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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 26.11.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-11-26
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191011265
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19101126
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19101126
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-11
- Tag 1910-11-26
-
Monat
1910-11
-
Jahr
1910
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BezugS-Prei» für Liipjia un» >dororr« durch «s«, Lräger und Spedtkeurr 2mal täglich iu« Hau» gavrachl: vv nouatl., R.7v^U viertrI iäbrl >vet unlern fZiliale» u. Lu» uahmeftellen abgeholi: 7S monatt, L.2L v^erieliäbrl. Durch dt« Volt: iunertzald Leuiichland» und der deutschen Kolonien vieneliährl. <t.Si> monatl. I^i« autlchl. Postdestellgcld. ferner m Belgien, iänemark, den Donauliaaten, Italien, l!u;en>b»rg, -I.'iederlande, Nor wegen, OeUerreich Ungarn, Rußland, Schweden, Schweiz u. Spanien. In allen übrigen Staaten nur direkt durch di» Geiidäsrtileü« de» Blatte« erhältlich. Da« Leipziger Lagedlan rrichein, 2 mal täglich. Sonn- a. Feieriag» nur morgen«, itldonne- eur-iännavme i Auguku-platz 8, b« unleren Drägern, Klialen, Spediteuren uud Aanahmeftellen. iowie Postämtern und Briesträgern. Siugelverkausäprei« der Morgen« aulgab« 10 der Nbend >u«gabe S -b, htedaktlvn uud Teschätttftelle: Zohanniegasse 8. geruiprecher: 146iLL l«6!L, I4SV4- W-MtrT aM M Handelszeitung. Amtsvlatt des Rates «nd des Rokizeiamtes der Stadt Leipzig. Anzeigen-Preit skr Inserat« «u» Leipzig und Umgedunq di« iigeidaltene SO mm breit« Petitzeile 2b dl« 7« mm breit« ReklamezeUe I vo» au«wärt« äO LZ, «tellame» t.20 Inserate »an Beddrden >m »miiichen Leu di« 7« mm brrir« Petitzeil« P- LZ. «eschästianzeigen mit P advorschristeu und tu der Bbendau«gad« im prene erhöbt. Nadal! nach Laris. Beilagegedübr s p. Dausen» exki. Postgebühr. Iefterteilt« Auitrtg« können nicht zartik- gezogen werden. Kur da« Erscheinen an b«stimmten Lagen und Plätzen >oik» lein« Haranti« übernommen «nzeigrn. «nnadme: «ugusluöplatz 8, bei sämtlichen Filialen u. allen eiilnoncril- ittpedtttonen des Zn» und «utlande«. -aupt.-tliale »erltu: Tarl Duncker, Herzog!. Baor. Hosduä^ Handlung Lützowstiage IO. (Del vhon VI, Nr. 4SOZ). Hauvt-Stliale DreOde« Seestr-tz« 4,1 iLelephoa 4821). Nr. S2S. Sonnoden», »en LS. Nooemder lSio. l04. Ishrgsng. vss rvichtiglle. * Zm Reichstag wurde am Freitag die Debatte über die Fleischteuerungsinterpella tionen beendet. (S. Reichstagsbericht.) * Wie aus parlamentarischen Kreisen verlautet, wird der Gesetzentwurf über die Prioat- beamtenversicherung dem Reichstage An fang Januar zugehen. * Eine größere Anzahl Londoner Suffra gette s ist wegen der begangenen groben Aus schreitungen zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. (S. Letzte Dep.) * Die brasilianische Kammer hat die Amnestie der Meuterer beschlossen. Die Ordnung ist dadurch wiederhergcstellt. lS- Ausl.) * Der des versuchten Raubmordes und des ver ¬ suchten Totschlags angeklagte Geschäftsvermittler Jeep aus Taucha wurde vom Schwurgericht zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. (S. Gerichts saal.) * Der Berliner Magistrat bewilligte 53,8 Millionen Mark Baukosten für die Untergrundbahn Nord—Süd. (S. Tages chronik.) * In Coruna bombardierten drei tausend Bauern das Steueramt mit Steinen, wobei neun Personen getötet wurden. (S. Tageschronik.) * In Madrid protestierten die medizinischen Professoren und 2000 Studenten der Uni versität gegen ein Theaterstück und machten die Aufführung unmöglich. (S. Tageschronik.) Ein guter Vorschlag. Der Fall Hellfeld steht noch in frischer Er innerung, will man ihn bei seiner Kompliziert heit auf eine kurze Formel bringen, so wird etwa zu