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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 16.06.1910
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1910-06-16
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19100616019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1910061601
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1910061601
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-06
- Tag 1910-06-16
-
Monat
1910-06
-
Jahr
1910
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, BezuqS-Prei» lUi Leipzig an» Äororre durch »»irre ikrtgrr an» Sprdileur, !imal iLqlich in« Hau« gedrachi - vv monali., 2.70 viettrliLdri vri unlrrn Filialen u. Lu- aahmriirllen avurkolk- 72 H monall., 1.LS oierrriiährl. Lurch die «oft: «nnerbaid Teulill>lai>v« und der drutichrn » «Ionien vieneliLkri lt.IS nionail. l^iv autichl Poftdeslellacld. Denier in Belgien, Dänemark, den Donauswalen, Italien. Lurenivurg. Niederlande, lltor- wegen, Oelleririch . Ungarn, Rußland, Schweden. Schwer» a. Spanien In allen übriger »«aalen au» direki durch die Geicht'lSiielle n»e Blutte» erhältlich. Ta« ur'vzige> iaqedlav -rlchei«' -mal täglich. Sonn- a gei-riag« nur morgen«, ülvonne -ni-Annuuu., Auguitutplay d», bei unleren ärllgern Filialen Spediieuren und Annahmestellen >ow>r Poslämtera und ivrieirrägern it»nzel»rlraat«»«ei» »er Morqen- «usgab« 10 der eldenduusgad« li «edakkion und weichakk-ttellei Iol>anni«gasie 8. gerulprechert I4VV2. 14605, 14804. Morgen-Ausgabe. MpMerTagMM Handelszeitung. Amtsblatt des Aales «nd des Nolizeiamtcs der Ltadt Leipzig. Anzeiqen-Preis iiir Inserate au« Leipzig und Umgevung die ügelvaltene 50 mm breite Petitzeile 25 die 74 mm drrile Reklamezeile I von Lurwärr» 00 üz, RcNameu l.Ä) ^z-; Inserate von Behörden 'm amtlichen Teil die 74 mm breite Petitzeile 4" H. Sleschätt-nnzeinen mit P atzvorichristen un» in der AbendauSaade im Preise erhöht. Rabatt nach Laris. Bcilagegebühr ü p. Tausend exkl. Postgebühr. Ieskerteilte Aufträge kSnnen nicht zurück gezogen werden. Für da« lbrscheinen an bestimmten Tagen und Plätzen wird keine Garantie übernommen. Anzeigen-«nnihincr Augusiusplatz di, bei sämlllchen Filialen u. allen «nnoncen- lLzpebitionen des In- und Auslandes. Haupt-Filiale Berlin! ttark Dnncker, Herzogi. B>hr. Hosbuch- handlung, Lützowstiasie 10. lTelephon VI, Rr. 4O.G). Haupt Filiale Lretzdrn: keeslratze 4, l (Telephon El). l04. Ishrgsng. Nr. 164 Dlmnerstsg, üen 16. 3un1 1910. Oss Markigste. * In Leipzig fand am Mittwochabend eine imposante Kundgebung des Evangelischen Bundes gegen die Vorromäus-Enzyklika statt. * Die Ratifikationsurkunden zu dem am 17. März 1910 in Kairo unterzeichneten Zusatz abkommen zu dem Handelsabkommen zwischen dem Deutschen Reiche und Aegypten vom 19. Juli 1892 sind ausgewcchselt worden. * Die Stichwahl in Friedberg-Bü- d i ng en findet am 24. I u n i statt. fS- d. bes. Art.) * Als der Landeschef von Bosnien, General Varesanin von Bares, van der Eröffnung des bosnischen Landtages zurückkehrte, wurde von einem Sozialdemokraten einNevolverattentat auf ihn verübt. s§. Ausl.s * Die Pforte nahm den Vorschlag einer neuen Kretakonferenz im Prinzip an. (S. Ausl.) * Auch aus Bayern und der Schweiz kommen , bedrohliche Hochwasscrmeldungen. sS. Tagrschr.) Der neue 6err im Keichs- kolomslsmt. Aus kolonialpolitischen Kreisen wird uns geschrieben: Der neue Staatssekretär des Reichskolonial amts, Herr o. Lindequist, wird es in seiner neuen Stellung nicht leicht haben. Es kann ihm bis zu einem gewissen Grade ergehen, wie den Nachfolgern Bismarcks, nämlich, daß