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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 29.09.1910
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1910-09-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19100929011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1910092901
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1910092901
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-09
- Tag 1910-09-29
-
Monat
1910-09
-
Jahr
1910
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Bezugs-Preis für Lrtpjia und »»rch krig« »n» Sv«»««,»« 2»«l ttalich m« Haus zevrachi; SV monatl., L.7v^k »irrlrljihrU Bei uniera stiliale» ». Sn» aalnaeilellen »boebal«: 1» movatU, H.I» »»««rlithel. V»rch »t« »,»! «XE-ald Laulwiand« und d« deuiich« Kolonien »irrielitdrt. ii.tt »onatl. >.<k auslchl. PoNdeliellaeld. ffernar in Belgien, Linemark, den Donauilaate», Zlalien, durcmdurg, Niederlande, di»r- wegen, Oesterreich-Ungarn, Bubland. Schweden, Schwerz » Spante». In alle» übrigen Staaten »nr direkt durch die GeichPtslielle da» Blatte« erchtlilrch. La» Leipziger r<^»dl,n ericher», Smat täglich, Soun- » Feiiriaa« aur morgen«, ttdonnru eut-liinnatun«. Bugultusplatz 8, bei unseren lrtgern. ffiltale», Lvediteurau und Luuatzwetzellen, lowre Postämtern uud Briefträger» Utngildertauleprei« »er Btorgen» «uägube Iv der «.bendrusgabe 8 äirdaktton und Selchafttstellei J»bann>«gaste 8. gernivrecher: I«VVL läüR. l«KX Handelszeitung Amtsblatt -es Rates ««- -cs Volizeiamtes -er Stadt Leipzig Haupt - Siltale Berit»: ! Lnncker. Herrogi. Buyt. HasBuch» baadlung, Lügawkiubr!l» (Letevuon Vt. >ir. Haupt-Stlial» Lreäde« keellrase «, t (Teieaboa Lnxc . en-. rcrv lchr I»trrar« au» Le>»,ig »>,o »mgedun-, d«» Sgeipaltene 80 mm breit« Peiir,eit« L dv 74 au» breu« ^«Na:n»z«,le > UMI «»wärt« 8V Be ameu i.Lt Inirrer» »»» «rddrden '» amtlichen Lest »«, -4 dar» drrit» BBtt»riIr 4«, ch. »aschä»i«anrr,g«n ma B apdorlchritien an» t» der Bdandautaad» >m Prexe ridovt Badatl uoch tar>b Brilagrgedud« ü ^g ». rauiend exü. Postgebühr. sfrsterleUl, tlultrtg, kSnne» >nchr «urUst. »«zogen werden. Istr da« itrschetne» an deftunuttaa La,«» an» Plätzen wir» krra« itzaraun» üdermnuaw» «nzetgen-Onnadme: Bugnstulplatz det iämtUihen Iiliaten a. alle» iännonee»- ttgpediluinen de« In» na» Lu«lande«. Morgen-Ausgabe. ripMtrTagMM Nr. 2SS. Vonnersiag, -en LS. September ISIS. 104. Jahrgang. Das Wichtigste. * Die 23. Generalversammlung des Evangelischen Bundes ist am Mittwoch geschlossen worden. Die nächste Tagung findet im Oktooer 1911 in Erfurt statt. (S. d. oes. Art.) * Die Unruhen in Moabit dauern fort. 20 Verletzte wurden ins Moabiter Krankenhaus ein geliefert. (S. Leitart. u. Letzte Dep.) * Die Einigungsverhandlungen in der Werft- bzw. Metallindustrie, die, wie es heißt, eine gütliche Beilegung der Differenzen erhoffen lassen, sind vertagt worden. (S. Letzte Dep.) * Auf dem Flugfelde in Mülhausen im Llsah ist am Mittwochnachmittag der Ingenieur Plochmann bei einem Flugversuch mit seinem Apparat abgcstürzt. Er hat so schwere Verletzungen davongetragen, daß man für sein Leben fürchtet. (S. Sport.) * Das Luftschiff „P. VI" unternahm gestern von München aus eine Fahrt über die Zugspitze und führte nach der Rückkehr eine Fahrt über München aus, an der Graf Zeppelin und Prinz Ludwig von Bayern teilnahmen. (S. Letzte Dep.) * Der türkische Finanzminister Dschavid Bey wandte sich in einem bemerkenswerten Interview gegen die Finanzpolemik in der französischen Presse und erklärte, das; er auch Anleihe-Angebote von deutschen und österreichischen Häusern habe. (S. Ausl.) Moabiter Mob. Die in Berlin bisher beispiellosen Vor gänge in Berlin-Moabit haben