Volltext Seite (XML)
dere wieder die theoretische, je nach der Bahn, in welcher sich die Bildung des Be obachters vornehmlich bewegt hat. Es ist also der citirte Grundsatz nur in ganz be schränktem Maasse als zutreffend anzuer kennen. Freilich haben sich im Laufe der Zeit ganz bestimmte Normen, sozusagen Ge setze herausgebildet, die allgemein als maass- gcbend betrachtet werden, auf welchen alle Folgeerscheinungen als fassend nachzuweisen sind; das ist aber durchaus noch kein Beweis, dass nicht in unserer Weberei noch grund stürzende Veränderungen eintreten können. Wie fast überall die Praxis hinter der Theorie ein bedeutendes Stück hinterher gehinkt ist, so können wir diesen Umstand in unserer Weberei ganz besonders augenfällig beobach ten; wie viel wissen wir heute nicht theoretisch, über alles mögliche werden wir durch jahre lange, geistreiche Untersuchungen aufgeklärt, und wie wenig macht sich die Praxis das alles bis heute zu Nutzen. Man braucht da bei gar nicht einmal an die difflcilen chemischen und physikalischen Vorgänge zu denken, welche sich innerhalb der Materialien abspielen, sei es nun im Stoff, im Gewebe oder in den Maschinen und Hülfsmitteln, wie z. B. die Dehnnng durch Zug, die Veränderung im Raume, die Ausdehnung und Zusammen ziehung durch die Temperatur, die Beein flussung durch trockene und feuchte Luft u. s. w., nicht einmal die Theorie des Har nisches scheint heute schon Gemeingut aller Webinteressenten zu sein. Es wurde neuer dings aus Plauen eine Harnisehvorrichtung patentamtlich geschützt, welche es ermöglicht, rechte und linke Gardinenflügel auf dem selben Stuhle herzustellen. Der Anmelder er geht sich in langen Klageliedern, wie um ständlich und mit wie viel Widerwärtigkeiten und Geldkosten bisher die Erreichung dieses Zieles verknüpft gewesen ist und kommt zu dem Schluss, dass man vermittelst eines Spitz harnisches zwei Gardinen herstellen kann, von denen die eine die Kante rechts und die andere links hat, so dass beide für dasselbe Fenster sich ergänzen. Sollte man in Plauen bis dahin wirklich noch so rückständig ge wesen sein, dass man für die rechte und linke Gardine besondere Vorrichtungen und Kartenmuster verwendet hat? Es ist das kaum zu bezweifeln, denn der Anmelder würde sich das nicht schützen lassen, wenn es allgemein bekannt wäre, denn im anderen Falle wäre eine baldige Löschung unausbleib lich gewesen. Solcher Beispiele könnte man eine ganze Reihe citiren, es wird aber hoffent lich schon das eine genügen, die ganze Misfere erkennen zu lassen. Gehen wir hiervon auf ein noch einwand freieres Gebiet über, auf den Handel. Be obachtungen und Mittheilungen aus ersten Ber liner Engroshäusern lassen die merkwürdige Thatsache erkennen, dass der grösste Theil der mit der Allgemeinbezeichnung „Kunst gewebe“ belegten Erzeugnisse französischen Ursprungs sind. Unter den Seidenwaaren spielen eine Hauptrolle die feineren Dreher stoffe. Ein Schirm-Engroshaus bezog derartige Stoffe längere Zeit aus Wien zum Preise von 12 Mark per 1 Meter, gewiss ein hübscher Preis, für den sich auch in Deutschland solche Waare machen liesse. Durch Geschäftsver bindungen wurde die Firma jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass die Waare aus Lyon nach Wien exportirt wird und auf diesem Umwege erst nach Berlin gelangt; seitdem bezieht die Firma die Waare direct und zwar ganz bedeutend billiger. Es wird nun häufig der Einwurf gemacht, dass in gewissen Kreisen nur französische Waaren unterzubringen sind, dass deutsche Waare selbst dann nicht ein mal genommen wird, wenn sie mindestens ebenso gut oder gar noch besser ist, als ihre Concurrentin; es mag das gewiss einige Be rechtigung haben, wenn es sich um ausge sprochene Mode- und Luxusartikel handelt, im vorliegenden Falle ist aber der seidene Dreherbezug nicht dem Ursprünge nach con- trollirbar, die Schirme würden, wenn der deutsche Bezug nicht an Eleganz nachsteht, sicher ebenso gut gekauft werden. Man muss aber, ob man will oder nicht, den fran zösischen Dreherwaaren das Zeugniss aus stellen, dass sie nichts zu wünschen übrig lassen; da ist jede Drehung exact ausgeführt, kein Nestchen, kein Aufsetzer verunziert die Waare; trotzdem wird dieselbe zu Preisen geliefert, die nur bei hoher Production möglich sind. Die Berliner Shawles- und Echarpes Fabrikation hat sich kürzlich der Verwendung der Dreherbindung zugewandt, man hört aber überall klagen, dass in Folge der geringen Productionsmöglichkeit eine Concurrenz gegen die feinen Taffetwaaren nicht möglich ist. Genau so ergeht es uns mit den anderen Artikeln; wenn wir gleich die Seide zu denselben Preisen erhalten, als die Franzosen, so können wir trotzdem nicht in Wettbewerb treten, weil jene in Folge ihrer zweckmässigeren Vorrichtungsweise quanti tativ mehr leisten, der Arbeitslohn sich also niedriger stellt, als der unsrige; wir können bei der Beschwerung unserer Stühle durch den Ballast von Dreherwellen zum Nachlassen von Drehfäden, oder von Aushebelitzen