all sein Tun und Lassen an dem seines großen Vor gängers gemessen wird. Zumal von denjenigen politischen Gruppen, die auf dem besten Wege sind, Dernburg zu ihrem Schutzheiligen zu machen. Ohne die Früchte Dernburgscher Energie und Tüchtigkeit, die klar vor aller Augen liegen, verkleinern zu wollen, müssen wir doch darauf Hinweisen, daß die Erfolge Dern- burgs zu einem Teil Konjunkturerfolge waren, wie sie seinem Nachfolger nicht mehr in den Schoß fallen können. Die Grundlagen des kolonialen Eisenbahnnetzes sind geschaffen, die Diamanten sind entdeckt, auch die Verwaltungs organisation der Kolonien zeigt die Anfänge einer gesunden Entwickelung. Politisch haben die Kolonien die ihnen zukommende Stellung in der Aera Dernburg errungen und wirtschaft lich sind sie ebenfalls in Schwung gebracht. Kurz und gut, Gelegenheit zu augenfälligen und sensationellen Großtaten ist für den neuen Staatssekretär verhältnismäßig wenig mehr vorhanden. Trotzalledem fehlt unsrer Kolonialpolitik noch etwas, was wir beinahe die Seele nennen möchten: der ernste Wille, die Kolonien, soweit dies eben möglich ist, dem deutschen Volkstum zu erobern. Dafür fehlte Dernburg der Sinn. Für ihn waren die Kolonien zunächst ein Geschäft, das der deutschen Nationalwirt schaft möglichst schnell Gewinn bringen sollte. Diese Auffassung hat viel für sich gehabt, als es galt, den Kolonien mit Hilfe des Groß kapitals die Grundlagen für ihre Erschließung zu schaffen. Nachdem dies erreicht war, mußte aber neben der rein kommerziellen Auffassung über unsre kolonialen Auf gaben auch die völkische Geltung gewinnen. Dernburg hat sich gegen diese Erkenntnis ge sträubt, und wenn trotzdem allmählich der Sied lungsgedanke sich siegreich Bahn zu brechen be gann, so hat hierzu der neue Staatssekretär mit beigetragen, der durch das Gewicht seiner persönlichen Erfahrung ihm im Schoße der Ko lonialverwaltung Geltung zu verschaffen wußte. Herr v. Lindequist kennt unsre Siedlungs kolonien nicht nur von Studienreisen, er kann vielmehr auf eine langjährige praktische und er folgreiche Tätigkeit inSüdwestafrika zurückblicken. Acht Jahre lang im ganzen hat er zum Segen der Kolonie in leitender Stellung gewirkt und sich das Vertrauen und die Liebe unsrer Süd westafrikaner erworben. So sehr man damals in der Kolonie bedauerte, daß seine Tätigkeit durch seine Ernennung zum Generalkonsul in Kapstadt unterbrochen wurde, so sehr kam dies der Sache zugute. Gerade seine dort gesammelten Erfahrungen dürften für die Kolonialverwal tung noch von großer Wichtigkeit werden und sind es teilweise schon gewesen. Seit wir in Südafrika ein selbständiges Staatengebilde als Nachbarn haben, müssen und können wir in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht mit ganz anderen Faktoren rechnen, als dies bisher der Fall war. Und da ist die persönliche Fühlung unseres Kolonialsekretärs mit den maßgebenden Personen und Verhältnissen in verschiedener Hinsicht von großem Wert. Wichtiger ist zunächst noch die wirtschaftliche und politische Festigung der Einzelkolonien. Und da steht Herr v. Lindequist auf einem anderen Standpunkt als Herr Dernburg. Er will sich in erster Linie der möglichst weitgehenden Mitarbeit unserer Landsleute versichern, während Dernburg alle Fäden selbst in der Hand zu behalten suchte und aus diesem Grunde auch der Besiedlung der Kolonien mit Weißen, die schließlich mitreden wollen, ab geneigt war. Herr v. Lindequist ist der Ansicht, daß nur eine möglichst intensive Besiedlung geeigneter Gebiete in den Kolonien diese auch politisch sicherstellen wird, und