sagen sein: ein Deutscher wurde vom Russischen Reich aus einem Lieferungsvertrage auf Lieferung verklagt. Er erhob Widerklage auf Zahlung und erhielt ein obsiegendes Urteil. Diplomatische Intervention beim Deutschen Reiche. Das erhebt gegen das rechtskräftige Urteil den Kompetenzkonflikt. Der Gerichtshof zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten gab in seinem Urteile, wie bei seiner Zusammen setzung von vornherein anzunehmen war, dem intervenierenden preußischen Minister des Aus wärtigen recht, Hellfeld war sein gutes, durch das rechtskräftige Urteil eines deutschen Gerichts anerkanntes Recht los und auf die diplomatische Vermittlung des Deutschen Reiches angewiesen. Daß diese etwas für ihn erreicht hat, davon ist, beiläufig, bisher nichts bekannt geworden. Zwei Rechtsfragen gingen also im Falle Hellfeld durcheinander: Kann gegen ein rechtskräftiges Urteil der Kompetenz konflikt erhoben werden? Diese Frage ist mit unzulänglichen Gründen vom preußischen Kompetenzgericht bejaht worden. Das ist eine mehr als bedenkliche Entscheidung, denn in ihren Konsequenzen führt sie dahin, daß jedes Urteil auf einem Gebiete, auf dem ein Kom petenzkonflikt an sich möglich ist, innerhalb der Verjährungsfrist von dreißig Jahren auf gehoben werden kann. Der einzige Trost ist hier, daß solche Fälle kaum je praktisch werden. Trotzdem sollte man hier recht bald einen gesetzlichen Riegel vorschieben. Die zweite Rechtsfrage war die, ob Urteile im Zivil prozeß von einem Privatmann gegen einen fremden Staat erstritten werden können. Diese Frage hat nicht nur der Kom petenzgerichtshof, sondern auch die überwiegende Mehrheit der Rechtsgelehrten verneint. Das ist aber auch unseres Erachtens zu Unrecht ge schehen, soweit wenigstens eine Widerklage in Betracht kommt. Die Widerklage ist ein Ver teidigungsmittel wie jedes andere auch. Genau so gut, wie es dem Beklagten zusteht, Einreden und Einwände geltend zu machen, genau so gut muß ihm auch die Möglichkeit gegeben sein, das wirk samste und in vielen Fällen ausschließlich wirk same Derteidigungsmittel der Widerklage an zuwenden. Daß dies allein der Billigkeit ent spricht, haben auch die Gutachter fast durchweg zugegeben. Ihre Mehrzahl aber hat behauptet, dieser Billigkeitssatz sei nicht Rechtens. Gegen diese Auffassung zu polemisieren wäre ein fruchtloses Beginnen. Will man praktisch weiter kommen, so muß man sich auf den Boden der gemeinen Meinung stellen und von ihm aus dem Schaden Abhilfe suchen. Die Aeltesten der Berliner Kauf mannschaft haben das in einer sehr klaren und fleißigen Eingabe an den Reichs kanzler getan. Sie fordern in ihr die Errichtung eines internationalen Schiedsgerichts für Forderungen von Privaten an fremde Staaten. Sie nehmen damit einen in der Literatur wiederholt gemachten Vorschlag auf, der die ernsteste Be achtung verdient. Wenn das Deutsche Reich sich für die Schaffung eines solchen Gerichts hofes einsetzen wollte, so würde das un zweifelhaft zu einem positiven Ergebnis führen. Denn die Billigkeit empfiehlt eine solche Institution, und praktische Bedenken stehen ihr nicht entgegen. Der Fall, daß ein Privater vor einem internatio nalen Schiedsgericht gegen einen fremden Staat klagen dürfe, war für den internationalen Prisengerichtshof vorgesehen. Konnte man in diesem Falle die Konsequenz auf sich nehmen, daß das Urteil nicht zwangsweise vollstreckbar sein könnte, so wird man es für unsere Kate gorie von Fällen ebenso gut können. Die Errichtung eines solchen Schiedsgerichtshofes hätte aber auch für die Diplomatie prak tischen Vorteil: Sie brauchte sich in Zu kunft mit solchen Fällen nicht mehr zu befassen. Der Private würde vor dem Schieds gericht selbst seine Sachen führen können. Damit wäre die Diplomatie entlastet, was ihr hier sehr zu gönnen ist. Die