sich aus einem Streik von Kohlenfahrern ent wickelt. Seit dem 19. sind die durchweg sozial demokratisch organisierten („Vorwärts") Fahrer und Schipper der Kohlenfirma Kupfer L Co. in den Ausstand getreten, weil die Firma ihnen eine bedeutende Lohnerhöhung (Steigerung des Stundcnlohnes von -13 auf 30 Pfennige) nicht bewilligt hat. Die Firma hat arbeitswilliges Personal bekommen. Alle Berliner Streiks, bei denen dersozialdemokratischeTransport- arbeitcr verband beteiligt war, haben das Schauspiel gebracht, daß die Arbeitswilligen in entlegenen Straßen von den Streikenden über fallen und mit den bekannten „zwingenden" Argumenten und nicht minder bekannten „geistigen" Waffen bearbeitet wurden. Prä- oentivmaßregeln waren daher in diesem Falle um so dringender geboten, als von vornherein feststand, daß jede Brutalisierung der Arbei tenden, jeder Exzeß gegen das Eigentum der Firma an der Moabiter Bevölkerung Rückhalt finden würde. Jeder Kohlenwagen der Firma wird daher von vier Berittenen und mehreren Schutzleuten zu Fuß geleitet. Der Kohlen hof der Firma selbst hat mit einer Polizei wache belegt werden müssen. Diese Maß regeln waren unbedingt nötig. Es ist die ver dammte Pflicht und Schuldigkeit der Polizei, dafür zu sorgen, daß nicht durch Drohungen und Gewalt Leute, die arbeiten wollen, daran ver hindert werden; daß nicht das Eigentum einer Firma, bei der gestreikt wird, demoliert wird. Daß alle derartigen polizeilichen Maßnahmen andererseits auf den mit dem Blaukoller be hafteten Mob aufstachelnd wirken, ist richtig Dagegen ist nichts zu machen. Oder will jemand ernsthaft verlangen, daß die Polizei ihre Pflicht nicht tun soll, um die heiligsten Gefühle der Blaukollrigen zu schonen? Der „Vorwärts" behauptet, an den Aus schreitungen sei nur der Großstadtmob, seien keine Arbeiter beteiligt. Er stützt sich dabei darauf, daß bisher keiner der Streikenden bei den Moabiter Straßcnkümpfen verwundet worden ist. Daß dieser Beweis einigermaßen dürftig ist, liegt auf der Hand. Es liegt in der Technik solcher Massenverbrechen, daß gerade die Schlimmsten, die wüstesten Hetzer, die Gewalttätigsten nur sehr selten zu fassen sind. Sie bergen sich in den Hinteren Reihen und entfalten von dort aus verhältnis mäßig gefahrlos ihre Tätigkeit. Daß also kein Streikender bisher verletzt wurde, kann ebenso gut ein besonders schlimmes Zeichen sein. Doch gleichgültig. Denn es ist etwas festzustellen, was über die moralische Schuld an jenen Vorgängen entscheidet: das ist, daß die Ber liner Sozialdemokratie, daß insbesondere der „Vorwärts" die Zeuger und Nährer jenes Blaukollers sind. Wir wollen uns nicht mit Beweisen aus der Vergangenheit auf halten. Die „Vorwärts"-Nummern von gestern und heute bieten des Beweisstoffes übergenug. Wir beschränken uns auf drei Stellen: „Das provokatorische Auftreten der Arbeitswilligen, dazu das rücksichtslose Vorgehen der Polizei gibt die Veranlassung zu den Exzessen, an denen sich, wie immer in solchen Fällen, die aufgeregte Volksmenge und der Janhagel beteiligten." Anderswo heißt es, daß die Arbeits willigen „scheuen Blickes" ihre Tätigkeit verrichten. „Scheuer Blick" und „provo katorisches Auftreten"? Für den „Vorwärts" einen sich diese Dinge, die sich gegenseitig aus schließen, ohne weiteres. Er bringt weiter die Zuschrift eines Moabiter Genossen: „Die Po lizei ist in der Tat tagelang verhöhnt und gereizt worden wegen ihrer Begleitung Kupferscher Kohlenwagen." Das ist also das rücksichtslose Vorgehen der Polizei! Wir glauben zu wissen, daß die Moabiter Exzesse von der überwiegenden Mehrzahl der Berliner Arbeiter schaft entschieden verurteilt werden. Das ändert indessen nichts daran, daß die