden der Erdenschwere befreien, um es in die Luft, den scheinbar unbegrenzten Raum, zu entführen. Am intensivsten vielleicht hat diesen Tag unsere Jugend erlebt. Ihr ist ein neues himmelanstürmendes Ideal geworden und ihre Begeisterung soll uns auf wärts führen. * Sans Grsüe kltegt in Leipzig. Grade ist 3 Minuten 33 Sekunden geflogen, das ist das Resultat des ersten Tages. Trüb hatte der Tag begonnen und trüb blieb es. Dabei fegte ein scharfer, eisiger Wind durch die Straßen, der auf freiem Felde noch unangenehmer wurde. Daß sich deshalb aller Sportfreunde eine bange Sorge bemächtigte, war nur natürlich, glaubte man doch, daß die in Aussicht genommenen Flüge Grades nicht zur Ausführung gelangen würden. Das einzig Tröstliche war, datz ab und zu einmal die Sonne durch die Wolken brach und die herrschende Kälte das Einsetzen des Regens verhinderte. Man ist ja in Leipzig allgemach daran gewöhnt, daß bei besonderen Anlässen das Wetter immer ungünstig ist, und so läßt man sich nicht mehr sonderlich dadurch beirren. „Leipzig in Sachsen voran, ist die Losung der Leip ziger Sportwelt, und es war deshalb auch nicht anders möglich, daß wir in Leipzig die ersten Schau« flüge sehen mußten. Dem Verein Sportplatz in Gemeinschaft mit dem Leipziger Luftschiffer-Derein haben wir cs zu verdanken, daß wir das Schauspiel zuerst in Sachsen zu sehen bekamen, und das Leip ziger Publikum hat den Veranstaltern bewiesen, daß es ihnen dafür dankbar ist. Wer es nicht gesehen hat, kann sich so leicht keinen Begriff von der Menschenmenge machen, die am Sonnabend nach-
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