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rer und niederer Ordnung erscheint. Man be gegnet im Publikum so oft ganz irrigen An schauungen über die Bestimmung gewerblicher und kunstgewerblicher Bildungsanstalten, ins besondere der Anforderung, dass dieselben fertige Künstler und fertige Techniker an die Praxis abzuliefern haben, als ob der Jurist, wenn er die Hochschule, oder der Pädagog, wenn er sein Seminar verlässt, schon fix und und fertig wären zum Rechtsprechen oder zum Schulhalten. Da solche Vorurtheile leicht zu missliebigen Kritiken über die Leitung dieser oder jener Anstalt führen können, so ist es gut, dass ihnen von maassgebender Stelle ent gegengetreten wird. Geh. Rath Böttcher sagte in dieser Richtung. „Nur verlange man nicht, dass der Schüler nach Beendigung seines Schulkurses ein fertiger Meister sei. Die Schule darf ihn vermöge der allgemeinen Ausbildung, welche sie ihm bietet, nur befähigen, nach Ein tritt in den praktischen Dienst auf dem beson deren Gebiete, in welches äussere Verhältnisse ihn eingeführt haben, seine Aufgabe erfüllen zu lernen. Praxis und Theorie müssen auch hier sich ergänzen.“. Die Rede des Herrn Dir. Prof. Hofmann enthält einen Gedanken, welcher ebenso richtig als wahr, doch bei dem Anlass eines tech nischen Jubiläums ausgesprochen, eine über raschende Wirkung hat. Eräusserte u. A. „Jeder zeit hat die Menschheit geglaubt, auf der Höhe der Entwickelung zu stehen. Schon im drei zehnten Jahrhundert brach der gelehrte Schola stiker Thomas von Aquino, staunend vor den Wundern des Zeitalters, in die Worte aus: es ist dafür zu halten, dass in der langen Reihe der vergangenen Zeiten so ziem lich Alles ist erfunden worden, was zu erdenken möglich ist! Nun trotz des Stolzes und der Bewunderung, mit welcher wir heute die Leistungen in Kunst und Wissenschaft so wie die Erfindungen auf technischem Gebiete betrachten, so kurzsichtig wie der hochgelehrte Thomas von Aquino sind wir nicht. Wir sind vielmehr überzeugt, dass die Cultur noch un geahnte Fortschritte machen und dass der Men schengeist noch Unglaubliches hervorbringen wird. Dass wir davon überzeugt sind, dafür sprechen unsere, auf den Fortschritt gerichteten Bestrebungen, sprechen die grossen Opfer, welche Staat und Bürgerthum zur Förderung aller Culturwerke aufbringen, sprechen insbesondere die Bestrebungen der letzten Jahrzehnte, durch staatliche Einrichtungen die Berufsbildung der für die Industrie, namentlich für ihren kunst gewerblichen Theil arbeitenden Kräfte in wirk samster Weise zu fördern. Und an der Spitze dieser Bestrebungen steht gegenwärtig Deutsch land neben Oesterreich.“ Nachdem noch Herr Oberbürgermeister Kuntze in einer Festrede die Bedeutung der soeben eingeweihten kunstgewerblichen Bil dungsanstalt für die ganze deutsche Textil industrie hervorgehoben, schilderte Herr Com- merzienrath Otto Erbert den wohlthätigen Einfluss der nunmehr nach Aussen und Innen erweiterten Anstalt auf die zukünftige Ent wickelung der localen Gewerbeverhältnisse von Plauen und Umgebung. Zugleich war er in der Lage, der Schule im Namen der Indu striellen Plauens die oben erwähnten plastischen Bronzefiguren als Geschenk zu widmen und im Namen des Voigtländisch-Erzgebirgischen In dustrie-Vereines einen prachtvollen Gobelin, ein Muster der Webkunst, als Ehrengabe und als zukünftige Zierde des Museums der Anstalt zu überreichen. Hiermit fand die officielle Einweihungsfeier ihren Abschluss