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Ein illustrirtes Fachjournal für die Wollen-, Baumwollen-, Seiden-, Leinen-, Hanf- und Jute-Industrie sowie für den Textil-Maschinenbau; Spinnerei, Weberei, Wirkerei, Stickerei, Färberei, Druckerei, Bleicherei und Appretur. Adresse filr Postsendungen: Leipziger Monatschrift für Textil-Industrie, Leipzig. Filr Telegramme: Redakteur Martin, Leipzig. Herausgeber und Chefredakteur: Theodor Martin. Hedalction u. Verlag: Leipzig, Turnerstr. 17. Vertreter filr Grossbritannien : John Butler. Manchester, Virgilstreet 13. Organ <less "Vereins Dentselier* Wollkämmer und Kamingariispinner. Leipzig, 31. März 1887. Nachdruck aus dieser Monatsehrift nur mit vollständiger Quellenangabe gestattet. II. Jahrgang. Nüt 3. Alte und neue Haus-Industrie. Nach einem Vortrage Friedrich FisCHBäch’s. Auf die Einladung der bernischen Künstler gesellschaft hin hatte Herr Director Fischbach aus St. Gallen sich kürzlich bereit finden lassen, einen Vortrag über alte und moderne Haus industrie zu halten. Derselbe verfehlte nicht, ein sehr zahlreiches Publikum anzuziehen, wel ches mit hohem Interesse den Mittheilungen folgte, welche der Redner über die Geschichte und den augenblicklichen Stand der Textil industrie gab, wobei die kunstgewerblichen Arbeiten, welche die moderne Technik der Maschinenstickerei illustrirten, mit Bewunderung erfüllten. — Nachdem der Redner in der Ein leitung einen kunstgeschichtlichen Ueberblick über die Textilindustrie gegeben, welche so alt ist wie die Culturgeschichte des Menschen geschlechtes überhaupt, behandelte er seinThema in drei grossen Abschnitten: 1) die Textilindustrie im Alterthum; 2) die südslavische Textilindustrie; 3) die Ergebnisse der modernen Maschinen technik. — Aus Stellen des Homer, der Bibel und der Nibelungensage brachte er den Beweis, dass die Kunstfertigkeit des Gewebes in frühe ster Zeit in den Händen der Frauen ruhend, zu einer gewissen Höhe gebracht war, von welcher bis vor kurzer Zeit nur höchst spär liche Ueberbleibsel auf uns gekommen sind, um irgend eine Anschauung von der Art und Weise, wie die Menschen jener Zeiten sich kleideten, zu geben. Erst den Ausgrabungen des Dr. Bock in Aegypten sei es gelungen, eine reiche Anzahl Gewandungen in koptischen*) Gräbern aus dem zweiten Jahrhundert nach Chr. an sich zu bringen, welche einen reichen Einblick in Orna mentik-Gewebe, Farbencombination etc. gestat ten. Herrn Fischbach war es gelungen, eine Anzahl solcher Gewebestücke zu erwerben, und *) Die Kopten sind ein christliches Volk in Aegypten, welches man als die Nachkommen der alten Aegypter betrachtet. Dieselben wurden von den römischen Kai sern ihres von der römischen Kirche abweichenden Glaubensbekenntnisses wegen verfolgt und unterdrückt, worauf sie die Araber zu Hülfe holten, welche die römische Herrschaft allerdings brachen, aber den Mo- hamedanismus als Staatsreligion einführten. Jetzt kom men die Kopten uns noch vereinzelt vor in der lybischen Wüste, wo sie einige wenige Klöster besitzen. lagen dieselben zur Ansicht für die Besucher des Vortrages auf. Dieselben waren zum Theil wohl erhalten, was dem Umstande zuzuschrei ben ist, dass die Gräber, denen sie entnommen waren, circa sechszehn Fuss über dem höchsten Wasserstand des Nil lagen, mithin nur dem Einfluss des trockenen Wüstenwindes ausgesetzt waren. Die Ornamentik ist oft überraschend, ja mitunter poesievoll und sinnig. Auf einem dieser Gewänder war die Geschichte Josephs bibelgemäss von seinem Verkauf durch die Brüder bis zu seiner Erhöhung zum Statthalter in Aegypten eingewebt; auf einem Kindeskleid chen als Zierrat auf den beiden Schultern ein Baum und zwei kleine Entlein. — Die Orna mentik jener Gewänder ist