verlogene Bericht erstattung und Stellungnahme des Zentral organs der Sozialdemokraten in diesem wie in allen ähnlichen Fällen allein ermöglicht, daß solche Exzesse nicht von dem Unwillen der an ständigen Arbeiterschaft im Keime erstickt werden. Und nun diese Exzesse selbst! Wie immer, reichen sich auch hier Feigheit und Roheit die Hand zum edlen Bunde. In die erste Reihe der Exzedenten werden Frauen und Kinder gestellt, damit sich die Polizei durch die Rücksicht auf die Schwachen in ihrem Vor gehen gehindert sieht. Daß diese Frauen und Kinder durch ständige Schimpfereien den Be amten das Blut heiß machen, versteht sich am Rande. Hinter dieser Schar bauen sich die Leute auf, die mit Pflastersteinen, Bierflaschen und Revolvern im geeigneten Augenblick das Gefecht eröffnen. Familienväter haben dabei ihre Kinder auf dem Arm. So, glauben sie, sind sie gegen jeden rächenden Säbelhieb geschützt. Den Schutzmannsketten gegenüber be schränkt man sich auf das Ferngefecht. Aber wehe dem Vereinzelten, gegen den sich die Wut der Masse richtet! Ein versprengter Schutz mann bricht blutüberströmt zusammen. Die Menge stürzt sich auf ihn. Und nur die Ent schlossenheit eines Mannes, der den Ohn mächtigen in den Hausflur zerrt und die Tür schnell zuschlägt, rettet ihm das Leben. Denn das schwere Tor widersteht dem Anprall der rasenden Menge. Die Elektrische, in der fried fertig ein Pastor der Reformations kirche nach Hause fährt, wird mit einem Stein hagel überschüttet. Dem fliehenden Pastor drängt tobend die Menge nach. Er kann ge rade noch das Haus erreichen, ehe ihn die Rasenden überwältigen. In eine Gast wirtschaft flüchtet ein Wachtmeister. Er entwischt durch ein Hinterfenster. Nun richtet sich die Wut der Menge gegen den Gastwirt und seine Frau. Er wird totgeschlagen, die Frau lebensgefährlich verletzt. Die Straßen laternen werden ausgedreht oder zertrümmert, die Feuermelder zerstört und die heranraffelnden Feuerwehrwagen mit einem Steinhagel emp fangen. Schaufenster werden eingeschlagen und geplündert. Aus den Gastwirtschaften und aus dem sicheren Schutz der oberen Etagen herab grüßt die vorrückende Polizei ein Hagel von Bierseideln und -flaschen, Steinen, Blumen töpfen. Ein Hexensabbat des Rohen, Feigen und Gemeinen. Die Polizei hat sich musterhaft be nommen. Nicht einmal der „Vorwärts" wagt bisher, irgendeinen Polizeiexzeß zu melden. Sie hat einen verzweifelt schweren, nerven zerreibenden Dienst. Daß sie sich trotz alledem streng in den Grenzen ihrer Befugnisse gehalten hat, legt ein rühmendes Zeichen für den guten Geist ab, der in ihr lebt. Nur will es dem unparteiischen Beobachter scheinen, daß sie mit dem Ernst etwas zu lange gefackelt hat. In Frankreich unter Herrn George Clemenceau, dem Sozialistisch-Radikalen, und unter Herrn Aristide Briand, dem Sozialisten, ist man in den entsprechenden Fällen mit der Schußwaffe viel schneller bei der Hand gewesen. Dort versteht man sich, dank ein Jahrhundert langer Erfahrung, bester auf die Unterdrückung von Pöbelexzeffen als bei uns. Bei uns, wo vielen noch nicht aufgegangen ist, daß die größte Grausamkeit bei solchen Exzessen in dem iaisser aller besteht. Schließlich muß doch einmal durch gegriffen werden. Und gingen ein paar Tage des laisser aller voran, so sind aus den Hunderten der ersten Tage Tausende geworden, die nun die unerbittliche Schärfe der Waffe trifft. * Ueder üen Aufruhr in Mosdit wird uns noch aus Berlin telegraphiert: Ein schreckliches Bild der Verwüstung bildet die am meisten von dem Aufruhr heimgesuchte Rostocker Straße. Auf dem Fahrdamm lagen am Mittwochmorgen haufenweise Glasscherben, Möbel stücke und die Hauptwaffe des Janhagels, die aus dem Pflaster