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Textil-Technischer Teil Aus dem Inhalt: Deutsche Seide. — Über fehlerhafte Glanzstreifen, Glanzfäden und Glanzstellen in Geweben mit Kunstseiden schuß, deren Erklärung und Vermeidung. Von P. Krais, G. Krauter und H. Vollprecht. — Reißlänge und Reißkraft für mittlere Leinengarne. Von Curt Martini. — Einrichtung zur Erzielung von großen Verzügen an Spinn- und Vorbereitungsmaschinen. Von B. G. — Der Quadrant und sein Einfluß auf die Bildung des Garnkörpers. Von Ing. Fridolin Engelmann und An ton Baumann. — Streifzüge durch die Baumwollgarnschlichterei. Von Richard Hünlich. — Gemusterte Ripse und deren Herstellung ohne Wechselkasten. Von Eugen Gienger. — Die Aufdeckmustervorrichtungen an Spitzennadel-Wirkstühlen und das Patronieren der Aufdeckmuster. Von Robert Fabian. (Schluß.) — Erfindungen auf dem Gebiete der Textil-Technik. — Patentschau. — Bücher schau. — Der Textil-Technische Ratgeber. Deutsche Seide. Wenngleich der Seidenbau in Deutschland nicht so weit entwickelt ist, daß er als Rohstoffversorgung für die Textil industrie eine nennenswerte Rolle spielt, verdient die von ihm ge lieferte Seide qualitativ die höchste Beachtung. Es erscheint daher angebracht, die Grundlagen der Seidengewinnung zu er örtern, wie sie von dem Begründer des deutschen Seidenbaues, Ing. II. Nicolai, Leipzig, geschaffen wurden und sich als erfolg reich erwiesen. Nicolai hebt in seinem „Leitfaden für den deut schen Seidenbau“ (Verlag Fritz Pfennigstorff, Berlin W 57) hervor, daß das Gedeihen des Seidenbaues in Deutschland von der Nachzucht abhängt. Er unter scheidet darum zwischen Seiden bau und Seidenraupenzucht. Der Seidenbauer hat lediglich die Sei denraupenfütterung zu besorgen und soll um die Gewinnung guter, seidenreicher Kokons bemüht sein. Diesist eine mehr manuelle Arbeit, die weniger Fleiß und Ge schicklichkeit, als vielmehr Sorg falt und Aufmerksamkeit er fordert. Die Nachzucht, d. i. die Gewinnung gesunder „Samen“, wie man die Eier der Seidenspin ner nennt, ist aber bereits eine biologisch - wissenschaftliche Tä tigkeit, die außer langjähriger Er fahrung eingehende Studien und ein gut eingerichtetes Laborato rium erfordert. Alle Versuche der Seidenbauer, Seidenraupen zu züchten, waren von vornherein zur Erfolglosigkeit verurteilt, da einesteils die Inzucht naturnot wendig zur Degeneration führte, anderenteils seuchenartige Krank heiten die Vernichtung der Kokon ernte zur Folge hatten. Darum ist eines der wichtigsten Erforder nisse die sogenannte „Blutlinien führung“, d. s. Tabellen, welche die Abstammung und Fortpflan zung der Seidenspinner enthalten und den Einfluß des Gesund heitszustandes sowie der Kreuzungen ersichtlich machen. Die ältere Generation der Seidenfachleute wird sich noch an die Zeit — am Ausgange des vorigen Jahrhunderts — erinnern, wo die „Königin Baumwolle“ ihren Triumphzug zwei Ursachen verdankte, nämlich einerseits der Veredlung durch die Mercerisa- tion und dem dadurch erzielten Seidenglanz, andererseits dem Niedergang der Seidengewinnung durch die verheerenden Krank heiten der Seidenraupe, allerdings auch der unglückseligen Ge winnsucht gewissenloser Seidenwarenfabrikanten, die durch über mäßige Beschwerung die Seide gerade ihrer köstlichsten Eigen schaften, d. i. der Weichheit, Geschmeidigkeit, Elastizität, ins besondere aber der Dauerhaftigkeit beraubten. Man erinnert sich auch daran, daß in allen Seidenzentren Prüfämter, Seidenkondi tionieranstalten errichtet wurden, welche alle Eigenschaften dieses kostbarsten Textilrohstoffes nachzuprüfen hatten, ehe er der Ver arbeitung zugeführt wurde. Die Schlußfolgerung, daß nur unverfälschte Naturseide im Vollbesitze aller dieser Vorzüge sein kann, leitete Nicolai bei der Organisation des deutschen Seidenbaues; die Richtigkeit dieses Leitgedankens bewies er praktisch dadurch, daß er das Er gebnis der von ihm organisierten Seidengewinnung, also die deut sche Seide, zur Herstellung einer Gewebegattung verwendet, die an das Webmaterial die höchsten Anforderungen stellt, nämlich Müllergaze. Der qualitativen Hochzucht entspricht aber auch die quanti tative, da die aus den Eiern der Nicolaischen Nachzucht gewon nenen Kokons an Größe und Sei denreichtum alle anderen Züch tungen weit übertreffen. Während die japanischen 400 m und italie nischen Kokons durchschnittlich 800 m abhaspelbare Fadenlänge enthalten, erreichen die deutschen Kokons eine Länge bis zu 2500 m. Diese Angaben erscheinen durch aus glaubwürdig, wenn man die Kokons vergleicht. Der Größen unterschied ist auffallend, wie die beigegebene Abbildung zeigt. Be sonders lehrreich ist ein Ver gleich der aufgeschnittenen Ko kons. Diese zeigen zunächst, daß die kleinen japanischen Kokons nur eine einfache Seidenhülle auf weisen, während die deutschen Kokons aus mehreren Lagen be stehen. Betrachtet man aber die Puppen, so sieht man, daß diese in beiden Rassen gleich groß sind. Die Größe der deutschen Kokons geht also tatsächlich auf Rechnung des Seideninhaltes und nicht der Puppe. Daraus folgt, daß nicht nur das absolute Kokongewicht größer ist, sondern das Gewicht der Puppe einen kleineren Anteil am Kokongewicht ausmacht und der Abfall ge ringer bzw. die Ausbeute an abhasphelbarer Seide anteilig größer ist. Man erkennt in der Abbildung auch die beiden Kennformen von Kokons, nämlich die Eiform (ohne Einschnürung) und die Biskuitform (mit Einschnürung). Nicolai widerspricht der all gemeinen Auffassung, daß darin ein Unterschied zwischen weib lichen und männlichen Kokons liege, da eine solche Unterschei dung, so wünschenswert sie für die Nachzucht auch wäre, tat sächlich unmöglich ist.