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2 LEIPZIGER MONATSCHRIFT FÜR TEXTIL-INDUSTRIE. No. 1. Ein Jahrhundert technischer Entwicke lung der Textil-Industrie. (Für die „Leipziger Monatschrift für Textil-Industrie" geschrieben von August Förster.) (Nachdruck verboten.) urückblickend auf die technische j Entwickelung der Textil-In dustrie im 19. Jahrhundert, muss gesagt werden, dass das Jahrhundert auf diesem Gebiet in geringerem Grade „epochemachend“ ge wesen ist als sein Vorgänger. Bei seinem Beginn I waren die grossen bahnbrechenden textiltech- j nischen Erfindungen fast alle schon erfolgt, und | eine Zeit beispielloser Entwickelung war nicht i bloss eingeleitet, sondern seit etwa 15 Jahren im besten Zuge. Es darf daran erinnert werden, dass Richard Arkwright’s Patent auf die Water-Spinnmaschine vom 3. Juli 1769, James Hargreave’s Patent auf die „Jenny“ vom 12. Juni 1770 datirt, die „Mule-Jenny“ 1779 von Richard Crompton erfunden worden ist, , ohne dass er Patent darauf nahm, und dass | bis 1785 alle grossen Erfindungen im Spin nereiwesen, einschliesslich der Uebertragung des Krempelns auf Walzen, angemeldet von Lewis Paul am 30. August 1748, und der ersten Ausführung des Kämm-Princips und der Strecke, am 16. December 1775 Ark- wright geschützt, nach gerichtlicher Annulli- I rung aller Patente in den freien, unbe schränkten Gebrauch übergegangen waren. Hierdurch wird verständlich, dass auf diesem neu geschaffenen Boden die Textil-Industrie in j den auf 1785 folgenden Jahren einen Auf schwung ohne Gleichen nehmen musste. Dazu I kam als ein höchst wichtiger Factor der Ent- j Wicklung die Erfindung der Dampfmaschine I durch James Watt, patentirt am 25. October | 1781, welche zur Folge hatte, dass schon ’ 1793 alle die zahlreichen, seit 1770 an den kleinen Wasserkräften, deren England so viele besitzt, emporgeblühten Spinnereien zur Be nutzung der Dampfkraft übergegangen waren. Fügen wir hinzu, dass in dem genannten ] Ausgangsjahre für den industriellen Auf schwung auch der mechanische Webstuhl ' durch D. Cartwright erfunden wurde und 1790/92 durch William Strult in Derby und W. Kelly in Glasgow sogar der gern als neuere Erscheinung angesehene Selfactor, so be darf es eingehenderen Beweises nicht weiter, I dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Er- | findet auf textilem Gebiet die Klage Alexan ders wiederholen konnten: „Was haben uns die ( Vorgänger zu thun übrig gelassen?“ Dennoch ist das 19. Jahrhundert noch I überreich an wichtigen Erfindungen in der Textil-Industrie. Viele davon waren Aus gestaltungen der grundlegenden Gedanken | der grossen Erfinder des 18. Jahrhunderts, 1 nicht mehr so genialer, aber höchst talent voller Art. Die Arkwright’sche Water-Ma schine erwuchs zum Spinning frame und zum Cölestin Martin’schen Metier fixe, die Cromp- ton’sche Mulejenny zu dem vollkommenen Instrument, als welche heute der Selfactor dasteht, auf Grund der Gestalt, welche ihm Roberts in Manchester 1825 gegeben hat. Wie gross aber der Unterschied der heutigen Maschinen von ihren Urtypen ist, wie verschie- I den auch ein Sortiment Krempeln, wie es , jetzt aus unseren grossen Maschinenwerkstätten I glücklichen Gedanken Gessner’s höchste An- hervorgeht, von der Maschine ist, welche in Deutschland etwa zur Jahrhundertwende 1800 erkennung zu zollen. Geknüpft ist dieser Name auch noch an zwei andere geniale Er- eingeführt wurde, es sind doch nur Varia tionen desselben Grundgedankens, wie er in der ersten Maschine der Gattung zum Aus druck gebracht ist. Gleiches gilt von dem mechanischen Webstuhl in seiner vollkom mensten Gestalt, soweit er Flachstuhl ge blieben ist. Man würde dem 19. Jahrhundert indessen schweres Unrecht thun, wollte man ihm nach sagen, es habe auf dem Felde der Textil industrie gar nichts Ursprüngliches, Geniales gezeitigt. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts I war im Gegentheil daran ausserordentlich ( reich, die erste auch nicht arm. Zu den dem i Jahrhundertanfang angehörenden Erfindungen dieser Art ist die Walkmaschine zu rechnen, der Ersatz der Hammerwalke durch rund laufende Organe für die Druck- und Knet wirkungen, welche das Verfahren nöthig macht, dann die Scheermaschine, sowohl die Transversal- als die Langscheermaschine, welche einen ähnlichen Gedanken durch das Rundläuflg-Machen der Scheero zum Ausdruck brachte. Beide von einander nach Form und Arbeitszweck sehr verschiedenen Maschinen knüpfen an die Lewis Paul’sche Uebertragung hin- und hergehender, nicht continuirlicher Arbeit auf die anfang- und endlose, deshalb continuirlich arbeitende Walze an. Von wem mag dieser tausendfältig verwerthete und so geniale Erfinder Gedanke wohl herrühren? Dass ihn Lewis Paul zum erstenmal