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120 LEIPZIGER MONATSCHRIFT FÜR TEXTIL INDUSTRIE. No. 4. sonst durch die Produkte der fleißigen Henne den Nudeln verliehen wird, das Gelb der Butter verdankt seinen Ursprung sehr häufig dem Laboratorium, wenn die Kuh oder die Henne gerade am Streiken sind. Leder, Papier, Bein, Elfenbein, Federn, Stroh, Gras, alles wird gefärbt und eine der interessantesten Anwendungen der Teerfarbstoffe ist wohl die des Färbens ganzer Baumstämme, um ge wöhnlichen Fichten oder Tannen das Ansehen von Wallnuß oder Mahagoni zu geben, wie es in großen Fabriken in Amerika und anders wo, besonders in Schweden, ausgeübt wird. Werden hier Teerfarbstoffe in kolossalen Quantitäten verbraucht, so mutet uns die Ver wendung zum Färben mikroskopischer Präparate ganz lilliputanisch an,und doch gilt es hier, Bakterien zu identifizieren, die feinsten Nervenenden und andere kleinste Teile des Körpers zu unterscheiden. Mit dieser Methode, speziell unter Anwendung von Methylenblau, gelang es Koch, die Bazillen der Lungen schwindsucht und der Cholera ausfindig zu machen und den modernen Kampf gegen diese furchtbaren Feinde der Menschheit zu er öffnen. In diesem Kampf wurde der Histo- loge wieder durch eine neue und wichtige Klasse von Farbstoffen unterstützt. 1886 be obachtete Ehrlich, daß Methylenblau und einige verwandte Farbstoffe die einzigen sind, die lebende Nervenenden anfärben. Es trat die Frage auf, ob diese Eigentümlichkeit des Methylenblaus dem im Farbstoff-Molekül ent haltenen Schwefel zukäme oder nicht und er trat an Dr. Caro mit der Frage heran, ob ein ähnlicher Farbstoff, der an Stelle des Schwefels Sauerstoff enthielte, dieselbe Eigen schaft besäße. Ein derartiger Farbstoff war aber bisher nicht bekannt. Man versuchte ihn herzustellen, und im weiteren Verfolge dieser Untersuchung wurden die Rhodamine entdeckt, und so wirkten medizinische Ver suche mit den Nervengeweben befruchtend auf die Teerfarbenindustrie. Methylenblau und verschiedene andere Farbstoffe besitzen auch einen großen Wert als innerliche Heilmittel. Methylenblau wird von einer der größten amerikanischen Autori täten als Heilmittel gegen Krebs empfohlen. So bildet dieses Produkt gewissermassen den Übergang zu den pharmazeutischen Produkten, die ebenfalls in ungeheuren (Quantitäten aus dem Teer und dessen Produkten gewonnen werden. Nebenbei sei bemerkt, daß unter den sogenannten synthetischen Produkten die von Kolbe 1874 aus dem Teer gewonnene Salizylsäure eine beträchtliche Rolle spielt. Diese Säure war bis dahin ausschließlich ein Naturprodukt, das aus der Rinde der Weide gewonnen wurde. Salizylsäure spielt heute noch eine große Rolle als Mittel gegen Rheumatismus. Auch die Industrie der synthetischen Dro gen ist also auf die Perkin’schen Versuche, das Chinin künstlich herzustellen, zurückzu führen. Durch Experimente zeigte sich, daß durch die Zersetzung des Chinins eine Sub stanz gewonnen werden kann, die man Chinolin nennt, und die ebenfalls in dem Kohlenteer vorkommt. Man versuchte also vom Chinolin zum Chinin zu gelangen und kam so zu einer Reihe von Körpern, die ähnliche Eigenschaften wie Chinolin aufweisen, nämlich zu den Chinolinderivaten Thallin und Kairin, die indessen wegen ihrer drastischen Wirkung heute nur noch historisches Interesse