Wahrnehmung der Privatinteressen eines Staatsangehörigen bei einem fremden Staate ist nach zwei Richtungen ein undankbares Geschäft. Erstens wird gegen über dem Staate, bei dem interveniert wird, ohne Zwang eine Reibungsfläche geschaffen. Zweitens wird in der Regel der Fälle der Private mit dem Eifer, der seiner Sache ge widmet wird, und mit dem Ergebnis, das er zielt wird, nicht zufrieden sein. Das kann man ihm schließlich weiter nicht Übelnehmen. Sowie die Sache zwischen den Diplomaten hängt, kommen zu dem rechtlichen politische Gesichts punkte. Das ist unvermeidbar. Für den Privaten aber, der nur sein Recht sucht, bedeutet das eine Unbilligkeit und einen Widerstreit mit seinen Jntexessen. Wir stehen gegenwärtig nun einmal in einer Epoche, die von der Idee internationaler Schiedsgerichte in einem viel zu weiten Maße das Heil der Menschheit erwartet. Diese Idee ist außerordentlich populär. Das darf kein Grund sein, ihr Rechnung zu tragen, wo sie sich praktisch nicht rechtfertigen läßt. Wohl aber ist es ein Gebot der Klugheit, diese „Popu- laris aura" in die Segel zu fangen, wo immer praktische, sachliche Bedenken nicht entgegenstehn. Es ist ganz gut, wenn Deutschland sich Verdienste erwirbt, die der internationale „Cant" preisen muß. Durch die Propagierung dieser Schieds gerichtsidee würde das geschehen — ganz abge sehen davon, daß Deutschland sich hier in der Tat auch ein großes sachliches Verdienst er werben würde. Wir hoffen deshalb, bald von geeigneten Schritten unserer Diplomatie zu hören. Oss Enüe üer TuberkllUnimpkung? Der Staatssekretär Dr. D e l b r ü ck hat rm Reichs tage zugeben müssen, daß die Tuberkulin impfung im Laufe der Zeit sich in mehrfacher Be ziehung als nicht einwandfrei herausgcstellt habe, und ihren Ersatz durch ein anderes vollkom meneres Verfahren in Aussicht gestellt. Das ist schließlich das einzige „positive" Ergebnis, das die zweitägige Erörterung über die Fleischteuerung ge zeitigt hat. Die Tuberkulinimpfung lst eine „Er rungenschaft" des früheren prcußifchcn Landwirt- schastsministcrs v. Hammerstein-Lorten, der sie für Preußen durch eine Verordnung vom 29. Juli 1896 einführte, und zwar für das aus Dänemark stammende Rindvieh. Da aber dies Vieh nicht nur über die preußische Grenze bei uns einging, sondern auch über Mecklenburg, die Hansestädte und Oldenburg, so wurde der Bundesrat in Bewegung gesetzt zum Erlaß einer allgemeinen Verordnung, welche alles zur See ein gehende Vieh und auch das zu Land aus Dänemark eingehende Vieh der Tuberkulinprobe in den Be obachtungsanstalten unterwarf. Die süddeutschen Staaten haben zwar auch Versuche mit der Tuber kulinimpfung gemacht, aber schließlich von einer zwangsweisen Einführung dieses Krankheitserken- nungsvcrfahrens Abstand genommen, so daß noch heute beispielsweise österreichisches Vieh ungeimpft nach Bayern eingebt. Auch das jetzt aus Frankreich zugelaffenc Rindvieh unterliegt dem Impfzwang nicht. Nur Preußen, oder in der Hauptsache doch nur Preußen blieb mit dieser „Segnung^ beglückt und ist es bis zur Stunde noch. Die Maßregel wurde sogar noch durch eine Verordnung desselben preußischen Ministers vom 29. Oktober 1900 erweitert. Inzwischen hat man sich überzeugt, daß die Tuber- kulinprüfung in mehrfacher Beziehung sich nicht be währt hat. Einmal wirkt die Einspritzung viel zu scharf, so daß auch Tiere beanstandet wurden, deren Fleisch sehr wohl verwendbar gewesen wäre oder ver. wendbar hatte gemacht werden können durch Aus schneiden des örtlichen Entzündungsherdes, und dann I pflegen Tiere überhaupt nicht zu reagieren, wenn schon vorher Einspritzungen gemacht worben sind, was deutscherseits doch nicht verhindert und den Dänen nicht einmal verübelt werden konnte, da sie sich den Absatz nach Deutschland möglichst sichern wollten. Was nun an die