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FACMHEFT MESSE-KUNSTSEIDE Die Zellstoff» und Kunstseidenindustrie. Geschichtliches, Technisches und Wirtschaftliches. Vortrag- gehalten an der Universität Freiburg auf Einladung der volkswirtschaftlichen Abteilung der Universität am 12. Nov. 1928 von Dr. 0. Faust. D er Wunsch, Textilfäden bzw. Textilfasern künstlich herzu stellen, hat die Menschen schon seit langer Zeit bewegt. Schon im Jahre 1635 hat der Engländer RobertHooke der Royal Society of London über Gewebe aus künstlich gefärbten Stoffen, aus Horn oder Hausenblase, durchsichtig und leimartig, in Wasser erweichend, berichtet. Er erwähnt, daß er oft daran ge dacht habe, leimartige Massen künstlich herzustellen, die sich in ähnlicher Weise wie die Spinnmasse der Seidenraupe verhalten. Leider hat uns jedoch H o o k e, wahrscheinlich um das Geschäfts geheimnis zu hüten, keine näheren Angaben gemacht, sodaß wir keinerlei Urteil darüber fällen können, ob das Verfahren technisch brauchbar war. Bei der geringen Entwicklung aber, die die Tech nik zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufwies, muß es uns fraglich erscheinen, ob Hooke wirklich jemals zu brauchbaren Fäden ge langt wäre, selbst wenn seine Spinnmassen gute Eigenschaften ge habt haben sollten. Aber auch das muß nach unseren heutigen umfassenden Kenntnissen über die Herstellung von Spinnmassen bezweifelt werden, denn die Versuche, aus natürlich vorkommen den Stoffen durch geringe technische, insbesondere chemische Hilfsmittel eine brauchbare Spinnmasse herzustellen, sind, wie uns wohl bekannt, ebenso zahlreich wie erfolglos geblieben. So ist denn das Verfahren von Hooke wie so manches andere der Ver gessenheit anheimgefallen und erst vor wenigen Jahren sind die Berichte hierüber wieder ausgegraben worden. Sie haben nur mehr historischen und keinerlei technischen oder wirtschaftlichen Wert. Ebenso oder ähnlich ist es mit den Vorschlägen gegangen, die mehr als 100 Jahre später der französische Physiker Reaumur, erneut und anscheinend ohne Kenntnis der Hookeschen Versuche machte. Ihm schwebte der Gedanke vor, den edlen, glatten von der Seidenraupe hergestellten Faden künstlich unter Verwendung von Gummilösungen und dergleichen nachzuahmen. Wenngleich auch dieser Gedanke nicht mehr wie der von Robert Hooke der Vergessenheit anheimfiel, so benötigte es doch bei dem damaligen langsamen Vorwärtsschreiten von Naturwissenschaft und insbe sondere von Technik weiterer 120 Jahre, bis ein wirklicher künst licher Faden aus künstlich hergestellten Lösungen die Ziele und Pläne genialer Denker verwirklichte und der Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Technik wurde, die besonders in den letzten 10 Jahren einen ungeheuren Siegeslauf angetreten hat. Ich nenne hier nur die Namen Schweizer, Andern ar s und Graf Chardonnet, die Engländer Cross, Bevan, Stearn sowie die Namen der genialen Leiter der Glühlampenfädenfabrik in Ober bruch bei Aachen, der Wiege der Vereinigten Glanzstoffabriken, F r e m e r y und U r b a n, die auf dem Gebiete der Kunstseiden herstellung bahnbrechende Neuerungen hervorgebracht haben. Ich möchte nun kurz einiges, was wir heute über die natür lich vorkommende Textilfaser wissen, mitteilen; die Haupttextil fasern, die uns die Natur bietet, sind die Wolle, die Baumwolle, sowie Flachs, Hanf und Nessel und die natürliche Seide. Alle diese Fasern haben, wie die Forschungen der letzten 10 Jahre ergaben, einen ganz bestimmten, geordneten Aufbau, in welchem die klein sten Bausteine zur Faser gefügt sind und die man aus diesem Grunde als Faserstruktur bezeichnet. Diese Struktur ist von einer außerordentlichen Gleichmäßigkeit, die in dieser Beziehung voll und ganz der Regelmäßigkeit gleichkommt, die Ihnen an