bei Harnisch Vorrichtungen von vornherein schon nicht so schnell arbeiten und haben ausser dem mit viel mehr Fadenbrüchen zu kämpfen, und dadurch wird die eigentliche Arbeitszeit ganz bedeutend geschmälert. Ein anderer Kunstartikel sind die fran zösischen gewebten Gobelins; in allen Schau fenstern von Teppich- und Möbelstoff-Hand lungen paradiren dieselben an erster Stelle, und überall tragen sie auffällig die Bezeich nung „echt französische Gobelins“. Wenn gleich dieselben in den billigeren Qualitäten lediglich aus Baumwolle hergestellt sind, so thut das gar nichts zur Sache, sie wirken decorativ sehr gut und werden in Folge ihrer Preiswürdigkeit auch massenhaft gekauft. Der Umstand, dass dieselben künstlerisch nicht immer den höchsten Ansprüchen genügen, kann ebenfalls kein Grund sein, von der Fabrikation abzurathen; gewöhnen wir erst einmal die breiteren Volksmassen an solche Kunstartikel, sie werden dann jedenfalls auch allmählich an besseren Sachen Geschmack finden. Aber der deutschen Industrie den Rath zu geben, den Artikel nicht zu fabri- ciren, vielmehr den Franzosen widerstands los den Markt zu überlassen und zu warten, bis das Volk bessere Waaren begehrt, das ist jedenfalls ein Standpunkt, aus dem nicht viel Welt- und Geschäftskenntniss heraus leuchtet. Auf anderen Gebieten der Industrie werden noch ganz andere Sachen gemacht, die jeder halbwegs cultivirte Mensch ohne weiteres als Schund bezeichnet; trotzdem kann Niemand im Ernste verlangen, den Ar tikel nicht zu fabriciren. Wollte die ganze deutsche Industrie diesen Standpunkt zu dem ihrigen machen, dann könnte sie sieh gewiss bei Zeiten begraben lassen. Sehen wir somit, dass trotz unserer emi nent hohen technischen Entwicklung noch gar sehr viel besserungsbedürftig ist, so kann auch die Möglichkeit nicht als ausgeschlossen betrachtet werden, dass aus uralten Erfah rungen für uns noch Früchte reifen können, wenn wir es verstehen, das gegebene unsern modernen Bedürfnissen anzupassen, resp. die in dem Alten enthaltenen Ideen mit modernen Mitteln zu beleben. Gehen wir zu dem, in anderer Beziehung als finster bezeichneten Mittelalter zurück, in welchem man noch nichts von unseren grossartigen Jacquard maschinen oder complicirten mechanischen Wechselstühlen wusste, so finden wir trotz dem Vorbilder, welche wir bis auf den heu tigen Tag gern naehahmen, welche wir trotz unserer modernen Hülfsmittel aber nicht übertreffen. Seidene Damaste in technisch vollendeter Ausführung, seidene Sammete und Goldbrocate in schimmernder Pracht leuchten uns als Zeugen einer vergangenen Glanz epoche entgegen; diese Erzeugnisse sind um so höher zu bewerthen, als sie mit verhält- nissmässig sehr primitiven Mitteln, wie Zampel- stuhl und Trittvorrichtung hergestellt worden sind, und lediglich die Intelligenz des ein zelnen Webers beim Gelingen ausschlaggebend gewesen ist. Doch nicht nur bei den an der Spitze der damaligen Cultur marschirenden Völkern können wir uns Beispiele holen, selbst bei Völkern, die wirthschaftlich noch im tiefsten Elend leben, sind Erzeugnisse zu finden, die jede Concurrenz mit den unsrigen aushalten; es mag an die Perser- und Smyrnateppiche, an die Kilims und an die chinesischen und japanischen Seidenwaaren erinnert werden, welch’ letztere auf der Wiener Weltausstellung den ungetheilten Beifall unserer ersten Textil industriellen gefunden haben. Steigen wir noch weiter herab, zu halben Nomadenvölkern, zu den Bewohnern Südrusslands und des Kau kasus, bei ihnen finden wir ein Webverfahren, so einfach und doch so grossartig in seiner Wirkung, dass wir mit den complicirtesten Mechanismen kaum denselben Erfolg erzielen können; es ist wohl der einfachste Webe apparat, den die Geschichte kennt. Rein garnichts erinnert an unsere heutige Web weise in basse lisse-Manier, oder an die bis ins graue Alterthum nachweisbare haute lisse-Weberei, welche A. v. Cohausen ein gehend beschreibt und auch an einem im Kunstgewerbemuseum zu Wiesbaden aufge- gestellten Modell vorführt; wir haben hier wenigstens Stuhlpfosten und die die Garn litzen oder das Geschirr vertretenden Faden schleifen zur Bewegung der Kettenfäden zur Fachbildung, nichts von alledem in dem ge nannten Webeapparat, ein Brett und eine Anzahl viereckiger Blätter aus Spiel karten oder Pappe sind die ganzen Hülfsmittel. In der Sitzung vom 15. Jan. 1898 der Berliner Anthropologischen Gesell schaft sprach Herr M. Bartels über dieses Weben mit Kartenblättern im Kaukasus. Der Herr führte dort aus: „In dem Rumjanzow- Museum zu Moskau fiel mir in der kauka sischen Abtheilung ein kleines Päckchen ge schnittener Spielkarten auf. Aus den Karten waren Quadrate ausgeschnitten von ungefähr 5 cm Seitenlange; die vier Ecken waren ab gerundet und in jeder derselben war in sche matischer Anordnung je ein rundes, ungefähr 0,5 cm im Durchmesser haltendes Loch an gebracht. Durch diese vier Löcher waren Fäden gezogen, die an einem schnallenartigen Gegenstände befestigt waren. Es musste sich