eine so vielgestaltige, dass Gothik, Renaissance, Byzantinerstyl sich darin vorfinden, und das alte Wort Ben Aki bas, „Alles schon einmal dagewesen“, sich aufs Neue bestätigt. Zu dem zweiten Theil seines Vortrages übergehend, kam Herr Director Fischbach auf die südslavische Hausindustrie zu sprechen, die auch erst in den letzten Decennien aus ihrer Verborgenheit hervorgezogen wurde. Es ist eine eigenartige Ornamentik in den Geweben der slavischen Frauen, welche um so wunder barer berührt, als dieselben ohne jede Vorkennt- niss die gefälligsten Muster aus freier Hand sticken. — Eine reiche Collection derartiger Muster lag ebenfalls auf, ebenso ein Werk über die slavische Ornamentik, welches Herrn Director Fischbach zum Verfasser hat. — Diese Arbeiten slavischer Frauen geben den Anstoss, nachzuforschen, ob in Deutschland sich nicht ähnliche Erzeugnisse der Hausindustrie von Frauenhand ohne Vorkenntnisse hergestellt vor finden liessen. Zum Beleg hiefür brachte der Redner eine kunstvoll gestickte Krone, wie sie noch heute in der Gegend von Marburg (Preussen, Reg.-Bezirk Cassel) von den Bäue rinnen gefertigt und auf dem Haupte getragen Werden. — Bis hierher handelte es sich in dem Vortrage nur von Hausindustrie ohne jede Maschinentechnik. Zu der modernen Textil industrie übergehend, führte Herr Director Fischbach die überraschende Thatsache vor, dass St. Gallen gegenwärtig etwa 20,000 Stick maschinen in Thätigkeit habe, von denen jede zu 200 Nadeln circa 3 / i Millionen Stiche täg lich liefere und zwar so fein und so exakt, wie die Menschenhand sie kaum anfertigen könne. Diese Stickmaschinen leisten das stau nenerregendste, wie die herumgezeigten Proben bewiesen, und wie s. Z. die Buchdruckerkunst das Abschreiben verdrängte, so habe die Maschinenstickerei die Handfertigkeit auf die sem Gebiete vollständig aus dem Felde ge schlagen. Der jährliche Export, den St. Gallen durch die Stickerei zu verzeichnen habe, be ziffere sich auf 100 Millionen Fr. jährlich, wo bei auch rühmlich hervorzuheben sei, dass die kleine Stadt St. Gallen mit 30,000 Einwohnern 58,000 Fr. in das Budget zur Hebung dieser Industrie aufgenommen habe. Hundert Millio nen Fr. Export fürwahr ein glänzendes Re sultat der Industrie und des Gewerbefleisses und beschämend für manche andere Stadt der Schweiz, vor allem die Bundesstadt. Für die Maschinenstickerei sind die aufgefundenen Textil muster aus dem Alterthum von grossem Werth, da sie im Verein mit der slavischen Ornamentik immer neue Anregung zu Combinationen geben. — Gegenüber der Maschine, fährt der Redner fort, könne die Hausindustrie nicht aufkommen, aber wie die Buchdruckerkunst das Schreiben nicht zu beseitigen vermochte, sondern das selbe nur in andere Bahnen lenkte, so müsse die Hausindustrie sich nach einem andern loh nenden Gebiet umsehen. Hier erwähnte der Redner die in jüngster Zeit in Aufnahme ge kommene Teppichknüpferei, welche für viele Frauen eine Einnahmequelle zu werden ver spreche. Bisher sei das Rohmaterial zu theuer gewesen und dies hinderlich für erspriesslichen Absatz der Waare. Jetzt aber sei es gelungen, Wollabfälle aus England um ein Drittel billiger als früher zu erwerben, und verspreche er sich davon einen Aufschwung der von Frauen leicht neben ihrer Hausarbeit zu bewältigenden Tep pichknüpferei. Es bedürfe allerdings noch einer gewissen Centralleitung und einer Centralstelle für das zu verwendende Material etc., aber mit warmen Worten sei den Damen Frau Oberrichter Schwab und Frau Pfarrer Strahm der Dank auszuspreeben für die Initiative, die sie zur Einführung dieser Hausindustrie in Bern ergriffen haben. — Die sociale Frage verlange eine Lösung. Nicht mit Almosen, sondern durch Arbeitgeben solle man helfen.