er hat dies in dem Be richt über die Studienreise, die er vor einem Jahr nach Ostafrika zur Feststellung der Be siedlungsfähigkeit unternommen hatte, mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. Das Bewußtsein ihrer numerischen Uebermacht wird bei den Schwarzen mit ihrer zunehmenden kulturellen Hebung immer mehr steigen, und wir müssen daher Sorge tragen, daß eine kräftige weiße Bevölkerung unsere Kulturgüter draußen schützt. Zugleich gilt es, in steigendem Maße die Ein geborenen zur Mitarbeit an unseren wirtschaft lichen Bestrebungen heranzuziehen. Diese Anschauung fast aller Kolonialfreunde wird von dem neuen Staatssekretär geteilt. Wie lebhaft ihm die Besiedlung der Kolonien am Herzen liegt, beweisen u. a. die Kleinsied lungen, die er in Südwestafrika ins Leben ge rufen hat. Diese Siedlungsmethode ist viel an gegriffen worden. Mit Unrecht, denn die Klein siedler kommen mit wenigen Ausnahmen gut vorwärts. Sie können freilich — darüber ist sich auch Herr o. Lindequist klar — nur in der Nähe größerer Plätze existieren, wo sie Absatz für ihre Produkte des Gartenbaues haben. Aber die Zahl dieser Zentren wird wachsen — man denke nur an die Versorgung der Dia mantenfelder—, die Farmwirtschaft wird immer intensiver werden, d. h. die Großfarmer werden sich später wohl mehr oder minder ausschließ lich auf Viehzucht beschränken und mit manchen Bedürfnissen auf die Kleinsiedler an gewiesen sein. Und schließlich wird der Vater der südwestafrikanischen Kleinsiedlungen, der neue Staatssekretär, durch die eine oder andere sozialpolitische Maßregel dafür sorgen, daß die Kleinsiedler über die schwierigen Uebergangszeiten Hinwegkommen. . Die südwestafrikanische Selbstverwaltung gibt ja der heimischen Verwaltung die Möglichkeit größerer Fürsorge zugunsten der Bevölkerung, um so mehr, als durch die Einnahmen aus der Diamantengewinnung der Fiskus von Südwest mehr als bisher die Mittel zu Ausgaben werbender Art besitzt. Die Marschroute, die der neue Mann bei der Erschließung der Kolonien einschlagen wird, liegt ziemlich klar zutage. Die vor liegenden Eisenbahnpläne werden wohl in der Hauptsache nach Dernburgschen Grund sätzen durchgeführt werden, nur mit dem Unter schied, daß jetzt in Anlehnung an die Eisen bahnen die Besiedelung energisch gefördert werden und großkapitalistische Gründungen, wie sie im Augenblick z. B. im Anschluß an die Kilimandjaro-Bahn in Ostafrika im Werden zu sein scheinen, etwas kritischer daraufhin be trachtet werden dürften, ob sie mit den all gemeinen Interessen im Einklang stehen. Namentlich das starke Interesse, das jetzt das englische Großkapital an einzelnen Teilen unserer Kolonien nimmt, dürfte den Staats sekretär wohl veranlassen, mit der Abgabe von Land an kapitalistische Gesellschaften vorsichtig zu Werke zu gehen und lieber kleineren Kapi talisten die Ansiedlung zu erleichtern. Zunächst wird Herr v. Lindequist reichlich damit zu tun haben, einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der heimischen Ver waltung und denen unserer kolonialen Landsleute zu schaffen und wieder ein angenehmeres Ver hältnis anzubahnen. Wenn er seinem Wirken den Grundsatz ooranstellt, daß die heimische Kolonialverwaltung nicht Selbstzweck, sondern dazu da ist, die Wohlfahrt der Kolonien zu heben und sie so zu nutzbringenden Gliedern der deutschen Nationalwirtschaft zu machen, so wird es ihm an Erfolg kaum fehlen. Vielleicht wird die materielle Bilanz seiner Arbeit zu nächst äußerlich nicht so glänzend aussehen und vielleicht wird es länger dauern, bis die Finanz wirtschaft der einzelnen