Stelle der Tuberkulin impfung treten soll, darüber hat sich der Staats sekretär Dr. Delbrück nicht geäußert, er weiß es noch nicht, und auch Herr Schorlemer weiß es noch nicht, aber es ist nicht wahrscheinlich, daß man sehr bald zu einem Entschluß kommt, La der Hauptsachver- ständige auf diesem Gebiete, Dr. Oster tag, zur zeit in Südwestafrika weilt zur Erforschung der dor tigen Schafkrankheit, und schwerlich vor März zurück kehren wird. Vielleicht wird man sich in Zukunft beschränken auf eine desto gründlichere Untersuchung der Tiere nach der Schlachtung. Jedenfalls ist die T u b e r k u l i n i m p f u n g als staalliche Zwangsmaßregcl als gefallen zu be trachten, ihre Beibehaltung dürfte sich vielleicht nur empfehlen für Viehzüchter, die die Gewißheit haben wollen, daß sie nur kernoesundcs Zuchtmaterial be kommen — vorausgesetzt, daß die künstliche Erregung von Fieberzuständen beim Vieh überhaupt als un bedenklicher Eingriff betrachtet werden darf. Das Bahrrecht. Es ist kein erhebendes Schauspiel, das die griechisch - orthodoxe Kirche in dem kleinen Orte Astapowo aufgeführt hat, der so plötzlich aus seiner tiefen Verborgenheit zum schimmernden Firmament der Weltliteratur, der Kultur geschichte emporgestrahlt ist. Der Bischof von Kaluga ist an das Sterbebett Tolstois geeilt, hat sich den Eingang zu dem Bewußtlosen fast mit Ge walt erzwingen wollen, und als ihn die Familie zurück weist, um eine Szene zu verhindern, als er ohne ein der scheidenden Seele abgelistetes Unterwerfungswort in seine Residenz zurückkchren muß, da wandelt sich der versöhnende Segen der Kirche in wieder holten bitteren Fluch! Dem Toten werden die kirch lichen Ehren verweigert, dem ernsten Grübler, dessen ganzes Sinnen auf die V e r t i e f u n g des christlichen Gedankens gerichtet gewesen ist, der niemals mit einem einzigen Worte den Gottesglauben und die reine Sittenlehre Les Heilandes bekämpft hat! Tolstoi hat keine neuen philosophischen Werte er schaffen, so wenig wie überhaupt ein Slawe vor ihm. Er hat auch, bei all seiner glänzenden Beobachtung des menschlichen Tuns und Trachtens, keine klare und geschlossene Weltanschauung aus sich heraus entwickelt. Mag sein, daß das an dem nicht zu überwindenden Widerstande seiner persönlichen Verhältnisse lag, daß dieser so stark war, um den Mann, hinter dem schon der Tod stand, noch Hinwegzutreiben zu einem Medina, in dem er die letzte Ordnung in sein verworrenes Gefühlsleben bringen wollte. Daß die Urteile der Mitlcbenden noch viel schwankender und unsicherer ausfallcn müssen, ist von selbst ersichtlich. Aber eigen bleibt es doch, daß die revlutionären Parteien Ruß lands, die mit dem Zaren auch dem himmlischen Herrn aufgesagt haben, den Totenkult Tolstois be sorgen, während die Kirche, die er aus ihrer Er starrung zu neuem Leben erwecken wollte, für ihn nur einen Fluch hat. An den Haltestellen des Eisenbahn zuges, der die Leiche trügt, drängen sich die Scharen der Verehrer. Gendarmerie treibt sie auseinander und sperrt die Bahnhöfe ab. In Petersburg dringen die Kosaken mit geschwungener Nagaika auf den Demonstrationszug der Studenten ein; das Weh klagen der Geschlagenen mischt sich mit den verklingen den Tönen der frommen Choräle, die die „Nihilisten" singen. Ordnung muß sein, besonders in Rußland: aber uns Nichtrussen mag man's nicht verdenken, wenn wir solche Vorgänge verwunderlich und — un würdig finden. Es ist, als wenn sich an Tolstois Bahre die Geister scheiden. So unsympathisch uns die blasierte Jugend dünkte, die Turgenjew gezeichnet hat, die an den sicheren Ufern der Schweizer Seen über vaterländische Sitten und den Glauben ihrer Väter spottete und mit ihm in radikalster Kritik auch alles hinaus warf, was sich im Menschen an sittlichen und edlen Empfindungen regt: dieses heutige Geschlecht, die