haben. Im Jahre 1883 kam Knorr, ausgehend von der heute als irrtümlich angesehenen An sicht über die Konstitution des Chinins, zu einem Körper, dessen pharmakologische Unter suchung eingehend vorgenommen wurde. Es war das Produkt, das heute unter dem Namen Antipyrin bekannt ist, einen großen Wert in der Medizin hat und als das erste synthe tisch hergestellte Heilmittel aus dem Kohlen teer zu gelten hat. Kurz nach der Einführung des Antipyrins gab ein glücklicher Zufall dieser neuen Kunst des Herstellens von Heil mitteln einen unerwarteten Anreiz und er öffnete ein neues Feld der Untersuchung. Kahn und Hepp, zwei Arzte der Straßburger Universität, standen in freundschaftlicher Ver bindung mit einem Chemiker der Höchster Farbwerke, wo Knorrs Antipyrin hergestellt wurde. Sie ersuchten ihn um Zusendung von chemisch reinem Naphtalin, um Experimente an einem Hautkranken vorzunehmen. Sie empfingen die Substanz und fanden dabei, daß sie zwar nicht den gewünschten Erfolg hatte, daß sie aber das vorhandene Fieber wesentlich herabsetzte. Bei den Versuchen ging die Substanz auf und sie baten um neue Sendung. Zu ihrem großen Erstaunen zeigte diese, im Gegensatz zu der ersten, keinerlei Fieber herabsetzende Wirkung und es zeigte sich bei der Untersuchung bald, daß sie etwas anderes bekommen hatten. Man ging der Sache nach und so stellte sich denn heraus, daß durch ein Versehen eines Laboratoriums jungen die erste Flasche nicht mit Naphtalin, sondern mit ‘Azetanilid gefüllt worden war. Die zweite Sendung hatte der Chemiker selbst eingefüllt und diese enthielt wirklich Naphtalin. Durch diesen Zufall wurde Azetanilid (Anti- febrin) in die Medizin eingeführt, ein Heil mittel, das heute gegen Fieber und Neuralgie noch gebräuchlich ist, und durch die Ironie des Schicksals wurde der mächtigste Kon kurrent des Antipyrins in derselben Fabrik gefunden, die aus der Herstellung des Anti pyrins so großen Nutzen zog. Als man gefunden hatte, daß das Azety lieren eines Amines einen Körper von so hohem Wert schuf, übertrug man diesen Prozeß auf verschiedene andere geeignete Substanzen und kam so zu einer Reihe von Heilmitteln, wie Phenazetin, oder durch Er setzung der Essigsäure durch Milchsäure zum Laktophenin, oder mit Amido-Essigsäure zum Phenokoll. Nachdem die chemische Unter suchung gezeigt hatte, daß die wirksamen Prinzipien von pflanzlichen Purgativen, Rha barber, Senna, Cascarasagrada, Aloe usw., An- thrachinon-Derivate waren, wurde das Studium dieser Klasse, die eng verwandt mit den Alizarin- farbstoffen sind, aufgenommen und so wurden sie in den Handel gebracht. Diese neuen Mittel haben gegenüber den rohen Drogen den Vorteil größerer Gleichmäßigkeit der Wirkung und Exaktheit in der Dosierung. Durch die Untersuchung eines amerikanischen Arztes,der zuerst die aktive Substanz der Neben niere isolierte, kam man darauf, daß diese Sub stanz eine überraschend einfache chemische Konstitution hat und aus dem Teer gewonnen werden kann. Dieses synthetische Produkt j ist im Handel und wird in Europa und Amerika u. a. von Parke, Davis & Co. her gestellt, und es steht zu hoffen, daß wir bald Produkte daraus gewinnen können, die das I natürliche Produkt an Wirksamkeit bedeutend übertreffen. Zu der Zeit, als die ersten syn thetischen Heilmittel auf den Markt kamen, wurde ebenfalls von