Kolonien vom bureau- kratischen Standpunkt voll befriedigt. Dafür wird sich der wirtschaftliche Wohlstand der deutschen Bevölkerung draußen festigen und so auch das materielle und moralische Verhältnis zwischen Mutterland und Kolonien auf gesunder Grundlage sich entwickeln. Der Ruf, der dem neuen Herrn im Kolonial amt vorausgeht, läßt die Hoffnung zu, daß auch er unsere Kolonien wieder eine ansehn liche Strecke vorwärtsbringen wird. Frieüberg-Büüingen. Die Konservativen und ihre Freunde haben An laß zu einem bedingten Frohlocken: in Friedberg- Büdingen ist für die Stichwahl der nationalliberale Kandioat ausgeschieden und der agrarische Kandidat hat mit dem sozialdemokratischen im zweiten Wahl gang um das Mandat zu ringen. Der Wahlkreis war seit dem Jahre 1890 von dem Grafen Oriola vertreten. In eingeweihten Kreisen unterlag es keinem Zweifel, daß der verstorbene seitherige Man datsinhaber weniger als Nationalliberaler, als vielmehr als Vertreter des Bundes der Landwirte in den Reichstag gewählt morden war. Es ist ja auch bekannt, daß gerade die einseitige agrarische Neigung des Grafen Oriola im verflossenen Jahre seine Trennung von der nationalliberalen Fraktion verursacht hat. Wenn man den Wahlausfall in rechter Weise würdigen will, muß man dieses Moment berücksichtigen und außerdem noch bedenken, daß sich die Parteikonstellation bei der letzten Reichs tagswahl von der gegenwärtigen Situation außer ordentlich unterscheidet, und daß sich daher nur sehr bedingte Vergleichsmomente bieten. Im Jahre 1907 waren auf den Grafen Oriola im ersten Wahlgang 8492 Stimmen gefallen, die sich natürlich aus An hängern des Bundes der Landwirte und der natio nalliberalen Partei zusammensetzten. Der sozial demokratische Kandidat hatte damals 7234 Stimmen erhalten, außerdem hatte es ein Antisemit auf 3299 und ein Freisinniger auf 1472 Stimmen gebracht. Im Jahre 1903 hatte auch das Zentrum einen selb ständigen Kandidaten ausgestellt und auf sich 1936 Stimmen vereinigt. Diesmal war ein gemeinsamer Kandidat der beiden liberalen Parteien in dem Straßburger Universitätsprofessor van Talker ge wonnen worden, der Bund der Landwirte hatte sich mit den Antisemiten und mit dem Zentrum liiert. Dank seiner ausgezeichneten Organisation — er soll in dem Wahlkreis Friedberg-Büdingen über 3300 eingeschriebene Mitglieder besitzen — konnte er mit einiger Sicherheit auf einen guten Erfolg rechnen. Liberale Orooniirtion m-»r in oi"iem Wahlkreis bis her leider nicht in annähernd gleichwertigem Maße vorhanden, und auch dieser Umstand blieb nicht ohne Wirkung auf den Wahlausfall. Wenn trotzdem der nationalliberale Kandidat van Talker 4379, der Ver treter des Bundes der Landwirte aber 6310 Stimmen erhalten hat, so kann man wohl sagen, daß der Libe ralismus, so schmerzlich die ihm zugefügte Schlappe auch ist, immerhin nicht mit Schimpf und Schande unterlegen ist. Ja, wir hoffen sogar, daß nach einem genügenden Ausbau der Organisation in diesem Wahlkreis, der hoffentlich sofort vorgenommen wird, bei den nächsten allgemeinen Reichstagswahlen der liberale Kandidat den biindlerischen im ersten Wahl gange überflügelt. Vielleicht lasten auch manche hessische Nationallibcrale, die zum Teil sehr stark nach rechts tendieren, eine gründliche Revision ihrer Anschauungen eintreten. Bedauerlich, aber nach den Erfahrungen der letzten Wahlen und infolge der Vorgänge der letzten Zeiten nicht weiter verwunder lich, ist das starte Anschwellen der sozialdemokra tischen Stimmen. Der Kandidat, der Sozialdemo kratie hat diesmal 9419 Stimmen erhalten, während er