gedacht, ist kaum anzunehmen, wenn er ihn auch zum ersten Mal praktisch gestaltet haben mag; denn wir besitzen Maschinen-Entwürfe Leonardo da Vinci’s in den Sammlungen des Louvre, welche den Gedanken schon auf dem Papier verwirklichen. Aber gerade diese erst in den letzten Jahrzehnten erfolgte Fest stellung beweist, dass es verschiedene Urheber des gleichen Gedankens geben mag, ohne dass einer von dem andern je gewusst hat; denn einer der Leonardo’schen Entwürfe, welchen John Lewis gar nicht gekannt haben kann, ist nahezu identisch mit der von letzterem erfundenen Transversal-Scheermaschine. Der ersten Jahrhunderthälfte gehören auf dem Gebiete der Appretur die Erfindung der Decatur und der Sengemaschine an, die letz tere allerdings zunächst in der rohen Gestalt des Hinüberziehens der zu sengenden Gewebe über rothglühend gemachte Platten, während die Gassengemaschine neueren Datums ist. Die nur der Wollenwaarenfabrikation dienende Decatur ist dadurch bemerkenswert!!, dass sie ein rein empirisches, durch tastende Versuche von Daniell & Wilkin gefundenes Verfahren ist, über dessen Erklärung unter den Fachleuten I noch viel Meinungsverschiedenheiten herr schen, wenn sie auch die Vorbedingungen des Gelingens gut erkannt haben und das Ver fahren in verschiedenen Graden seiner An wendung sicher zu handhaben verstehen. Gerade um die Mitte des Jahrhunderts (1854) wurde auch zum fast ausschliesslichen Gebrauch | der Wollenwaaren-Fabrikanten die Doppel- | rauhmaschine von Ernst Gessner in Aue er funden. Man muss, wie der Schreiber dieser Zeilen, deren Einführung und den sich schnell geltend machenden Einfluss auf Grösse und Güte der Rauhleistung erlebt haben, um dem ’ findungen, ohne dass Gessner nach Lage der Sache mehr zugestanden werden kann, als die geschickte Vervollkommnung von Erfinder gedanken, die andere vor ihm gehabt hatten. Von wem ursprünglich die Idee der Flor theilung durch Riemchen oder Platinen aus gegangen ist, konnte noch nicht mit Sicher heit festgestellt werden; die Wahrscheinlich keit spricht für 0. F. Sehellenberg in Chemnitz. Ohne Zweifel ist diese Erfindung eine der fruchtbarsten und bedeutendsten des Jahr hunderts auf dem Gebiete der Textil-Industrie, welche die Leistungsfähigkeit der Spinnerei nach Menge, Güte und Feinheit der Gespinnste ganz enorm gesteigert hat. Aehnlich steht es mit der Pressmaschine, welche um die Mitte des Jahrhunderts in Deutschland zuerst von Dacier in Düren gebaut, später aber u. a. durch Gessner zu dem gemacht wurde, was sie heute in der Stoffappretur ist. Eine bedeutungsvolle Entwicklung heftet sich an den Namen „Carbonisation“. Auch hier verlieren sich die Spuren, die zum ersten Erfinder führen, ins Ungewisse. Die Erfin dung ist kaum vor dem sechsten Jahrzehnt, wie behauptet wird, in England,*) gemacht und als tiefes Geheimniss der Fabrikanten von so genannten Extracten aus halbwollenen Lumpen, behandelt worden. Sie benutzten die Eigen schaft der starken Mineralsäuren, die vege tabilische Faser in mässiger Hitze zu zer stören, während die Wollfaser unberührt bleibt, um aus jenen Lumpen die reine Wollfaser zu gewinnen. Die Anwendung des Verfahrens auch auf andere vegetabilische Fasern, wo mit die Wolle verunreinigt ist, namentlich der Kletten, womit eine Zeit lang die Cap- Wollen beladen waren und beständig die La Plata-Wollen beladen sind, begann erst Ende des 6. Jahrzehnts, als diese Wollen in immer steigenden Mengen nach Europa kamen, und ihre mechanische Reinigung durch die genial erfundenen Klettenwölfe mit starker Zer reissung der Fasern und viel Verlust daran verbunden war. In Deutschland die Carbo nisation eingeführt und damit dem Volksver mögen Millionen erhalten zu haben, ist das Verdienst von Gustav Köber in Cannstatt bei Stuttgart. Nicht unmöglich ist es auch, dass Köber selbständig und als Erster auf die Idee der Anwendung der Schwefelsäure zu dem Zweck gekommen ist, wie der schlichte und wahrheitsliebende Mann stets versichert hat. Er bemerkte, dass in einer chemischen Fabrik Wollenschürzen der Arbeiter von darauf spritzender Säure unberührt blieben, leinene Schürzen zerfressen wurden. Das brachte den beobachtenden Mann auf den Gedanken. Er nannte es bescheiden stets einen Zufall, aber an wieviel tausend Menschen gehen solche Beobachtungen spurlos vorüber! Es ist eben nicht jedem Menschen der helle Sinn beschieden, welcher die blitzartig entstehende Erfindungen vermittelt. Ein unleugbares Verdienst des 19. Jahr hunderts ist es auch, gewissen rohen Ver- fahrungsweisen ein Ende gesetzt zu haben, welche uns die mit der Hand ausschliesslich *) Vergleiche dagegen die Ausführungen des Herrn Director N. Reiser in Heft 3, S. 175 des Jahr gangs 1899 unserer „Monatschrift“. Die Redaction.