und es erübrigt nur noch, auf das Zugstück der Festlichkeit, auf die glänzende Ausstellung sowohl der Schülerar- I beiten aus allen vier Lehrgängen, als auch der Mustersammlung und der praktischen Lehr mittel hinzuweisen, welche während ihrer neun tägigen Dauer sich des Besuches von mindestens 35 000 Personen zu erfreuen hatte. Die Schü lerarbeiten gruppirten sich in drei Abtheilungen, in Darstellungen nach der Natur, in solche nach Ornamentenvorlagen, verbunden mit or namentalen Entwürfen, und in solche für die voigtländische Industrie. Letztere war vertreten durch Entwürfe für Spitzen und Stickereien, welche mit der Fland oder Maschine gefertigt werden, sowie für Gardinen, Stores, Vitragen, Kanten, Tambourirarbeiten u. s. w. — Die praktischen Lehrmittel, in den Erdgeschoss räumen des Gebäudes ausgestellt, gehören der Webabtheilung an und bestehen aus Webstühlen für die Herstellung von einfachen Stoffen, von Jacquard-Waaren, Möbelstoffen und Teppichen, ferner aus 2 Handstick-, 1 Schiffchenstick-, 1 Schiffchenspul- und 1 Fädel-Maschine. Das Museum seinerseits zeigte eine reiche Bücher sammlung auserlesener inländischer Werke der theoretischen und graphischen Kunst, sowie eine werthvolle Auslage von in- und ausländischen Mustern der Handstickerei, Maschinenstickerei, von Tambourirarbeiten, Posamenten, geklöppel ten Spitzen, Gardinen, Möbelstoffen, Kleider stoffen u. s. w. Die Ausstellung hat bei den Fachleuten allgemein den Eindruck hinterlassen, dass diese grossartige Institution den höchsten An forderungen an eine moderne Bildungsanstalt nach jeder Seite genügt, und dass hier für die ! Industrie des Voigtlandes eine Centralstelle ge schaffen worden ist, welche, wenn sie von der industriellen Bevölkerung in rechter Weise be- i nützt und nach ihrem ebenso idealen wie praktischen Werth richtig erkannt wird, von unschätzbarem Werth für die Zukunft der ge nannten, sowie überhaupt der ganzen vater ländischen Textilindustrie sein muss. Vor Allem möge man in Sachsen immer grösseres Gewicht auf tüchtige Musterzeichner legen und hierin der französischen Industrie folgen, welche es in der Hauptsache der Mitwirkung tüchtiger künstlerischer Kräfte zu verdanken hat, dass sie auf die Höhe gelangt ist, zu welcher wir, ungeachtet unserer grossen Fortschritte, immer i noch mit Hochachtung hinaufblicken müssen. Wir schliessen unseren Festbericht mit den Worten des Herrn Oberbürgermeisters j Kuntze: Möge die neue Königl. Industrieschule ! zu Plauen allezeit in dem Geiste fortarbeiten, welcher der Grundstein jeder deutschen Bil dungsanstalt sein soll, in dem Geiste deutscher Gewissenhaftigkeit gegen sich selbst und deut scher Treue für die gestellte Aufgabe, dann werden die bei der Festfeier dargebrachten Wünsche für das Gedeihen der Anstalt voll und reichlich in Erfüllung gehen! —r. Versuche deutscher Seidencultur. Von Prof. Dr. C. O. Harz in München. ie in unserem unbeständigen Klima während des Frühlings und Som mers häufigen Regentage machen die Fütterung der Seidenräupchen mit Maulbeerblättern in Centraleuropa sehr schwierig. Feuchtes Futter lässt die Thiere erkranken und massenhaft sterben; welkes Futter aber nehmen sie nicht gern. Auch ist der Blüthenertrag des weissen Maulbeerbaumes in Centraleuropa infolge klimatischer Verhält nisse nicht so zuverlässig, dass er jedes Jahr zur rechten Zeit dem Seidenspinner (Bombyx Mori) die Versorgung mit einer genügenden Menge der ihm zusagenden Speise