es 1907 nur auf 7234 Stimmen brachte, er hat also rund 2200 S'imn'"n gewonnen. Rechnet man sämt liche bürgerliche Stimmen der Jahre 1907 und 1909 zusammen, so erhält man die Ziffern 13 263 und 10 689, als eine Minderung non rund 2600 Stimmen. Dieser Ausfall auf der nationalen Seite ist den Sozialdemokraten fast völlig zugute gekommen. Auch hierin kann man wieder ein warnendes Menetekel für die Regierung erblicken, deren herzlich wenig volkstümliche Politik in den weitesten Schichten der Bevölkerung steigende Erbitterung erzeugt hat. Für den 24. Juni ist die Stichwabl im Wablkreise Fried- berg-Büdingen angesetzt. Ihr Ausgang erscheint ebenso ungewiß, wie das Ergebnis der Stichwahl Usedom-Wollin, die am 17. Juni stattfindet. pariser Srlek. sVon unserm Pariser ^-Korrespondenten.) Paris. 13. Juni. Die Tombisten haben die Streitart ausgegraben, und mit ih ren befinden sich alle linksextremen Rot häute auf dem Kricaspfadc. Sie fordern Briands Skalp — oder mindestens sein Portefeuille Die am Donnerstag verles'ne Programmrede gefällt ihnen nicht. Ganz hat die Rede keiner Partei gefallen, weil sie allen gefallen wallte Die darin «»gekündigten Reformen kennzeichnen sich nur als schüchterne An läufe, die auf halbem Wege stehen bleiben, als Ver heißungen, zu deren Verwirklichung der Tatenmut mangelt, als Neuerungen, die alles beim alten be lassen würden, wenigstens alles veraltete und ver rottete. Der Conseilprasident möchte endlich mit dem jakobinisch napoleonischen Prinzip der Zentralisation brechen, den verschiedenen Landschaften und Stämmen das Recht auf Bewahrung und Entwickelung ihrer Eigenart zurückgeben und zu diesem Zweck größere Verwaltungsbezirke schaffen. Er brauchte also nur die alten Provinzen wiederherzustellen, wie sie un.er der Monarchie bcstai den. Indes, solche radikale Um kehr ist dem regierenden Exanarchisten unmöglich. Das wäre ja ein Frevel gegen die Ueberlieferungen der ersten Revolution! Also schlägt er etwas andres vor: die Zusammenlegung mehrerer Departements zu einem erweiterten Vermaltunasgebiet unter vor läufiger Beibehaltung der vorhandenen Einrich tungen. mit denen „so viele lokale Interessen" ver- tnüpft sind und die deshalb nur langsam und stückweise beseitigt werden sollen, nachdem sie entbehrlich ge worden sein würden. Augenscheinlich würde das keine Verbesserung, nur eine Verteuerung der ohne hin so kostspieligen Administration mit sich bringen, keine Vereinfachung, sondern eine Vermehrung des bureaukratischen Räderwerkes. Der Kollektivist Jauris traf wohl den Nagel aus den Kops, als er zu der betreffenden Stelle der Ministerredc die Rand glaste machte: „wir sotten die Präfekten mitsamt den Unterpräfekten behalten, daneben aber noch ein Duyend Obcrpräsekten besolden". Das pflegt aller dings in Frankreich das einzige praktische Resultat jeder sogenannten Reform zu sein: neue Beamte, neue Unkosten, neue Steuern. Freilich stellen sich letztere regelmäßig von Jahr zu Jahr ein, auch wenn von gar keiner Refirm die Rede ist. Es fallen eben zu viele Leute über die „Butterschüstel" her, zu viele gcsinnungstülhtige Republikaner wollen von der Republik ernährt oder durch sie bereichert sein, und so schließt der Säckelministcr dieses demokratischen Musterstaates jede Haushaltsrechnung mit einem Defizit ab. Auch diesem Uebel soll eine „Resorm" abhelsen, eine Steuerreform. Nun hat die Wählerschaft längst mit uiizwcideutiger Bestimmtheit ihren Abscheu vor jener Reform bekundet, mit der sie der verflossene Finanzkünstler Caillaux beglücken wollte. Von der drakonisch-inquisitorischen