herausgerissenen Steine. Hier und da sieht man auch kleine Lachen geronnenen Blutes. Kaum ein Haus in der ganzen Straße ist unbeschädigt. Diele Fensterscheiben und die großen Scheiben der Haustüren sind beschädigt. Faustgroße Löcher in den Türen und Wänden zeigen den Weg, den die Revolverkugeln genommen haben. Vorüber gehenden Fremden werden die zerbrochenen Scheiben und die zerschlagenen Türen mit einer gewißen Genugtuung gezeigt, und man hört überall Dro hungen, daß es in der nächsten Nacht noch ganz anders kommen werde. In den Wohnungen, wo die Kugeln eingeschlagen haben, sieht es wüst aus. Von den Verwundeten, die ärztliche Hilfe in Anspruch nahmen, gaben die meisten an, Mitglieder der Betriebskrankenkasse der Löweschen Fabrik und der Allgemeinen Elektrizitäts gesellschaft zu sein. Ein großer Teil der Aus schreitenden zog sich in der Nacht gegen 2 Uhr in den Hof der Löweschen Fabrik zurück und wurde von dem Portier, der den Befehl erhalten hatte, das Tor geschloffen zu halten, anstandslos eingelassen. Heute abend wird die Polizei für strenge Bewachung des Tores Sorge tragen. Die Arbeiter von Ludwig Löwe und den anderen Fabriken gingen in der Mittags pause ruhiger als am Vortage nach Hause oder in die benachbarten Kneipen. Die Rostocker' Straße mieden sie so viel wie möglich. Von den Löweschen Arbeitern erschienen morgens mehrere mit ver bundenem Kopfe. Nachmittags ^,3 Uhr begann unter dem Vorsitz des Polizeipräsidenten von Jagow im Polizei präsidium eine Konferenz, an der mehrere Regie- rungsräte teilnahmen. Die Chefs der Firma Kupfer L Co. waren ebenfalls zu dieser Sitzung geladen. Die Polizei hat einen ausführlichen amtlichen Bericht über die Vorgänge in den letzten Tagen heraus gegeben. Nach dem amtlichen Bericht über die gestrigen Vorgänge in Moabit find die Angriffe und Widerietz- lick leiten meistnicht von demsogenannten Janhagel.wie am Abend vorher, sondern von besserenArbeitern ausgegangen. Namentlich in der Rostocker Straße ist überall der Beweis gesunden worden, daß aus den Hausfluren und Fenstern Revolverschüsse gegen die Polizei abgefeuert worden sind, namentlich durch die Spalten heruntergelassener Jalousien, worauf die Polizei mit Revolverschüssen erwiderte. Die genaue Feststellung der Zahl der Verletzten war bisher unmöglich. Kriminalbeamte beschlagnahmten heute das Krankenjournal für Unfallstation, um die Namen der Verletzten seft- zustellen. Die gerichtliche Untersuchung gegen die fest gestellten Beteiligten an dem Tumult ist zum Zweck der Erhebung einer Anklage wegen Aufruhrs, auf den schwere Zuchthausstrafe gesetzt ist, ein geleitet worden. Bilder von der Aufruhrstättc geben die Berliner Blätter in ihren spaltenlangen Berichten: In knappen Zwischenräumen hört man bald vorn, bald rückwärts vereinzelte Schüsse fallen, eine Fensterscheibe hört man in Trümmer gehen, hört Steinwürfe. Und bald aus diesem, bald aus jenem Hause erschollen aufregende Rufe: „Blut hunde! Kommt doch her, wenn Ihr was wollt!" Dazwischen schrille Pfiffe und Katzen musik mit den verschiedenartigsten Tier- stimmen-Jmitationen. Katzen miauen, Hunde bellen, Hähne krähen. Dann wieder Rufe: „Rache! Lausejungen!". Einige Male wird auch der Polizeipräsident direkt apostrophiert, der in leinem Zylinder von der ganzen Straße aus zu sehen ist, da er an der hellbeleuchteten Straßenkreuzung steht. „Komm doch her, Jagow, hast Du Hunger!" Zwischendurch immer wieder vereinzelte Schüsse. Ein paar Minuten lang ist es ruhig, dann fängt der Spuck wieder an. „Bluthunde!" leitet einer ein und aus den verschiedensten Häusern sekundieren ihm Männer und Frauen, ein ganzer Chorus er schallt. Und bei besonderen Kraststellen ertönt Bei