einem Amerikaner ein sehr sonderbares chemisches Produkt ent deckt, das heute nicht allein für medizinische, sondern auch für viele Industrie-Zwecke von großer Wichtigkeit ist, nämlich das Sacharin, ein aus dem Teer gewonnenes Produkt, das 550mal süßer als Zucker ist und das erste sogenannte Süßmittel bildet. Dr. Fahlberg arbeitete unter der Leitung von Professor Ira Remsen mit Teerderivaten in rein wissen schaftlichem Sinne. Vor dem Verlassen des Laboratoriums wusch er sich eines Tages wie gewöhnlich die Hände und zwar, wie er meinte, mit besonderer Sorgfalt. Er war außerordentlich überrascht, als er beim Abendbrot an dem Brödchen, das er brach, einen sehr starken Zuckergeschmack bemerkte. Er vermutete, daß die Wirtin unachtsamer weise das Brot gezuckert hätte und stellte sie zur Rede. Die Wirtin ging jedoch aus der Diskussion als Siegerin hervor, denn es stellte sich heraus, daß dieser süße Geschmack an seinen Händen haftete, und zu seiner großen Überraschung nicht allein daran, sondern auch an seinen Armen. Er konnte also nur mit einem Produkt zu tun gehabt haben, das trotz des Waschens sich nicht von den Hän den hatte entfernen lassen. Als er in das Laboratorium zurückkam, fand er den süßen Geschmack an allen Gläsern und Flaschen seines Laboratoriums. Es mußte also irgend ein Produkt bemerkenswerten süßen Ge schmack haben. Auf diese Weise wurde wieder eine wichtige Entdeckung gemacht. Es blieb nur noch übrig, die Substanz genauer zu untersuchen und so fand er das Produkt, das später unter dem Namen Sacharin be kannt wurde, dessen Verdünnung den Zucker geschmack aufweist. Es wurden hiermit an Menschen physiologische Experimente vor genommen, welche ergaben, daß das Produkt unverändert durch den menschlichen Organis mus hindurchgeht. Dabei zeigte sich zugleich, daß es auf die Gesundheit keinerlei nach teiligen Einfluß ausübte. Mit dieser Ent deckung war ein neues industrielles Feld er öffnet, das um so wichtiger erschien, als man mit einem Pfund dieser Substanz den gleichen Effekt erzielt, wie mit 5*/ 2 Zentnern Zucker. Es wurde in großen Mengen auf dem Konti nent hergestellt, wurde jedoch der Zucker industrie derart gefährlich, daß sich die deutsche Regierung veranlaßt sah, aus Rück sicht auf die Landwirtschaft die Produktion des Mittels einzig und allein für medizinische Zwecke zu gestatten. Aber auch noch eine andere Industrie läßt sieh auf Perkins Entdeckung zurückführen, nämlich die von künstlichem Parfüm. Nitrobenzol, bekannt unter dem Namen Mir banöl, war als künstliches Mandelöl schon vor Perkins Mauve im Handel. Es wurde hauptsächlich zum Parfümieren von Seife verwandt. Heute ist die Synthese von künst lichem Parfüm ziemlich ausgedehnt. Der Moschusgeruch wird mit Erfolg imitiert durch einen nitrierten Kohlenwasserstoff, der aus dem Teer gewonnen wird. Die Gerüche von Veilchen, Rosen, Jasmin, Heliotrop werden künstlich erzeugt und das beliebteste ameri kanische Parfüm, Wintergrün, wird ebenfalls aus dem Teer gewonnen. In dieser Kunst spielt die sogenannte Perkinsche Reaktion eine große Rolle, die zuerst angewendet wurde auf die Herstellung von Kumarin und Zimtsäure. Zwischen den Produkten, die süße Blumen düfte aushauchen, und den Verderben bringen den Explosivmitteln ist für den Laien eine große Kluft, nicht aber für den synthetisch