vielen Kristallen gewiß schon im täglichen Leben vorgekommen ist. Ich erwähne z. B. schön ausgebildete Kristalle von Kandis zucker oder Eis und Kochsalz. Jedoch eines unterscheidet die Faserstruktur von den gewählten Vergleichen, nämlich der Um stand, daß in der Faser in unendlich hoher Anzahl die einzelnen Bausteine, wie wir es nennen wollen, die Elernentar- Bau - steine, kettenförmig aneinander gereiht sind und zwar unter Aufwand nicht unerheblicher Kräfte. Diese Einzelketten sind in großer Anzahl nebeneinander gelagert; von einer Kette zu den daneben liegenden greifen verschmelzende Kräfte hinüber, sodaß durch diesen sinnreichen Aufbau die Elementarfasem oder Fibril len eine ganz erhebliche Reißfestigkeit besitzen. Über die rein chemische Natur dieser Baustoffe wissen wir noch verhältnismäßig wenig. Am weitesten sind unsere Kenntnisse wohl bei der Baum wolle und den chemisch mit dieser Faser ähnlichen Hanf- und Flachsfasern, sowie last not least bei der aus Holz gewonnenen Zellstoffaser gediehen. Alle diese Fasern bestehen aus dem glei chen chemischen Grundstoff, nämlich aus der Zellulose, die auch in allen diesen Fasern in ganz gleicher Weise kettenartig zusam mengefügt, den Faserkristall aufbaut. Die Zellulose ist nun dasjenige Naturprodukt, das zuerst, den vielseitigen Angriffen der Forscher nachgebend, sich so umwandeln ließ, daß man eine fadenziehende Flüssigkeit aus ihr herstellen konnte, die nach dem Ausziehen wieder zum Erstarren gebracht, ehren künstlichen Faden von gewisser Festigkeit herzustellen erlaubte. Die Zellulose ist der Grundstoff, den heute die zahl reichen Kunstseidenfabriken durch ihre Arbeit veredeln, und es scheint daher angebracht, auf diesen Stoff etwas näher einzugehen. Auf die Frage: Was ist Zellulose? ist zu antworten: Baumwolle z. B. ist reine Zellulose. Aber die Baumwolle ist ein Produkt aus heißeren Ländern, sie muß in die gemäßigte Zone importiert werden, sie ist teuer und zudem nicht nur wegen ihrer Abhängigkeit von der Ernte, sondern auch aus spekulativen Grün den sehr schwankend im Preis. Aber die Natur bietet uns die Zellulose, wenn auch nicht in so reiner Form wie die Baum wolle, in Hülle und Fülle. Das Gerüst aller Pflanzen ist aus Zellulose aufgebaut. Die Bätter oder Strohhalme oder Holz be stehen zu 40% und mehr aus Zellulose. Es ist die Aufgabe der Zellstoffabriken, aus diesen von der Natur reichlichst gelieferten Rohstoffen die Zellulose in möglichst reiner Form zu gewinnen. Durch die Arbeiten des bekannten, lange Zeit auch in Freiberg lehrenden Forschers Mitscherlich wurde ein Verfahren gefun den, auf billigstem Wege die Zellulose des Holzes zu gewin nen. Das Fichtenholz, das sich bis heute als besonders geeignet zur Herstellung eines möglichst reinen Zellstoffes erwiesen hat, wird nach sorgfältiger Entrindung und Entfernung der Astteile in besonderem Maschinen zerkleinert und in großen druckfesten Kochgefäßen bei Temperaturen über 100° mit einer Kalzium bisulfitlauge gekocht. Noch heute steht in der Zellstoffabrik Zell im Wiesental der erste Kocher, in welchem Mitscher lich in technischem Maßstabe seinen Sulfitzellstoff, den sog. M i t- scherlichzellstoff erzeugte. Er faßte 4 t, den Rauminhalt etwa eines kleinen Zimmerchens, während heute die großen Zell- stoffabriken Kocher von dem nahezu lOfachen Inhalt verwenden. Schon von weitem erkennt man solche Fabriken an den gewaltig hohen Bauten, die diese Kocher bergen, ebenso wie an den unge heueren Holz Vorräten, die jeweils bei einer solchen Fabrik auf gestapelt sind. Die Kochlauge wird hergestellt, indem man natürlichen Kalkstein bei Gegenwart von Wasser mit schwefliger Säure behandelt, jenem bekannten, stechend riechenden Gase, das beispielsweise beim Verbrennen von Schwefel entsteht. Mit dieser