Söhne der „Söhne", hat doch wieder eine etwas andere Entwicklung genommen. Es geht zu weit, die Tausende der Tapferen zu verachten, die für ihre Sache geblutet haben, mag uns auch die „Freiheit" des Sozialismus durchaus nicht behagen, für den sic streiten. Begeisterung und Opfermut bleiben immer achtungswerte Eigenschaften, auch wenn sie an ver kehrte Ideale verschwendet werden. Und man sehe auf das, was sie in Rußland zu bekämpfen vorfinden! Ein so bis ins Mark verfaultes Beamtentum, daß der Naive, der eine Betrügerei auf dem Instanzenwege zur Anzeige bringt, allemal schneller in das Gefängnis hineingelangt, als der Veruntreuer von Staatsgut. Eine Duma, einen Reichsrat, die neuerdings ihre Untersuckungskom- missionen geschloffen haben, weil „es doch zu weit greift", weil „doch nichts dabei herauskommt und bloß Rußlands Schande vor In- und Ausland aufgedeckt wird". Eine Duma, deren „Rechte", die sich die „echt russische" Partei nennt, gegen die Ehrung des toten Dichters stimmt! Eine Kirche, die ihren Fluch an dem frischen Grabe erneut! Wahrlich: das „heilige Rußland" macht es dem „verfaulten Westen" schwer, ihm keine gewaltsame Umwälzung zu wünschen! Tolstoi, der das Wort: „Du sollst nicht töten!" auch an die zum Kriege aus ziehenden Soldaten gerichtet hat, war gewiß im strengen Sinne auch ein Revolutionär. Aber doch kein Verächter seines Vaterlandes, er. der mit allen Fasern seines Herzen« am russischen Volkstum hing! Er hatte mit der orthodoren Kirche gebrochen und plante noch auf seiner Todcsreise, zu der von ihr ab getrennten altgläubigen Sekte der Duchobor,en zu gehen. Aber er war ein so entschiedener Thrist. daß selbst seine Verirrungen, wie der Grundgedanke der Kreutzer-Sonate, aus buchstäblicher Erfassung eines Ausspruches Christi hervorgingen. Und trotzdem ver ¬ flucht! Was ist das für eine religiöse Gemeinschaft, zu der der obrigkeitliche Stempel die Zugehörigkeit schafft! Nochmals die angebliche preusiisch- säch fische Liscndafingcmeinschaft. Die offiziöse „Leipziger Ztg " schreibt: „In der Tagespreise ist in den letzten Tagen die Meldung aufgetaucht, daß sich Sachsen der preußisch hessischen Eise nbahnge meinschaft anzuschl,eßen gedenke und daß hierüber Verhandlungen in Berlin gepflogen worden seien. Diese Nacbricht beruht, wie wir von zuverlässiger Seite erfahren, vollständig auf freier Erfindung und entbehrt jedes Unter grundes. Die sächsische Negierung hat nicht im entferntesten die Absicht, die Selbständigkeit der sächsischen Staatsdahnverwaltung auszugeben. Auch von Berlin aus ist jene Meldung zuständlgerseits als unbegründet bezeichnet worden. Gleichwohl kommt ein Leipziger Blatt auf die Angelegenheit unter Wieder gabe einer angeblich aus dem Wölfischen Bureau jllliumenden Korrespondenz zurück, worrn ausoeführt wird, daß die Eisenbahngemeinschaft zwischen Sachsen und Preußen doch in absehbarer Zeit rommen werde. An sich braucht hierzu kein Wort mehr verloren zu werden. Wenn jedoch der Verfasser der Korrespon denz weiter die Behauptung aufstellt, daß Preußen unter Umständen durch Umlentung des Verkehrs, durch Erschwerung der Anschlüsse usw. einen gewissen Zwang auf die sächsische Verwaltung ausüben würde, so muß eine solche Unterstellung mit aller Ent schiedenheit zurückgewiesen werden." Verschiebung der Reichstagswahlen? Ein Münchner Blatt hatte angeordnet, daß die Negierung möglicherweise die Neuwahlen zum Reichstage bis zum Anfang des Jahres 1912 hinaus schieben werde. Wie wir aus unterrichteten Kreisen erfahren, ist tatsächlich dies Bestreben im Gange. Der Plan geht dahin, im Oktober nächsten Jahres den Reichstag zu einer Session einzuberusen, dessen Hauptaufgabe die Erledigung des Etats für 1912/13 wäre. Man hofft, daß er dies Werk bis zum Januar 1912 hin vollführen kann; alsdann sollen die