fall und Händeklatschen. Unb über alledem pech schwarze Finsternis, die das Auge nicht zu durly- dringen vermag. In zwei Destillationen in der Huttenstraße sitzen hinter verschlossenen Rolläden Dirnen und zweifel haftes Gesindel. Sie wollen dort warten, bis auch ihre Zeit kommt, bei der allgemeinen Aufregung irgendwo im Trüben zu fischen. Die Lokale sollen ausaehoben werden. Ein kräftiger Griff und die Rolläden fliegen hoch. Kreischende Weiber. Blaß steht der Wirt mit der Schnapsflasche in der Hand. Die tapferen Beschützer der Damen find in das dunkle Hinterzimmcr geflüchtet. Hier im Dunkeln wächst ihnen wieder der Mut. Man hört etwas brechen. Sie bewaffnen sich mit Stuhlbeinen. Jetzt arbeitet der Polizeisäbel. Doch keiner der „Blauen" verliert die Besinnung, nur flache Hiebe setzt es. Der brennende Scheiterhaufen. Die Pause war nur die Ruhe vor einem neuen Sturm. Im Schutze der Dunkelheit Haden die Exzedenten mitten in der Rostocker Straße Holzstücke zuiammengetrapen, auf einen großen Haufen ge schichtet und nnt Petroleum übergossen. Jetzt wurde der Holzstoß angezündet und plötzlich lohte eine mächtige Flamme zum Himmel empor, die die ganze Straße in rote Glut tauchte. Und in dem grellen Scheine des Feuers sah man einige Exzedenten die Flucht ergreifen und in den Häusern verschwinden. Ehe die Berittenen und die Schutzleute zu Fuß herangekommen waren, da waren die Exzedenten auch schon verschwunden. Die Feuerwache, die von dem Mob in dieser Nacht mehrmals schon mutwillig alarmiert worden war, mußte jetzt von der Polizei herangerusen werden, um das Feuer zu löschen. Als der Brand erstickt war. lagen auf der Straße verbrannte Reste von Matratzen, Besen und Betten. Die Ar beit der Feuerwehr aber wurde von den Häusern aus mit höhnischen Rufen und Lachen begleitet. Das Anzünden des Feuers sollte anscheinend dazu dienen, die Schutzmannschaft abermals anzulocken. Soweit sich bisher jeststellen ließ, hatte man zum Herrichten des Scheiterhaufens, der eine Fläche von etwa zwei Quadratmeter einnahm uud ziemlich hoch aufgeichichtet war. eine Kindermatratze verwendet. Die Flamme schlug blitzartig schnell empor und reichte bis ungefähr zum zweiten Stock der Häuser hinaus. Die verbrannte Masse bestand aus Kisten, Stroh und Lumpen. Es scheint als ob endlich Ruhe eingetreten wäre. Da, mit einem Male lodert mitten auf der Straße ein Feuer auf. Die Feuerwehr soll alarmiert werden. Leichter gesagt als getan. Die Alarmappa rate haben abgestellt werden müssen, da in der vorigen Nacht zuviel Mißbrauch damit getrieben worden ist. Ein Radfahrer wird abjgcsandt, und bald darauf wird es hell in der Rostocker Straße. Der Auto mobillöschzug erscheint. Beim Scheine der elek trischen Laternen läßt sich erst recht das Bild der Verwüstung überschauen. Allmählich tritt Ruhe ein. Zwei Beamte der Wach- und Schließgesellfchaft kommen langsam die Straße entlang. Seltlsmes aus üer krsnMilthen Armee. Aus Paris, 26. September, schreibt uns unser dortiger Korrespondent: Man glaubt etwas „krachen" zu hören, und der „Temps" behauptet, es sei in der Armee. Auch da scheint in letzter Zeit vieles morsch und wurmstichig geworden zu sein, was man für fest und gesund hielt. Freilich meinte man dasselbe von der Marine, bis man eines Tages entdeckte, baß die Republik im Ver gleich zu andern Großmächten eigentlich gar keine Marine mehr habe. Die parlamentarischen Land ratten, die einander auf dem sonst mit Admirälen be setzten Ministcrposten ablösten, hatten in kaum einem Jahrzehnt die französische Kriegsflotte von der zwei ten auf die sechste Rangstufe hrruntergebracht. Nach solcher Erfahrung ist es doppelt erstaunlich, daß man bezüglich des Landheeres