Einkommensteuer, die be sagler Herr Caillaux in der Kammer mit Hilfe der Kollektivisten und der Sozialistisch-Radikalen durch drückte und die der Senat seitdem in seinen Kartons begraben hat, will die große Mehrheit der Franzosen nichts wissen. Und mit Recht! Denn diese Steuer reform wäre nichts weiter als die gesetzliche Vorbe reitung einer rechtswidrigen Dermögenscnteianung. Briand hat das begriffen. Er ist ebenfalls nicht ent zückt von der revolutionären Pfuscharbeit der ver aangenen Legislatur, aber er wagt nicht, der revolu tionären Linken mit grundsätzlicher Verleugnung dieses fiskalischen Wechselbalges ins Gesicht zu schlagen. In seiner Programmrede machte er sich ak>o wider besseres Wissen und Eckvissen für die Ein kommensteuer anheischig, er pries sogar die betref fende Vorlage als ein „tief durchdachtes Werl" der vorigen Kammer, bemerkte aber auch sofort, daß das selbe noch sehr der Verbesserung bedürfe, und daß die Regierung im Verein mir dem Senat bemüht jein werde, diesen Gesetzentwurf von allen noch darin enthaltenen „belästigenden oder bedrückenden" Be stimmungen zu säubern. Im Senat, wo der Justiz minister Barthou die Programmrede verlas, lachten die alten Herren bei diesem Passus hell auf, weil von der ganzen Lex Caillaux, wenn man dieselbe ihres tyrannischen und inquisitorischen Charakters entklei den wollte, nichts mehr übrig bliebe. Und nun gar die kühnste aller Spiegelfechtereien des Conseilspräsidenten, die Wahlreiorm! Er will bekanntlich die Verhältnisvertretung der Minoritäten einführen, aber so, daß dabei die Majorität über jedes Verhältnis hinaus verstärkt wird. Natürlich tonnten die gemäßigten Republikaner und insbeson dere die dreihundert Parteigänger der wahren und einfachen Verhältnisvertretung sich für die zaghaften und verklausulierter Reformverheißungcn des Pro gramms nicht begeistern. Ihr Beifall zu den be treffenden Stellen der Rede blieb denn auch ein merklich kühler. Dafür äußerte sich das Mißvergnügen der alten Blockgenostcnschaft über gcwiste andre Satze zuerst in eisigem Schweigen, spater, nach der Sitzung, in wilden Verwünschungen. Vriand hat gewagt, den Parlamentarismus selber zu kritisieren, wenigstens die Abart, die sich hier unter dem Einfluß der Radi kalen entwickelt hat und die tatsächlick, alle Ord nungsbegriffe verwirrt, alle Disziplin aufgelöst, alle Autorität dec verantwortlichen Männer untergraben hat. Als höchster Träger aller politischen Verant wortlichkcit Hal der Ministerpräsident es als dring lich bezeichnet, die Beamten aller Kategorien zu einer genauen Kenntnis ihrer Pflichten und ihrer Rechte zurückzufllhren. den Versuchen unbefugter und miß bräuchlicher Einmischung jder Parlamentarier!) in die Dienstqeichäftc der Staatsbehörden energisch ent- aegcnzutretcn und dabei sämtlichen Bürgern ohne Unterschied des religiösen oder politischen Bekennt nisses das Bewußtsein cinzuflößen, daß die Regierung unparteiisch für alle, nicht zur Begünstigung einer zeitweilig vorherrschenden Richtung dasei. Kurzum Briand sprach von Duldsamkeit und Gerechtigkeit gegen alle, aber er sagte kein Wort vom Kultur kampf und versprach den Radikalen keine Fortsetzung der Kirchenverfolgung, der Pnesrerhctze und der ganzen Politik der Entchristlichung, in der sich ibre Staatskunst wie ihr Patriotismus erschöpfen Das ist in den Augen der Combistcn „Fahnenflucht und Parteioerrat", und deshalb werden sie gleich von übermorgen an die Stellung des Ministeriums mit Interpellationen bekennen. Deshalb und sic auf dem Kriegspfad.
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