Neuwahlen ausgeschrieben werden. Bisher hatte man in Regierungskreisen andere Absichten; man gc dachte, den Reichstag im Sommer nächsten Jahres aufzulösen und etwa im November die Neuwahlen vorzunehmen. Der neue Plan liegt in Richtung jener Wartepolitik, als deren Anhänger im allgemeinen der Reichskanzler selbst betrachtet wird. Man hofft, daß die Zeit Sie Gegensätze innerhalb der bürgerlichen Parteien mildern wird, man hofft auf Ereignisse, die eine neue Situation herbciführen. Auch soll man den Januartermin für günstig halten. In den Krei sen der liberalen Parlamentarier denkt man ganz anders. Einmal hält man es für ausgeschlossen, daß der Reichstag bis zum Januar den Etat erledigen kann. Weiter glaubt man, daß die Januarwitterung, die um diese Zeit herrschende Arbeitslosigkeit und andere in den Arbeitsverhältniffen begründete Um stände eher zugunsten der Sozialdemokratie als zu gunsten der bürgerlichen Parteien wirken werden. Die Januarwahlen von 1907 waren eine Ausnahme. Sie standen im Zeichen einer hochgehenden nationalen Bewegung. Dazu sind aber bisher keine Ansätze be merkbar geworden. Der neue Plan wird daher in liberalen Kreisen sehr abfällig beurteilt. Der krmservalivr Ritt nach Westen. Nach Duisburg—Herford, nach der Rheinprovinz— Westfalen. Den Konservativen ist es also bitter ernst mit ihrem Ritt nach Westen. Die westfälischen Konservativen gingen sogar so weit, als Redner auf ihrem Parteitag Herrn vonHeydebrand zu be rufen. der denn auch die Erwartungen aller derer erfüllt hat, die in der Allianz Schwarz-Blau und in einer blaffen Sammlungspolitik das Heil der Zukunft sehen. Herr von Heydebrand führte aus, daß bei der verschiedenartigen Anschauungsweise der katholischen und evangelischen Christen konfessionelle Gegensätze nicht zu vermeiden seien, man braucht sich jedoch deshalb nicht in wirtschaftlichen und nationalen Fragen feindlich gegenüberzustehen. So könnten Konservative und Zentrum bei der Erfüllung sozialer und nationaler Aufgaben zusammen-- stehen, ohne daß auch nur das geringste Gut der evangelischen Sache deshalb preisgegeben zu werden brauche. Eine Abhängigkeit der Konservativen vom Bund der Landwirte, die man in letzter Zeit gern als Vorwurf gegen die Konservativen ausgespielt habe, bestehe nicht, ebenso sei es unwahr, daß dieser Bund auf Kosten anderer Stände Sondervorteile erstrebe. Allerdings sei es ein großes Verdienst des Bundes der Landwirte, daß er energisch und erfolgreich für die deutsche Land wirtschaft eingetreten sei. Der Redner betonte dann in seinen weiteren Ausführungen, daß die konservative Partei auch für die Industrie und das Handwerk ein treten wolle. Das Handwerk solle alle seine Wünsche genau formulieren und die Hilfe bezeichnen, die es braucht. Ucber das Verhältnis der Partei zu den Christlich-Sozialen äußerte sich von Heyde- brand dahin, daß die Konservativen gern mit dieser Partei Zusammengehen, allerdings dürsten die Inter essen der Arbeitnehmer nicht ausschließlich voran- gestellt werden. Weiter berührte der Redner die Reichsfinanzreform. Der Etat werde zeigen, daß durch sie die Anleihewirtschast zum großen Teil nun- mehr beseitigt sei. Er schloß damit, daß für die kommenden politischen Wahlen eine Stimmung gemacht werden müßte, die dem Vaterland zum Nutzen gereicht. Der Vortrag fand reichen Beifall. Es wurde schließlich eine Resolution angenommen, die sich für Sammlung der nationalen Partei aussprach zum Kamvf gegen die Sozialdemokratie — Die auffälligen Freund lichkeiten, die Herr von Heydebrand dem Zentrum sagte, beweisen erneut, daß die Rechte vom Zentrum nicht lassen will. Für den Libera lismus ergibt sich daraus das Festhalten an der alten Kampsparole: Kampf nicht nur gegen links, sondern auch gegen rechts!
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