dasselbe unheilvolle Ex periment machte. Ein Kammerdeputierter namens Choron, natürlich ein Sozialistisch-Radikaler, wurde dem Kriegsminister als Unterstaatssekretär zur Seite gestellt und begann sofort als Reformator zu wüten. Zunächst sorgte er für das leibliche Wohlergehen der Soldaten, für weiche Betten und verfeinerte Küche, für warme Socken und linnene Taschentücher, überhaupt für Hygiene und Komfort in den Kasernen. Dann kam die geistige Hebung der Rekruten an die Reihe. Die lungen Vaterlandsverteidiger sollten Bildung und Schliff er halten und mit allerlei Kenntnissen ausgerüstet wer den, die ihnen im späteren Leben nützlich werden könnten. Zu diesem Zweck mußten ihre nächsten Vor gesetzten ihnen lehrreiche Vorträge halten. Leutnants und Hauptleute mußten sich in Professoren ver wandeln, die Kaserne wurde zur Volks universität, die Wachtstube zum akademischen Hörsaal geadelt. Das Unterrichtsproqramm ist von erfreulicher Abwechslung und Mannigfaltigkeit, denn es umfaßt „Genossenschaftswesen und Volkswirt schaft, Bienenpflege und Champignonzucht, Verede lung der Obstbäume und Moral im bürgerlichen und politischen Leben." Der gut ministerielle „Temps" ist es, der diese verschiedenen Unterrichtsgegenstände aufzählt. Die Liste ist allerdings nicht vollständig, sie umfaßt noch Dutzende ebenso interessanter Materien, insbesondere — die dramatische Literatur. Seit einigen Jahren ist man bemüht, in jedem Re giment eine Liebhabertruppe hcranzuztehen. in jeder Kaserne eine Schaubühne zu unterhalten. Zwar ist Herr Chc-ron nicht mehr an der Spitze dieser militärischen Rcformbewegung, denn er hat beim letzten Ministerwechsel aus der Kriegsoerwal- tung zur Marine übersiedeln müssen, immer als Unterstaatssekrctär, selbstverständlich. Aber sein Geist waltet auch im Heere weiter, und sein Amts nachfolger, wieder ein Zivilist, der jugendliche Sarraut, wandelt zielbewußt aus Chsrons Spuren. Die Folge ist, wie nach vielen andern Fachmännern nun auch ein militärischer Mitarbeiter des „Temps" unwillig bemerkt, daß in den französischen Kasernen alles mögliche geübt und getrieben wird, nur nicht das eigentliche Waffenhandwerk. Der Hauptmann verbraucht seine ganze Zeit als Geschäfts- führer des Konsumvereins: denn er weiß, daß die jenige Kompanie, die den höchsten Umsatz und die günstigsten Abschlüsse erzielt, als die beste im ganzen Regiment angeschrieben ist. Die Leutnants müssen Vorträge halten oder mit ihren Leuten kleine Stu dienfahrten unternehmen, sie in Museen oder bota nischen Gärten, in Gießereien oder Spinnereien, in Walzwerken oder Maschinenfabriken herumführen. Kurzum, „man will den Soldaten zum Bürger er ziehen und vergißt dabei, daß man den Rekruten zum Soldaten ausbilden sollte" Auch noch in anderer Weise treibt der demokratische Humanitarismus sein Unwesen: die Urlaubsbewilliqungen, ehe mals eine auszeichnende Gunst, sind Regel und Recht für alle geworden. Am Sonnabendvormittaa hört jeder Dienst auf. die Mehrzahl der Leute verläßt die Kaserne, um erst am Montag zurückzukammen. Don der Eisenbahnfahrt, von längerem Fußmarsch oder einfach vom Bummel ermüdet, find sie zunächst zu nichts zu gebrauchen. Der Hauptmann läßt sie aus schlafen. So hat sich auch beim Volk in Waffen die Feier des „blauen" Montags eingebürgert, und von den sieben Tagen der Woche gehen regelmäßig drei für den Drill verloren. Für die Schießübungen, für die Vorbereitung auf den Felddienst verbleiben, >vie der „Temps" seinen Lesern genau vorrechnet, nicht mebr als sechzig Tage im Fahre Und die ganze militärische Lehrzeit ist für sämtliche Waffen gattungen auf zwei Jahre herabgesetzt.
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