garantiren würde. So ist es gekommen, das die früheren Versuche, die Seidencultur bei uns einzuführen, fehlschlugen und nicht weiter fortgesetzt wur den. Harz hat sie vor sechs Jahren wieder aufgenommen und einen ganz neuen Weg ein geschlagen, indem er das Ziel verfolgte, das Thier zu einem Nahrungswechsel, wenn auch nicht sofort in einem und demselben Indivi duum, so doch in einer Reihe von Generationen zu bestimmen. Aus Vorversuchen mit verschiedenen Ragen des Maulbeerspinners war schon i.. J. 1885 erkannt worden, dass die Raupe, durch Hunger getrieben, veranlasst werden kann, Blumen und Blüthen einiger unserer Korbblüthler, vorzüg lich die des Löwenzahnes und der Schwarz wurz (scorzonera hispanica), zu geniessen, und dass sie die Nahrung — besonders mit Maul beerblättern gemengt — einige Zeit verträgt; ja dass einige Individuen, die mit dieser Speise vier Wochen ihr Leben, wenn auch bei sehr geringem Wachsthum, gefristet hatten, durch darauffolgende ausschliessliche Fütterung mit Maulbeerblättern dann noch zum Einspinnen in normale Cocons gebracht werden konnten. Von 1260 Raupen gelber Mailänder Race, welche nach diesem System mit Schwarzwurz blättern und zum Schluss mit Maulbeerblättern gefüttert wurden, spannen sich im Jahre 1886 14 Stück ein. Die Cocons dieser Raupen waren freilich leichter, die Gespinnstfäden dünner und schwächer als gewöhnlich, aber aus den meisten entwickelten sich wohlgebaute ..Schmetterlinge, welche 389 Eier hervorbrachten. Aus letzteren schlüpften i. J. 1887 im Ganzen 357 Räupchen aus, von denen nun bei ausschliesslicher Fütte rung mit Schwarzwurzblättern 27 Cocons ge wonnen wurden, und aus diesen entwickelten sich 26 Schmetterlinge, welche 1646 Eier legten. Der Faden der ganz allein mit Schwarzwurz blättern gefütterten Generation war gegenüber der vorhergehenden, welche zum Theil noch Maulbeerblätter genossen hatte, entschieden stärker geworden. Im Jahre 1888 entwickelten sich fast alle 1646 Eier zu Räupchen, von welchen die zuerst ausgeschlüpften 1140 wieder bei reiner Schwarz wurzfütterung bis zum Einspinnen grossgezogen wurden und 338 normale Cocons lieferten, de ren Fadenstärke fast dem ursprünglichen Mai länderfaden gleichkam. Der Faden brach bei einer Belastung von 5g, während derNormalfaden bis 6 g aushält. — Es schlüpften fast aus allen 338 Cocons Schmetterlinge aus und' gaben 18 000 Eier. ’ Gegen 9000 dieser Eier wurden i. J. 1889 wieder im Wärmeschrank bei 25° C. ausge brütet und die in den ersten drei Tagen aus geschlüpften 2700 Räupchen in Zucht genommen. Obgleich kalte und feuchte Witterung und Futtermangel ungünstig ein wirkten, erhielt Harz aus denselben nach einem Raupenstadium (Zeit der Nahrungsaufnahme), das sich zum Theil schon dem bei Maulbeerblattfütterung normalen (33 Tage) näherte, 755 Cocons, deren leicht abhaspelbarer Faden an Länge und Stärke demjenigen einer Mittelernte gleichkam. Somit gelang es nach vierjähriger, ununterbrochen fortgesetzter Zucht, den echten Seidespinner an die ausschliessliche Nahrung von Schwarz wurzblättern soweit zu gewöhnen, dass er sich bei derselben vermehrt und das dem Menschen nützliche Produkt, das Cocongespinnst, in einem Zustande liefert, welcher dem bei Maulbeerblatt fütterung erzielten gleichkommt. Die im fünf ten Zuchtjahre 1889 erzielten Cocons liessen der Mehrzahl nach an Grösse und Gewicht wenig zu wünschen übrig; die grössten wogen 1.39 g, der Seidenfaden erreichte eine Länge 64*