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Ein illustrirtes Fachjournal für die Wollen-, Baumwollen-, Seiden-, Leinen-, Hanf- und Jute-Industrie sowie für den Textil-Maschinenbau; Spinnerei, Weberei, Wirkerei, Stickerei, Färberei, Druckerei, Bleicherei und Appretur. Adresse für Postsendungen: Redaktion u. Expedition: Leipzig,Turnerstr. 11. Leipziger Monatschrift für Textilindustrie, Leipzig. — , , . TU rl M ♦“ Filial-Expedition: Für Telegramme: Martincompagnie Leipzig. Ll6T3>11S^6 U6T UHC1 vll61T6CldjlCu611T • I R60 U 0 I* Wl S T 11 R« Berlin S.» Grimmstrasse 30 (Gustav Hildebrandt). Organ des Vereins Deutscher Wollkämmer und Kammgarnspinner. Leipzig, 15. Juni. Nachdruck aus dieser Monatschrift nur mit vollständiger Quellenangabe gestattet. Jahrg. 1886. N?- 6. Die Weberbewegung am Niederrhein. I. Alle Erfindungen des Gewerbefleisses, sofern ihre Verwerthung in bestehende Erwerbsver hältnisse eingreift, haben stets eine mehr oder weniger tiefgehende Umwälzung der letzteren zur Folge. Durch die erleichterte und verein fachte Herstellung wird zwar das Fabrikat im Preise billiger, und es werden somit die Er zeugnisse der Industrie mehr als früher zum Gemeingut Aller, andererseits aber, und diese Thatsache kommt bei dem vorliegenden Gegen stände in Betracht, entsteht durch eine ver mehrte Produktion, welcher ein entsprechend stärkerer Consum nicht immer gleichzeitig ge genübersteht, in vielen Fällen geradezu eine Ueberproduktion, manchmal aber auch ein dauerndes Ueberschüssigwerden von Arbeits kräften. Es entsteht eine Uebergangszeit, welche für den mitlebenden Betheiligten, zumal für den von seiner Hände Fleiss lebenden Arbeiter, eine verhängnissvolle Schädigung des Erwerbs be deutet, und deren Intensität um so fühlbarer auftritt, in je grösserem Contrast die neuen Produktionsbedingungen zu den bis dahin vor handenen stehen. Wohl selten, seitdem auf dem Gebiete der Textil-Industrie der mechanische Webstuhl angefangen hat, im Wege der allmählichen Ver vollkommnung den Handwebstuhl zu ver drängen, haben sich die damit verbundenen Umwälzungen in so jäher und unvermittelter Weise vollzogen, als bei der Einführung des selben in der deutschen Seidenindustrie und im Besonderen in den Industriebezirken am Niederrhein. In erster Linie war es der me chanische Webstuhl für Doppelsammet, dessen wesentliche Verbesserung gegen Ende des letz ten Jahrzehnts die Herstellung von Sammet und verwandten Geweben in früher niemals geahnter Weise erleichterte, und in diesem Zweige des rheinischen Manufactur-Gewerbes Aenderungen von ganz besonderer Tragweite herbeiführte. Bald, nachdem die Bedeutung des neuen Systems erkannt worden war, entstanden allenthalben Sammetwebereien mit mechani schem Betrieb, und, begünstigt von der herr schenden Mode, stieg die Zahl der mechani schen Sammetwebstühle so schnell, dass während dieselbe im Jahre 1882 im Bezirk der Handels kammer von Crefeld erst 371 betragen hatte, im Jahre 1884 deren daselbst schon 1086 in Betrieb waren. Seitdem ist die Zahl der me chanischen Sammetwebstühle in stetiger Zu nahme geblieben und kann, in Ermangelung statistischer Erhebungen aus der seither ver flossenen Zeit heute auf rund 1600 angenommen werden. Diese Zunahme wird indessen erst durch den Umstand in’s Licht gestellt, dass der mechanische Webstuhl für Sammet, ver glichen mit dem Handwebstuhl, in der näm lichen Zeit ungefähr das 11—12fache Waaren- Längenmaass liefert, und dass die Vermehrung der Produktion somit einer solchen von mehr als 13,000 Handwebstühlen seit 1882 gleich zuschätzen ist. Ungeachtet dieser bedeutenden Vermehrung der Produktionsmittel stieg da neben die Zahl der Handwebstühle im Beginn der vorgenannten Periode noch um 4000, weil durch die ungleich schnellere, und eben da durch billigere, Herstellung der Waaren dem Verbrauch von Sammet ein weit grösseres Feld erschlossen wurde und selbst der mechanische Betrieb dem plötzlich auftretenden enormen Be gehr nach dem Artikel nicht zu genügen im Stande war. Dieses günstige Verhältniss dauerte jedoch nicht lange. Es stellte sich heraus, dass der Verbrauch mit dem Gange der Produktion auf die Dauer nicht gleichen Schritt hielt. In verhältnissmässig kurzer Frist waren alle Märkte des In- und Auslandes mit Waaren überfüllt, und die Entwerthung der Fabrikate wurde da durch noch besonders verschärft, dass die Hand weberei, welche gegen die billigere Produktion des mechanischen Betriebes nur durch die Her stellung billiger Qualitäten aufkommen konnte, eine Menge minderwerthiger Waaren producirt hatte. Es erfolgte eine allgemeine Einschrän kung der Produktion, welche naturgemäss in erster Linie die Handweberei traf und binnen wenigen Monaten war von den 22,000 Hand webstühlen des Crefelder Bezirks kaum mehr als die Hälfte, im weiteren Verlauf der Krisis bis Ende 1885 indessen höchstens noch ein Zehntel in Thätigkeit. Auf dem Gebiete der Seiden-Stoff-In- dustrie führte sich der mechanische Betrieb in dem nämlichen Zeitabschnitte ungleich lang samer ein. Einmal fehlte es hier an der ausser ordentlichen, epochemachenden Erfindung, wie sie beim mechanischen Sammetwebstuhl zur Geltung kam, und zweitens war die Mode, im Gegensatz zur Sammet-Industrie, einer schnellen Einführung durchaus ungünstig. Wenn dennoch auch hier die Zahl der mechanischen Webstühle sich von 1882—1884 nahezu verdoppelte, so erscheint die Zunahme in diesem Falle um so bedeutungsvoller, als sie darauf hinweist, dass die Richtung unserer Zeit, die Maschine an die Stelle der menschlichen Handthätigkeit zu setzen, in ihrem Fortschreiten nicht aufzuhalten ist, selbst nicht durch Umstände, welche dem letzteren feindlich sind. Auch hier war die Verminderung des Handbetriebs die unmittel bare Folge und schon im Jahre 1884 war die Zahl der in der Hausindustrie beschäftigten Weber gegen 1882 um mehr als ein Fünftel zurückgegangen. In beiden Zweigen der niederrheinischen Seidenindustrie kurz hat die Ausbreitung der Herrschaft des mechanischen Webstuhles Ver hältnisse geschaffen, wie sie trauriger und be- klagenswerther selbst in Kriegszeiten, oder als Folge allgemeiner Handelskrisen, kaum jemals empfunden worden sind. Die bedeutenden Ein schränkungen der Produktion in der Haus industrie, und in Folge davon das starke An gebot beschäftigungsloser Arbeitskräfte, haben eine bedauerliche Herabsetzung der Weberlöhne herbeigeführt, welche sich namentlich zurWinters- zeit, wo anderweitiger Erwerb kaum möglich ist, doppelt fühlbar macht. An manchen Orten, zumal in den Distrikten, wo die Sammetweberei die ausschliessliche Hausindustrie bildet, ent stand sogar zeitweise wirklicher Nothstand, dem zwar die Verwaltungen der Gemeinden und der Provinz sowohl, als auch die Privatwohlthätig- keit nach Kräften zu begegnen bemüht gewesen sind, jedoch war dadurch die Quelle des Uebels nicht beseitigt. Immer mehr greift die Erkennt- niss Platz, dass der Kampf der Hausindustrie gegen den Maschinenstuhl, selbst bei den denk bar geringsten Löhnen, aussichtslos und ein grosser Theil der Hausweber dauernd über schüssig geworden ist. Gerade die Herstellung der wichtigsten, weil quantitativ bedeutendsten, glatten leichten Artikel ist die Domäne des mechanischen Webstuhls geworden, und nur in den besseren und kunstvollen gemusterten Geweben kann die Handweberei sich auf die Dauer mit Erfolg behaupten.